Wenn sich das Eltern-Kind-Verhältnis ändert, weil das Kind nun wirklich endgültig erwachsen ist (zwischen 20 und 25 ist eine Latenzphase, da sind sie noch verspielt und unsicher, alle Verantwortung tragen und erfolgreich selbst entscheiden, das kommt erst später, also hier und heute in Europa), gibt es ein Balanceverhältnis der Sorge umeinander, bevor die Eltern die Sorge benötigen.
Auf diesem gut ausbalancierten Plateau lebt es sich gut. Das Kind hat heute fertig gearbeitet und ich habe derweil auf dem Handy daddelnd auf ihrem Sofa rumgelümmelt und danach hat sie mich bekocht. Das darf noch lange so bleiben.
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Vigil 04
Ich konnte auch mal böse, sehr böse. Meine These, dass sich Menschen nicht großartig ändern, sondern nur Tendenzen weitergeschrieben werden, hat sich bewahrheitet.
Der, den sie am Set das Riesenbaby nannten, hat noch einen Film gemacht, der durchfiel. Der Rest ist Schweigen, er verwaltet wahrscheinlich jetzt die Gemarkungen der Familie.
Überhaupt, die alte Branche. Es muss fürchterliche Aufregung herrschen unter den Agenten. Es ist kaum noch Geld zu verdienen, außer mit großen Namen. Alle starren auf die deutschen Netflix-Produktionsanfänge, aber auch damit wird erst einmal nicht viel Geld zu verdienen sein, das macht man für Ruhm und gute Worte.
Anekdote am Rande: Vor 6 Jahren fragte ich deutsche Redakteure, was sie von der Konkurrenz aus dem Netz halten und sie zuckten die Schultern. Das sei doch youtube oder? Das wäre doch alberner Kinderkram. Für sie wäre es relevant, mehr Geld für ihre aktuellen Projekte zu bekommen.
Noch eine Anekdote: Für die erste Staffel Game of Thrones wurde auch in Deutschland gecastet. Ich hatte da eine Frau, an deren Können ich zwar etwas zweifelte, die aber hervorragend vom Äußeren in die Serie gepasst hätte: Naturblonde Lockenmähne, hellgrüne Augen, einen wohlgeformten Körper voller Muskeln und ein schönes, markantes Gesicht. Ich schlug sie vor und aus irgendeinem Grund konnte ich in den geschlossenen Bereich der Castingdatenbank sehen, wo die Entscheider schon die Favoriten markiert hatten. Man hatte sich auf eine kleine, zarte englische Tänzerin mit Schauspielausbildung eingeschossen. So isset.
Ich bin raus, ich lese jetzt bei Siri Hustvedt davon, wie zufalls- und klischeegesteuert es ist, als Künstler akzeptiert zu werden.
Vigil 03
Als sich nach dem Fall der Mauer der Staub wieder gelegt hatte und ich weitere Pläne machte, distanzierte ich mich von denen, die jammernd im Osten saßen und nach der Wahnsinn-Euphorie neu anfangen mussten. Ich war anders, ich hatte es durchschaut, ich konnte Kapitalismus. Heute nenne ich es Überanpassung. Ein Lebensmotiv, das sich durch meine Existenz zieht, ich habe das erst spät erkannt.
Heute merke ich, wie fremd ich vielen bin, denen ich mich nahe glaubte. Es ist ein Unterschied, eine westdeutsche oder ostdeutsche Provinzkindheit erlebt zu haben, auch wenn man sich in der Metropole trifft und eine Sprache spricht.
Ich kann Soboczynski hier nicht in allem folgen, weil ich nie zur kleinbürgerlichen Welt der Obrigkeitsuntergeordneten gehört habe. Ich habe an Internationalismus und Solidarität geglaubt. Wenn auch der Internationalismus eher etwas mentales war, das rote Band der Ideologie, das sich durch die Welt und über oft unüberwindliche Ländergrenzen zog. Aber er hat recht, wenn er sagt, dass im Osten keiner mehr einen Pfifferling auf Menschheitsbeglückungsutopien gibt.
Es gab (…) den neuen, den antirassistischen und antifaschistischen Menschen nicht, trotz jahrzehntelanger Propaganda und Erziehung.
Mir sind besorgte Bürger fremd. Veränderungen aufzuhalten hat noch nie etwas gebracht. Für Dummköpfe und Idioten halte ich sie trotzdem nicht. Ich sehe noch andere Dinge, wenn ich Sachsen oder Erzgebirgler auf der Straße sehe. Es scheinen die zu sein, die vor 25 Jahren mit klammen Gefühlen dageblieben waren, die aus ihrer Perspektive der Herrschaft des Geldes nicht strahlend in die Arme gelaufen sind. Die, wenn sie sich in der Probezeit im neuen Job mit Grippe krank melden, damit rechnen müssen, am Nachmittag des gleichen Tages eine Kündigung im Briefkasten zu haben. (Aber das ist eine andere Geschichte.)
Wenn die Filmemacherin Réka Kincses erzählt, finde ich mich wieder. In den Fahrten durch Polen sehe ich in manchen Gegenden die blühenden Landschaften aus Kohls Versprechung. Arbeit, Vollbeschäftigung, kleines Wirtschaftswunder. Aber der Preis der dafür bezahlt wurde, was sehr hoch. Ich wäre heute eine verbrauchte Frau mit schlechten Zähnen, die akkurat auf den äußeren Schick achtet, wäre ich als Polin in den 60er Jahren geboren. Die Generation, die nichts geschenkt bekam. Die Ostdeutschen durften eine andere Tür nehmen und diesen Kredit zahlen sie noch heute ab.
Vigil 02
Heute beim Genesungsspaziergang von Mitte nach Wedding über den Hof der Factory gelaufen. Ein junger Mann mit beuligen Hosen und Wanderschuhen telefonierte sehr agitiert mit seinem Phablet, die Hülle des Gerätes hing ihm halb vor den Augen. Er pitchte wohl gerade seine neueste Idee:
So was wie Tinder-Separees im Real Life für Business-Kontakte. Du kannst zu den Kontakten hingehen, dich informieren, aber im Gegensatz zu Speed-Dating kannst du weggehen, wenn es dich nicht interessiert und musst die Zeit nicht abwarten.
Gratuliere junger Mann, was du da neuerfunden hast, heißt Messe. Ich möchte nicht wissen, was sonst noch in deinem Kopf unterwegs ist.