Der Frauenschreck

Mein geliebter Dyson-Staubsauger (der große mit Allergiefilter, Bürste und langem Schlauch) ist für meine Putzfrauen ein Horrorobjekt. Sie stehen vor dem Teil, an den alles selbsterklärend konstruiert ist, drücken mal hier, rütteln mal da und fragen, wie sie damit arbeiten sollen. Meine Mutter weigerte sich gar, ihn überhaupt anzufassen. Es ist doch so simpel. Alles, was beweglich ist, klickt, sich dreht und schnappt, ist gelb. Alles andere ist grau. Männer nehmen ihn in die Hand und bedienen ihn. Problemlos. Und ich stehe nach wie vor dazu, daß ich mir damit einen Techniktraum erfüllt habe, eine wunderbare Symbiose von Form und Funktion.
Gestern abend jagte HeMan ein paar Maden hinterher, die in einer Bio-Müsli-Tüte Obdach gefunden hatten. Weil ich stundenlang gekocht und gebacken hatte und ihr Regal, in dem sie wohnten, immer ungemütlicher und heißer wurde, hatten sie die Flucht wandaufwärts in Richtung Zimmerdecke angetreten. Kein Problem für meinen Staubsauger, schließlich hat er in seinem Griff einen Rüssel,eine geniale Schlauch-Rohr-Kombi, die sich auf vier Meter Länge ausfahren läßt und die Viecher selbst von der vermeintlich ruhigen, kühlen Rundung der Kappendecke putzen kann.
Ich stellte mich vor Heman in Ghostbusters-Pose hin. Mit Ritsch-Ratsch-Klick wollte ich ihm meinen Madenvernichter präsentieren. Schon Ritsch mißlang. Der Griff war verkehrtherum eingerastet und mußte peinvoll herausgerüttelt werden. Ratsch mutierte zu Zerr. Wo bitte war die gelbe Muffe, die mit dem Schauch über das Alurohr rutscht und am Ende einrastet? Klemmte sie irgendwo oben im Kopf des Griffs? Brutal reingewürgt? Gab es sie nicht mehr? War das das Ergebnis einer provisorischen, heimlichen Reparatur? Zerr endete mit Reiß.
Mein schöner Staubsauger! Demnächst, wenn die – wahrscheinlich schweineteuren Ersatzteile da sind – gibt es für Unkundige zuvor eine Schnelleinweisung.
Und wie ich das mit meiner Putzfrau besprechen soll, weiß ich auch noch nicht. Ich bin da so schrecklich defensiv. Hab mich auch nicht getraut, meine Tiefgaragennachbarin darauf anzusprechen, daß sie mit mit der Tür von ihrem Jeep eine Beule in das rote Hurenauto gehauen hatte…

Bei Stasis zu Hause

Als ich aus dem Krankenhaus kam, lief der Umzug. Die gesamte Familie half. Mein Bett wurde zuerst aufgebaut und ich folgte dem Gang der Arbeiten im Liegen.
Da meine Eltern darin nicht so versiert waren, schließlich waren sie erst zweimal in ihrem Leben umgezogen, war ich ein paarmal kurz vor dem Zusammenbruch, denn mein Bruder konnte nicht überall sein. Zum Beispiel, als meine Mutter ein Ivar-Regal von zweieinhalb Meter Länge montierte und nur ein Stabilisierungskreuz fand, das Regal aber trotzdem mit Zentnern von Büchern füllte. Oder mein Vater, der sich sechs Stunden damit beschäftigte, zwei Borde in die Wand zu dübeln und dann endlich verkündete, das ginge nicht, die Wand wäre nicht die richtige. Vier von den sechs Stunden hatte ich (mit zugegebenermaßen nicht sehr kräftiger Stimme) auf ihn eingeredet, er solle doch bitte in den nächsten Baumarkt fahren, um Hohlraumdübel zu kaufen, das wäre eine Rigipswand. Dasselbe hatte ihm mein Bruder gesagt, mein Vater ignorierte es aber standhaft.
Die Hausbewohner nahmen regen Anteil an unserem Einzug. Alte Damen mit Gehhilfen standen zeternd im Erdgeschoß und erklärten, es wäre eine Unmöglichkeit am Samstag vormittag einzuziehen, ausgerechnet, wenn sie einkaufen und den Fahrstuhl benutzen müßten. Da der Fahrstuhl im 9. Geschoß endete und zwei Treppenhäuser und drei Stockwerke versorgte, fanden 12 Mietsparteien immer wieder einen Grund, zu schauen, wie unsere Möbel aussehen und wer überhaupt einzieht.*
Als da waren:

  • Die nette uralte Dame. Irgendwie habe ich immer neben einer netten uralten Dame mit wässrigblauen Greisenaugen gewohnt. Diesmal lag ihr Wohnzimmer Wand an Wand mit dem Kinderzimmer. Und das Kind war grade in der Punkmusikphase. Aber das war ausgleichende Gerechtigkeit. Denn Jahre vorher hatte eine uralte und zu dem schwerhörige Dame mit wässrigblauen Greisenaugen ihren Fernseher an meiner Schlafzimmerwand stehen.
  • Ein Ehepaar um die sechzig. Sie blond, nett und unterwürfig. Er gutaussehend, sehr sportlich, der ganze Habitus verriet, daß er ehemaliger Offizier war (weniger Stasi, dazu wirkte er zu intelligent). Katzenfreundlich, lauernd. Er konnte uns nicht einsortieren. Klassenfeind? Doch auf „unserer“ Seite? Konnte man die ankumpeln und gemeinsam auf die neuen Zeiten schimpfen? Ich hatte mir vorgenommen, daß ich, sollte er mir irgendwann blöd kommen, den ganz bösen Befehlston auspacken würde. So von wegen Genosse, nehmse gefälligst erstmal Haltung an! und wenns hart auf hart gekommen wäre, hätte ich ihm sicher gesteckt, daß mein Großvater dereinst sein Vorgesetzter war. Vielleicht wäre ich dann um die 14tägige Trepenrenigung gekommen, mit der mans hier sehr genau nahm.
  • Der geschiedene, vereinsamte Alkoholiker. Teigig, still, verhuscht, mit Joggighosen und verkleckstem Shirt. Immer noch mit einem schrecklichen anhaltiner Akzent geschlagen. Erstaunlicherweise war er einer der wenigen, die arbeiteten. Er trug morgens Zeitungen aus.
  • Die schrullige alte Schreckschraube. Ich weiß garnicht, ob es diesen Typ Frau im Westen überhaupt gibt. Sie ist häßlich, weil sie sich häßlich macht mit unmöglichen Frisuren und Klamotten – in diesem Fall war es so eine schreckliche 70er-Jahre Ballonmütze aus Tweed – wirkt ein Leben lang alt, spricht zu laut, ist aufdringlich, neugierig und hat und hatte nie einen Mann. Sie bevölkert mit Vorliebe kulturelle Nachbarschaftsinitiativen: Buchlesungen der Stadtteilbibliothek, Laien-Fotoausstellungen, Adventzusammenkünfte der Wohnungsbaugenossenschaft etc. pp.
    Als erstes nahm sie meine Familie beiseite und erklärte ihr, daß hier im Haus alle zusammenhalten und ganz viel miteinander unternehmen und auch für Sauberkeit sorgen. Um das zu unterstreichen, erzählte sie Beispiele aus den letzten 20 Jahren und hielt damit den ganzen Umzug auf. Am meisten interessierte sie, wer denn nun der zu mir gehörige Mann wäre (mich hatte sie schön ein paarmal im Hausanzug über den Flur wanken sehen). Als sie dann erfuhr, daß ich alleinerziehnde Mutter bin, schwankte sie zwischen: na das wird Ärger mit den Kerlen geben und prima, da ist jemand genauso allein wie ich. Leider blockte ich ihre freundlichen Kontaktaufnahmen ab. Sie klingelte um halb zehn Uhr abends mehrere Male, um mich zu informieren, daß ihr zu Ohren gekommen wäre, wir hätten am Sonntag vormittag Löcher gebohrt, was aber außerhalb der erlaubten Zeiten nur Fachfirmen und Meisterbetrieben gestattet sei und sie klärte mich darüber auf, daß das Anbringen eines 10 cm breiten Schuhschrankes an der Wand neben meiner Wohnungstür feuerpolizeilich verboten wäre. Nachdem ich sie ein paarmal freundlich-aasig abfahren ließ, gab sie es auf.
  • Die frisch getrennte, tiefst depressive, völlig überforderte junge Mutter. Ihrer Kleidung sah man noch ihre Gruftivergangenheit an. Leider hatte sie einen kleinen Emotionalterroristen in die Welt gesetzt, der sie von morgens bis abends mit Brüll- und Schreianfällen drangsalierte. Manchmal, wenn der Bengel Luft holte, um noch lauter weiterzubrüllen, konnt ich sie betteln hören: Bitte lass Mama doch mal ein bißchen in Ruhe! Aber Chucky kannte kleine Gnade…
  • Der ABV (Abschnittsbevollmächtigte, das Pendant zum KOB) mit seiner Frau. Sicher war er mittlerweile außer Dienst, wenn man das von solchen Leuten überhaupt sagen kann. Klein, untersetzt, rotes Bauerngesicht, auf den Fußspitzen wippend stand er neben mir im Fahrstuhl und sah mich mit unverhohlenem Haß an. Seiner kleinen verhuschten Frau, die keinen Schritt von seiner Seite wich, war das sichtlich peinlich, aber sie zog den Kopf ein, wie wahrscheinlich immer.

In den ersten Wochen, als ich noch schwer unter Schmerzmitteln stand, beglückwünschte ich mich zur Entscheidung für die Platte. Denn auch im Typ P2 (ich war 13 Jahre im Typ WBS70 aufgewachsen) war der Weg in Küche und Bad derselbe. Ein gelernter DDR-Bürger fand ihn in jedem Zustand.
Das Kind und ich räumten mehrere Male um. Die 4 Zimmer auf 64 qm, die wir bewohnten (früher wären die einer vierköpfigen Familie zugeteilt worden) waren zu klein für unsere Möbel. Ansonsten war ich recht zufrieden. Zumindest im Frühling und Winter konnte ich den düsteren Prohezeiungen meiner Freundin nicht folgen, die der Meinung war, so eine Wohnung sei schon Feng-Shui-mäßig eine Katastrophe und der Stahbeton der Wände wirke wie ein Faradayscher Kafig und würde die Strahlen des Universums aufhalten. Ich sah auf gigantische Sonnenauf- und untergänge. Im Schlafzimmerfenster, vom Bett aus, sah ich den Fernsehturm (und die manchmal in Winternächten dort einschlagenden Blitze) und aus dem Wohnzimmerfenster hatte ich einen Blick wie von Gursky fotografiert, eine „Wohnscheibe“, eine Straße lang, 11 Stockwerke hoch. Hinter den Fenstern spielte sich ein kleines Welttheater ab. Dort wurde gekocht, gestritten, gevögelt und auf riesigen Fernsehern Frühstücksfernsehen gekuckt. Um die Weihnachtszeit blinkten überall diese psychedelischen Lichter. Es war nie langweilig.
Der Sommer offenbarte das Problem dieser Wohnung. Die Wände und Fenster waren zwar isoliert worden, aber nicht das Dach. Und so entstand um die Mittagszeit, wenn die Sonne auf das Dach schien, eine unerträgliche Hitze, die erst gegen Morgen des nächsten Tages nachließ. Es gab Nächte im Sommer, da bin ich bis drei Uhr nachts Rad gefahren, weil ich vor Hitze nicht schlafen konnte.
Das Kind war am Wochendende und in den Sommerferien kaum noch zu Hause. Sie probte das Zusammenleben mit ihrem Freund. Ich wiederum merkte, daß ich in dieses Haus nicht paßte. Der Sozialneidkratzer an der Autotür war das geringste Problem. Klar, hier fuhr man keinen Roadster. Hier hatten die meisten keine Arbeit, waren Verlierer der Geschichte und im Treppenhaus hing die Telefonnummer für die Alkoholiker- und Schuldnerberatung aus.
Außerdem behagte mir der Michaelkirchplatz nicht. Diese Nahtstelle aus Ost und West bot zwar Zugang zu allen möglichen Kulturen – altes Kreuzberg, neues Kreuzberg, alte Mitte, neue Mitte – aber die10 Straßen, die in ihn mündeten (alle mit unterschiedlcher Vorfahrtsregelung) hatten mir innerhalb von acht Monaten zwei schuldhafte Unfälle beschert. Jedesmal hatte ich es eilig und habe die Vorfahrt mißachtet. Für jemanden, der vorher nie einen Unfall verusacht hatte, war das ein deutliches Zeichen.
Die Karawane würde weiterziehen. Diesmal ohne das Kind, das mittlerweile das Abitur hatte und schon 19 Jahre alt war.
Das letzte Kapitel naht. Die Erfüllung eines Traums. Loftleben.

* Das Haus lag im ehemaligen Mauerstreifen. Ein Gebiet, wohin früher nur „zuverlässige Genossen“ ziehen durften, Teile des Viertels waren – obwohl Berlin Mitte – nur mit Passierschein betretbar. Deshalb wohnten hier bevorzugt Polizisten, Kriminalisten und Offiziere von Stasi und Grenztruppen.

Gleimkiez die zweite

In den letzten Wochen vor dem Auszug aus dem Flußhaus wachte ich nachts schreiend auf. Pavor nocturnus heißt das, so weiß ich mittlerweile. Ein Freund zitierte Heiner Müller: alles Neue kommt mit Schrecken. Was mir in diesem Fall nicht wirklich half.
Für die Firma war relativ schnell ein Büro im Prenzlauer Berg gefunden. Mit der Wohnungssuche tat ich mich schwerer. Alles, was so ungefähr meinen (bereits heruntergeschraubten) Vorstellungen entsprach, war allerhöchstens für Doppelverdiener bezahlbar. Und der Rest, den ich besichtigen durfte, war eine Frechheit. Zweizimmerwohnungen, ein Durchgangszimmer, das zweite nicht heizbar, auf deren Böden sich alter PVC-Belag wellte. Dustere Kopfschußbuden in unrenovierten Häusern, die vorn einen Blick auf die Eberwalder Straße und hinten einen auf eine Beton-Mauer hatten. Gehypte „Luxuswohnungen mit amerikanischer Küche“, wo ein großes Altbauzimmer mit einer Mauer getrennt und in einem der entstandenen Schläuche drei Küchenschränke und ein Herd an die Wand gestellt wurden, dazu ein marmorgefliestes, fensterloses Minibad.
Ich weiß nicht, was mich an diesem Augusttag geritten hatte, als das Kind und ich zusammen mit einer Herde Studenten auf einen Besichtigungstermin in einem Haus unweit des Mauerparks warteten. Die Wohnung war ok. Zwei separate große Zimmer, ein langer Flur mit Zwischenboden, Küche und Speisekammer, gefliestes Bad, Stuck an der Decke und abgezogene Dielen. Der Haken: Erdgeschoß im Hinterhof und Außenwandgasheizer. Ich sagte ja, nachdem ich mir und dem Kind die Wohnung kräftig schöngeredet hatte. Außerdem hatte ich bei Besichtigungen ab dem zweiten Stockwerk heftiges Unbehagen verspürt, denn ich hatte Angst davor, irgendwann aus dem Fenster zu springen.
Ich verbrachte vier Wochen Urlaub, die mir mein zeitweiliger Firmenpartner wegen völliger Überarbeitung gab, damit, das Bad neu zu fliesen und die Wasserleitungen zu verkleiden. Danach ging es mir gesundheitlich noch schlechter (was ich mir auch an allen vier Fingern hätte ausrechnen können).
Der Umzug im November war eine Trauerfeier. Ich lief herum wie ein Zombie. Nur einmal wurde ich wach, sehr wach. Wir räumten noch verbliebenen Sperrmüll aus dem Haus, während ein graziler, fast unterernährter Afrikaner, den uns die Tusma geschickt hatte, versuchte, die Wohnung zu streichen ohne zusammenzubrechen.
Ich vermißte in einer der Kommoden meine Steinsammlung, fossilie Seelilienstängel, die ich jahrelang zusammengetragen hatte. Der Mann mit dem ich diese hysterische on-off-Beziehung führte druckste herum und rückte wenig später doch damit heraus: er hätte diese phallischen Dinger nie leiden können und sie deshalb vom Steg herab ins Wasser entsorgt. Und so sprang ich an einem grauen Novembersonntag, es schneeregnete, mit einem Wutschrei und meinen Schuhen und Klamotten ins Wasser, um zu retten, was ging.
Unser Ghetto, wie das Kind den Gleimkiez nannte, war schön. Vorn an der Straße war einer der besten Bäcker Berlins, in zweihundert Meter Entfernung die Kleine Eiszeit, das Colosseum-Kino, Boutiquen, Schnuppi- und Schnulliäden und jede Menge coole junge Menschen.
Sofern die coolen jungen Menschen in unserem Haus wohnten, borgten sie bei uns Stühle für ihre lautstarken Parties und wenn sie im Morgengrauen gingen, legten sie gern noch eine Zigarettenpause vor meinem Fenster ein, um laut über ihre Mitgäste zu lästern. Das Kind war leider noch nicht in dem Alter, wo sie mitfeiern wollte. Und überhaupt waren wir dort unter „das Lesbenpaar aus dem Erdgeschoß“ registriert, was sie schwer beschämte.
Die Luxusprobleme der Menschen über uns krass, mein Alter will mir die Kohle streichen, wenn ich noch mal wechsele waren nicht unsere. Wir betreiben an einem Ende der Küche einen Wandgasheizer, der uns fast ersticken ließ und an der einzig möglichen Stelle, wo der Küchentisch stehen konnte, herrschten freundliche acht Grad. Ich kaufte einen Elektroheizer dazu, damit wir morgens nicht zitternd frühstückten. Die Gasheizungen in den Zimmern erzeugten Feuchtigkeit, die Wäsche wurde nicht trocken und zusammen mit der aus dem Keller aufsteigenden Kälte kam der Schimmel. Nach vier Wochen signalisierte mir der Geruch, daß meine Matratze an der Unterseite Stockflecken bekommen hatte. Natürlich hätten wir mehr heizen müssen. Doch wenn wir in kalten Nächten die Heizer anließen, rechnete ich morgens aus, daß wir gerade die für den halben Monat kalkulierten Heizkosten verbraucht hatten. Dazu kam die Dunkelheit. Die Wohnung sah nur in den Spätsommertagen, an denen wir sie besichtigt hatten, vereinzelte Sonnenstrahlen. Sobald ich zu Hause war, machte ich das Licht an und schloß die Gardinen, weil ich keine Lust hatte, mir ins Zimmer sehen zu lassen. Das mag zum Lachen klingen, aber in dieser Wohnung war ich nicht einmal in der Lage, heimlich, still und leise im Bett zu onanieren (von Sex ganz zu schweigen). Ich hatte das Gefühl, die Leute, die über den Hof laufen, gehen durch mein Zimmer. (Kein Wunder am Fluß hatten wir in 250 Meter Umkreis niemanden.)
Im Frühjahr kamen juckende Stiche auf meiner Haut dazu. Jeden Morgen hatte ich neue. Wutentbrannt rief ich bei der Hausverwaltung an. Meine Vermutung war: Wanzen. Doch der Kammerjäger beruhigte mich. Es waren „nur“ die Flöhe vom Hund meines daueralkoholisierten Nachbarn.
Der Sommer ging einigermaßen. Wir lagen im Mauerpark in der Sonne und das Kind war am Wochenende bei ihrem Freund, die Sommerferien verbrachte sie in Kanada. Aber wir wußten, daß wir nicht noch einen Winter hier bleiben wollten. Unsere Pläne waren diffus. Das Kind sprach davon, auszuziehen.Wir besichtigten sogar einige Einzimmerwohnungen in der Nähe. Finanziell war das kein Problem, wie wir später mitbekamen. Durch eine Lücke in den Hartz-Gesetzen wären ihr der Umzug und Unterkunft und Lebensunterhalt bezahlt worden. Aber so clever waren wir nicht. Außerdem wäre es für mich wirklich das Letzte gewesen, vom Amt zu leben. Mir war es peinlich genug, für diese billige Bude sechs Monate lang Wohngeld zu beziehen. Aber die Zeiten waren hart. (Erst jetzt packen die Medienleute aus, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen ist. Die Schauspielerin, die im Callcenter Lottoverträge vertickt hat, die Werbetexterin, die sich ein Jahr lang in ihrer Wohnung verschanzte und von Müsli lebte. – Diese Liste läßt sich sicher fortsetzen.)
Ich hatte nichts als Blasen im Kopf. Mal besichtigte ich einen Bauernhof in der Prignitz, um in Zukunft von Landwirtschaft und Ziegenkäse zu leben, mal wälzte ich Pläne, um auf dem Grundstück meiner Eltern oder meiner Oma ein Blockhaus selbst zu bauen bzw. zwei Wohn-Container aufzustellen. Außerdem hatte der neue Besitzer des Hauses eine Sanierung bei lebendigem Leib angekündigt. Umsetzwohnungen gäbe es nicht, wer gehen wolle, könne gehen. Ansonsten wären Dreck und abgestelltes Wasser hinzunehmen.
Wie in so vielen Fallen hatte das Leben eine Lösung parat. In diesem Fall in Form eines Problems. Aber wie heißt es so schön: Probleme sind Lösungen.
Auf dem Rückweg von einer Preisverleihung in Köln hatte ich mich so stark erkältet, daß ich freiwillig im Bett bleib und meinen Teil der Geschäfte von dort aus weiterführte. Zwei Tage später ging es mir immer noch nicht besser. Im Gegenteil. Ich wachte morgens auf und konnte mich nur noch unter Jammern umdrehen. In meinem Bauch war etwas gewachsen, das die Größe einer Viermonatsschwangerschaft hatte. Und das drückte so auf die Rückennerven, daß ich vor Schmerzen heulte. Eine Odysse zu Ärzten begann. Mein Gynäkologe am Stadtrand, zu dem ich mit letzter Kraft gefahren war, zuckte nur die Schultern. Er hätte mir schon seit fünf Jahren gesagt, daß diese Geschwulst raus müsse und daß sie irgendwann entzündlich explodiert, hatte er mir auch schon prophezeit.
Bis zum OP-Termin blieben mir fünf Wochen, in denen ich eine neue Wohnung finden und den Umzug organisieren mußte. Denn nach dem Eingriff konnte ich nicht einmal einen Schrubber halten, geschweige denn eine Wohnungsanierung durchstehen. Nebenbei kam eine wichtige Präsentation in der Firma in die Endphase. Eine Arbeit, die über den Gang der Geschäfte für die nächsten zwei Jahre entscheiden würde. Kurz und gut: Es war die Hölle.
Kurzentschlossen mietete ich eine Wohnung im Plattenbau. Groß genug für mich und das Kind, unproblematisch heizbar, ohne Fugen, aus denen die Kälte oder Tierchen krochen, bezahlbar, weil Genossenschaft, mit der richtigen Größe für Unterstützungswürdigkeit bei sozialem Absturz, denn ich hatte Angst, daß in diesem Fußball in meinem Bauch der Krebs nistete.
Am Tag instruierte ich die Praktikantin, wie sie mich vertreten konnte und tat am Telefon so, als wäre alles in Ordnung, am Abend packte ich Kisten, die ich eigentlich nicht einmal mehr heben durfte.
Ich begriff: Ich war ganz unten angekommen. Es konnte nur besser werden.