Da mit den Vigilien hat sich aufgeraucht. Das war eine Idee aus der Post-Influenza-Zeit, als ich wieder etwas fitter war. Ich konnte nachts nicht schlafen, also habe ich nächtlich geschrieben, was mir gerade einfiel. Das half nebenher auch über eine Schreibblockade, mit der ich mich lange herumschlug.
Jetzt ist beides weg. Die Schreibblockade und die Schlafstörungen. Ich falle nach getanem Tagwerk todmüde ins Bett und wache erst beim Weckerklingeln wieder auf. Die Vigilien wurden zunehmend ein Klotz am Bein. Hey, die Hundert musst du vollmachen und jetzt ist es Mitternacht, los, denk dir was aus! Und dann habe ich mich daran erinnert, dass ich mir mit Eitelkeit und dem Leistungsdruckdingens eine ganze Menge blöde Sachen eingefangen habe. Ich muss nämlich gar nichts, außer regelmäßig Luft holen und immer mal Essen, Trinken und Schlafen.
Wobei wir beim nächsten Thema sind. Viel mehr als Luftholen, zuzüglich Essen, Trinken, Schlafen und den Grafen bepuscheln mache ich nämlich gerade nicht. Ich habe vom Leben Zeit geschenkt bekommen. Die Zeit, die mir vor sechs, sieben Jahren fehlte, damit ich wieder Boden unter den Füßen bekommen und mich ausruhen konnte.
(Ich mag gar nicht von gesund werden sprechen, nach körperlichen Kriterien war ich damals nicht krank, dazu war mein Körper noch viel zu intakt. Ich war nur kurz vor einem Magengeschwür und mein Immunsystem streikte und ließ bei Belastung fix irgendeinen Infekt durch, so alle zwei Wochen. Nur der Kopf wollte absolut nicht mehr. Was für eine Kopfarbeiterin allerdings fatal ist.)
Als ich realisiert hatte, dass ich wirklich geschenkte Zeit hatte und mir in einem längerwährenden Prozess sagte, das wäre nichts, wofür ich mich schämen müsste, die Erde würde sich nicht auftun und mich verschlingen, auch der Blitz würde mich nicht ob meiner sündhaften Faulheit beim Sch…en erschlagen, habe ich mir als nächstes eine Struktur gebaut.
Als erstes: Das mit dem Schreiben ernst nehmen oder besser erst mal lernen. Also sitze ich von morgens neun oder zehn bis ein Uhr in einem stillen Eckchen und schreibe. Profis lachen sich über meine Produktivität kaputt. Aber egal. Ich wollte doch immer im Alter die schrullige Kronprinzessin der Bahnhofsbuchhandlungen werden, jetzt arbeite ich mich halt ran. BTW. – Das scheint übrigens einer der wenigen Jobs zu sein, der Alterskarrieren ermöglicht. Denken wir an Ingrid Noll, PD James und Ruth Rendell.
Ich sehe die Versuche mit Humor, denn ich habe die Möglichkeit, in einiger Zeit zu sagen, dass das, was ich dringend wollte, seit ich 12 Jahre alt war, nur ein Traum war und nicht Realität werden konnte. Das ist auch ok. Aber probiert wollte ich es haben.
Derzeit hangele ich mich durch ein Sachthema. Das hat den großen Vorteil, dass der überwiegende Teil in meinem Kopf ist und ich mich aufs Aufschreiben und den Aufbau des Textes konzentrieren kann.
Theoretisch hab ich das intus. Ich hatte Drehbuchkurse im Studium, ich habe Dramaturgie gelernt etc. Praktisch ist es manchmal schwierig. Wie eine Mauer aufbauen und glatt verputzen, so dass man die einzelnen Steine hinterher nicht mehr sieht.
Am Nachmittag, wenn der Kopf schon ziemlich müde ist, bin ich entweder draußen oder mache Näharbeiten. Es ist einiges an Kleidung entstanden, was ich beim MMM noch gar nicht gezeigt habe.
Der schmale Rock, die Goldfischbluse und die Strickjacke sind alle seit Jahreswechsel entstanden.
Auf der todo-Liste steht noch viel mehr, aber ich bin langsam. Dann gibt es eben die Leinenblusen und den beige-weißen Fadenkaro-Rock, deren Stoffe seit zwei Jahren eingekauft sind, erst nächsten Sommer. Oder der dringend benötigte Wintermantel wartet noch ein Jahr. Dann kommt das eine oder andere Quilt-Projekt. Als nächstes werden das ein oder zwei kleine Whole Cloth Quilts mit Whitework.
Den nächsten Schlafplatz möchte ich ähnlich gestalten, aber mit Indigo färben. Bei den primitiven Käsekästchen werde ich bleiben. Zu kompliziertes Patchwork ist nicht meins. Und ich liebe Quadrate.
Dann wird wieder an Prototypen für Schöne Klare Dinge gebastelt und ab und zu eines oder mehrere genäht. Demnächst steht die Produktion von einigen Dozenten-Geschenken für eine Institution an. Meistens läuft das nicht über die Shops.
Das mit dem Rausgehen ist so eine Sache. Unsere Ecke hier in Berlin schwirrt nach wie vor vor Inspiration und guten Leuten. Hier gibt es – bis auf die Population polnischer Junkies unten an der Ecke Park-U-Bahnhofeingang – nur wenig öde aber laute Partytouristen. Die Menschen hier wollen alle was vom Leben, statt sich wegzuschießen. Im Park probt einfach mal eine Blaskapelle Filmmusik oder singt eine Opernsängerin Arien. Neben den ganz schrecklichen Straßenmusikanten spielen unter dem Wohnzimmerfenster einmal täglich zwei sehr coole Jazzmusiker.
Es ist hier im Moment im Kiez eine gute Ausgewogenheit dank älterer und guter neuer Gentrifizierung. Das Leben ist noch nicht übel teuer, wenn man die richtigen Plätze kennt . Es sind eine Menge Alteingesessene hier (Halb-Alteingesessene, seit den 90ern, die Ureinwohner sind längst vertrieben), die nicht so unter Druck stehen und eine ganze Menge Neuankömmlinge, die es aus ihren Ländern kennen, ohne großartige Subventionierung aktiv und kreativ zu sein. (Auf niedrigem Level gibt es hier sogar eine ganze Menge Arbeit. Die gesamte Kastanienallee sucht händeringend Baristas, Tresenkräfte, Köche, Bedienungen und Verkäufer. Oft sogar seit Monaten und da sich niemand findet, werden die Öffnungszeiten verkürzt.)
Ich weiß aber nicht immer, wo nun mein Platz ist. Es ist mir oft zu wuselig und zu laut. Aber ich glaube, die Träume von sublimer ländlicher Entschleunigung werden das nicht lösen. Dann gibt es dann andere Probleme. Tumbe und/oder völkische Nachbarn oder locker-flockige Lebenskünstler, die einen zukommunizieren oder einfach intolerante Normalos, zu denen man nicht passt, auf die man aber angewiesen ist. Provinzprobleme. deren Bedeutung man nicht zu würdigen weiß. Zugereist sein. Überlaufende Jauchegruben, Gift spritzende Bauern, Nacktschnecken, explodierende Vegetation.
Ich habe ein halbes Leben den Witz gemacht, ich würde als alte Frau in einer Kleinstadt hinter der Gardine stehen und über Leute herziehen. Ich glaube, das wird nichts. Ich werde sehr wahrscheinlich durch ein mit Euro-Zuckerguß glasiertes Berlin Mitte, das von früheren, swinging Zeiten lebt, als schrulliges Damen-Artefakt krückstockfuchteln. Außerdem habe ich dafür noch 25 Jahre Zeit, aber für die jetzige Existenz ist mir meine Rolle noch nicht so ganz klar.
Ich habe demnächst 5 Wochen Gelegenheit, meine Gruppentherapiemitpatienten damit vollzuschwallen. Madame geht nämlich in die Reha. 7 Jahre zu spät, ich habe mich schon fast selbst und mit den Grafen Hilfe am Zopf aus dem Sumpf gezogen, aber ich wäre blöde, würde ich das Angebot ausschlagen.
Natürlich geht es hier weiter. Aber immer dann, wenn ich was zu schreiben habe.
(91 Vigilien, wie immer knapp unter den Erwartungen geblieben.)