Mir passt der Kiezneurotiker grade so richtig gut in die Welt mit seinem Artikel.
Irgendwann hatte ich während des Urlaubs getwittert, wie sozial angenehm ich in Polen Familien mit Kindern fand. Klar kamen da Reaktionen, das Wort „dressiert“ fiel. Nö, die waren nicht dressiert – die kamen laut schreiend angerannt, wenn sie was entdeckt hatten, kletterten beim Essen auf den Tisch, wenn sie miteinander spielten, wurde es laut und impulsiv, die standen mit großen Augen 30 Zentimeter neben mir und flüsterten miteinander, als ich strickend auf der Bank saß.
Ich suche die ganze Zeit nach der Beschreibung, was den Unterschied ausmacht, zu dem, was ich hier im um dem Spielplatz am Weinbergspark erlebe, wo das Elternpaar begeisterter im Sand spielt als das Kind.
Es hat was mit Grenzen und Empathie zu tun. Mit dem Wahrnehmen, dass es auch noch andere Menschen auf der Welt gibt, die Raum brauchen. Mit Rücksicht und Höflichkeit. (Ja, ich weiß, sehr konservative Worte. Aber ich erinnere mich, dass mir als erstes auffiel, als ich 1991 nach Westberlin zog, dass die Kinder weder „Bitte“ noch „Danke“ sagten und keine Tischsitten hatten.) Und damit, dass ich das Gefühl habe, dass sich Kinder und Eltern tierisch was vormachen, um einander imaginierte Erwartungen zu erfüllen.
Gestern ging ich die Invalidenstraße runter und kehrte kurz bei Frau Tulpe ein. Hier wartete ich gut 10 Minuten, bis zwei Väter mit ihren 10jährigen Töchtern ihre Lehrvorführung bei den Schnittmusterkisten beendet hatten. Sie standen in voller Breitseite davor. „Schau mal, Laura, da sind ganz tolle, spannende Sachen, damit kann man nähen!“ Mit so einer Kinderkassetten-Märchenerzählerstimme. Sie blätterten, diskutierten und das ganze sah aus, als würden sie sich gegenseitig etwas vorspielen, denn die Kinder stiegen ebenfalls mit Märchenerzählerstimme ein: „Oh ja, das nähe ich dann meiner Schwester!“
Irgendwann war ich die grantige Olle, weil die echt nix mehr merkten und meinte: „Wenn ihr in dem einen Kasten nichts mehr sucht, könntet ihr mich bitte ranlassen?“ Kurzer Seitenblick, aha, tatsächlich andere Menschen in unserem Bällebad, etwas wegrücken.
Ich ging weiter in den REWE. Dort lief eine Frau in meinem Alter mit einem vorpubertären hochgewachsenen Jungen herum und erklärte ihm die Welt der Nahrungsmittel. Was das und jenes ist, was richtig und gut ist, was man essen dürfe und was nicht. Ich verstand nicht viel davon, aber es war wieder der gleiche Märchenerzählerhabitus „wir machen grad was ganz schrecklich spannendes, du“, mit dem die Erwachsene begann und die das (für so eine Unterweisung fast zu große) Kind irgendwann aufnahm. Mein Gefühl: Das Kind tat der Erwachsenen den Gefallen, mitzuspielen. (Noch, in einem halben Jahr wird ihm das tierisch peinlich sein.)
Dass hier immer mal Mütter mit Kinderwagen vorbeischieben, die ständig ihr Kind ansingen und wenn ihnen nichts mehr einfällt, eine lustige Geschichte erzählen, mit Märchentantenstimme natürlich, geschenkt…
Dass eine entfernte Bekannte mit ihren Kindern bei einem gemeinsamen Ostseeausflug „Oh toll wir sind auf Klassenfahrt, wir spielen ganz viele Spiele und singen ganz tolle Lieder!“ inszenierte. Mich beschlich die kleine Fremdscham, eine Fünfundvierzigjährige zu sehen, die sich so benahm wie ihre Kinder, besser noch kindlicher als ihre Kinder, die dann ihr zuliebe mitkalberten.
Was ist das? Quality-Time-Alarm?
Ich erinnere mich, dass ich mich in der Öffentlichkeit vor dem Kind so benahm, wenn ich unsicher war. Immer einen Zacken zu laut, zu demonstrativ. „Schaut mal, ich bin die Mutter! Ich sorge gut für mein Kind“ Ich habe mich später dafür gehasst.
Ich erinnere mich daran, dass wir als Kinder immer die schönste Zeit hatten, wenn uns vorher tierisch langweilig war, wenn nichts passierte und wenn die Erwachsenen mit sich selbst beschäftigt waren. Dass wir es gut fanden, wenn die Eltern uns die Erwachsenenwelt zeigten. Museen, Konzerte, Restaurants. Natürlich wollten wir uns dort wie Erwachsene benehmen. Wenn meine Mutter plötzlich die 12jährige gespielt hätte oder unsere Eltern so märchenonkelmäßig geredet hätten (ok., der Vater machte das manchmal, dann baten wir ihn, wieder normal zu werden), das wäre uns peinlich gewesen.
Wir fanden den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ok., außer wenn die Erwachsenen mehr durften als wir, dann wollten wir so schnell wie möglich erwachsen werden. In den vielen entspannten Momenten konnten wir Kind sein und wenn wir wollten, konnten wir erwachsen spielen. Hier vor meiner Tür ist das umgekehrt. Da scheint Kindheit die große, freie Welt zusein, in die die Eltern immer wieder zurück möchten.
Manchmal möchte ich Mäuschen spielen, was diese Generation, die gerade heranwächst, ihren Therapeuten erzählen wird.
edit: Ich lese das gerade noch mal durch und merke, es geht nicht um soziale Fertigkeiten und um Rücksichtnahme. Es geht um Eltern, die die Elternrolle nicht füllen (wollen) und daher entweder Kind oder Märchenonkel spielen.