Vigil 35

Heute mit Kind und Männern ein Gespräch über Zufall und Vorherbestimmung, höhere Macht und Entscheidungsfreiheit geführt.
In meinem Leben gab es ein oder zwei Situationen, wo sich eine Weiche hätte stellen können, die mich auf einen anderen Weg geschickt hätte. Auch wenn sich Menschen im Kern nicht verändern, es hätte aus mir jemand anders gemacht, mich an andere Orte und zu andere Menschen gebracht. Genauso, wie ich mittlerweile der Meinung bin, irgendwann gegen 1999 auf einen Weg abgebogen zu sein, der mir nicht gut tat.
Aber wir sind, wie wir sind. Fraglich ist, ob wir uns wirklich anders entscheiden können.

Aber es gibt den Zufall. Wenn du eine Ampelphase später unterwegs gewesen wärest, würdest du nicht unterm LKW enden.

Ich sprach von einem Film, den ich in den späten 80ern gesehen hatte. (Das Montagskino des ZDF war für viele mental überlebensnotwendig.) Über einen polnischen Studenten, der den Zug nehmen will, ihn bekommt, verpasst etc. und jeweils danach ein anderes Leben führt, aber in jeder Episode bei einem Flugzeugabsturz stirbt.
Ich habe noch einmal nachgeschaut. Es war ein Film von Kieślowski, Der Zufall möglicherweise, der lange im Giftschrank gelegen hatte. Es war im Polen des Kriegsrechts nicht gut gelitten, demonstriert zu bekommen, dass jenseits von Bewusstsein und der Entscheidung für das moralisch Gute und Richtige* eine andere, nicht zu beeinflussende Instanz gibt.

*Aus der heutigen Sicht: Was war das moralisch Gute und Richtige? Die Kommunisten, den „bewußtesten Teil der Arbeiterklasse“ als Führung anzuerkennen? Streikende Werftarbeiter zu unterstützen? Sich rauszuhalten und gottesfürchtig und bescheiden zu leben?
Hinterher ist man immer schlauer.

Das Flugzeug wartet auf alle drei. Alle drei Leben gehen im Flugzeug zu Ende. Das Flugzeug wartet ständig auf ihn. Eigentlich wartet es auf uns alle.“

Vigil 34

Berlin ist voller sonderbarer Menschen. Es ist Anfang April, heute war es mittags um 12 Grad warm, in der Sonne fühlte es sich leicht wärmer an. Unten vor der Weinerei setzte sich kurz nach 10 Uhr ein Pärchen zum Frühstück, von denen er Bermudashorts, Karohemd und Sandalen trug und sie ein kurzes Kleidchen, ebenfalls Sandalen und einen Wintermantel mit Pelzkragen. Um ein Uhr spielten Teenager barfuß Beachvolleyball in der Rosenthaler Straße. Schon am Wochenende kam mir eine Frau auf dem Fahrrad entgegen, die zum Minikleid nackte Beine und Winterstiefel trug.
(Wobei ich die Kombi Stiefel und Sommerkleid, die Berlin einige Jahre ebenso beherrschte, wie die Kombi Jeans und Rock oder flatterndes Seidenkleid, bedenklich finde. Vor allem im Hochsommer. Smells like x-tremly Käsefußalarm.)

Vigil 33

Heute habe ich das Nesselmodell des ersten selbst konstruierten Kleides angezogen. (Nix kompliziertes, eine simple A-Linie in dieser Silhouette.)
Die „Waaaaah! Es passt auf Anhieb wie angegossen“-Euphorie stellte sich natürlich nicht ein. Aber ich wußte ziemlich genau, wo ich zupfen musste, damit fast alles, was komisch saß, an die richtige Stelle rutschte.
Es ist eine zeitraubende, komplexe Arbeit, über deren Sinn man streiten kann, wenn die Stadt voll Klamottenläden ist. Aber es macht Spaß. Ich hoffe, das hält sich, wenn es an kompliziertere Aufgaben geht.

Vigil 32

Manchmal haut eine banale Erkenntnis richtig rein. Also zumindest bei mir ist das so.
Amazon möchte in dieser ungeliebten und geisterhaft verlassenen Shopping-Mall an den Kudamm-Theatern ein Lager für taggleiche Lieferungen in Berlin einrichten. In einem Areal in teuerster Lage – wenn nicht der Denkmalschutz für die alten Reinhardt-Kammerbühnen seit 15 Jahren alle Investoren frustrieren würde. Aber es ist nur ein Versuch auf Zeit.
Taggleiche Lieferung hört sich erst einmal schick an. Das ist fast wie Shoppen gehen, nur ohne das Haus zu verlassen. Damit sind sogar die Instant-Wünsche und Frust-Käufe abgedeckt, für die das Internet ansonsten wenig geeignet war, weil man zwischen Bestellung und dem Gedanken, die Sache in den Händen zu halten, noch ein paar Tage hat, um zur Vernunft zu kommen.
Der Einzelhandel kann das immer noch nicht so richtig denken. – Wenn der Kunde nicht kommt, kann man es dem Kunden bringen, das wäre eine Möglichkeit. Die ist aber beschränkt, weil in der Kalkulation Mieten und Personal an der Stelle kalkuliert sind, die Internethändler für die Logistik ausgeben können.
Ich frage mich schon seit einigen Jahren, was die Kaufentscheidung in Zukunft bestimmen wird, wenn man Dinge nicht mehr real ansehen und anfassen kann. Ich kaufe im Netz vor allem Marken, deren Versprechen ich kenne und denen ich vertraue oder die mir empfohlen wurden. Um No Name mach ich einen Bogen. Was aber, wenn die RL-Markenerfahrung bei vielen Produkten ausgelaufen ist? Sind Geschäfte dann nur noch Showrooms? Bekommen wir Muster geschickt?
Zurück zu den großen Internethändlern. So angenehm ich es finde, mich nicht durch Menschenmassen wühlen zu müssen oder Geschäftsöffnungszeiten zu beachten, die unterschwellige Botschaft ist eindeutig: Du kannst jederzeit kaufen und liefern lassen, damit du
a. auch in entlegenen Regionen jeden Sch… konsumieren kannst.
b. mehr und flexibler arbeiten kannst und die Freizeit für Selbstoptimierung reservierst, um noch mehr kaufen zu können.