Vier Tage in Polen

Der Graf hatte diese Woche frei und wir planten schon lange eine kurze Auszeit in einem netten Refugium auf dem Land. Wie immer mit den Grundbedingungen: Doppelbett, WiFi, Badewanne.  Aber vorher musste er sich aber erst mal zu seinem großen Ärger mit Kranksein beschäftigen. Deshalb fuhren wir erst am Mittwoch los. Wir hatten eine Suite in einem kleinen Herrenhaus in Großpolen herausgepickt, am nördlichen Rand von Poznan.
Mir war der Dwór Wierzenica ob seines kargen Klassizismus aufgefallen. Ausnahmsweise kein fetter Portikus, der sonst in Polen an jede Hütte gebaut wird, als Symbol von Autarkie und Status, und wenn die Säulen aus Rohren oder Bäumen gemacht sind…
Das Gebäude ist großes regionales Bauernhaus, das durch eine Art zweistöckige Diele geteilt wird, die nur durch Mauerkanten ein Säulenportal andeutet. Eine Mischung aus Wurzelsuche und Himmelstürmen, das interessierte mich.

Als wir im Dunkeln ankamen war netterweise die Zufahrtsstraße dick mit Sand gestreut, denn das Haus liegt auf einem kleinen Hügel. Wir wurden als einzige Gäste nett empfangen und es war wie immer in diesen stadtnahen Schlößchen in der Nebensaison. Man nutzt sie in der warmen Jahreszeit als Partylocation für Hochzeiten und im Winter ist da niemand außer den Besitzern oder ein, zwei Helfern. Wobei ich in dieser irre schönen und modernen Küche gern selbst gekocht hätte, eine Karpfenzucht war in Laufnähe.
Unsere Zimmer hatten hohe Decken, schöne, wenn auch etwas hilflos gestellte antike Möbel und ein Riesenfenster mit meterbreitem Fensterbrett mit Blick auf eine moorige Niederung und einen Waldhang an ihrem Ende.
Dwór Wierzenica
Als wir Bescheid gaben, am ersten Abend nichts essen zu wollen, aber an den zwei darauf folgenden Abenden (das Haus wirbt auf Booking schließlich mit frischer, regionaler Küche, man könne aus einem Angebot wählen), gab es leicht erstaunt hochgezogene Brauen. Öhm ja, man hätte Piroggen mit Fleisch oder Obst da. Nun muss man wissen, dass Pierogi in Polen Fast Food sind, die gibt es an jeder regionalen Imbissbude. Das war so, als hätte man uns Currywurst mit Pommes offeriert.
Wir hatten aber keine Lust, mehr als 10 km in ein vernünftiges Restaurant zum Essen zu fahren, vor allem weil es abends auf den Straßen glatt wurde, deshalb nickten wir das ab und tauchten in Badewanne und Bett ab. Nachts gab es wunderbaren Vollmond über Schnee und kahlen Bäumen und dazu heulende Hunde.

Der nächste Tag war strahlend klar. Wir gingen nach dem Frühstück (selbstgemachte Erdbeermarmelade!) nach draußen, um die Umgebung zu erkunden. Ich habe ja bei solchen Reisen immer Wanderschuhe und dicke Socken mit. Also tobte ich glücklich wie ein kleiner Hund über die gefrorenen Feuchtwiesen, der Graf hatschte mit den Stadtschuhen hinterher. Später dann schritt der Graf glücklich mit mir eine glänzend weiße Straße (Marathonläufer eben) entlang und ich eierte mit leisem „Meh, langweilig!“ nebenher.
Im Nebenort deckten wir uns mit wichtigen Lebensmitteln ein, als da wären Bier, Chips, Schmelzkäse – in Ermangelung von Würsten – und Schokolade. Es gibt übrigens Erdnußflips mit Karamellgeschmack. Ganz perverse Dinger.
Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns Gutes zu tun, zu stricken, Pixel zu schubsen, was man so macht. Das WLAN war im Zimmer ohnehin erbärmlich bis nicht vorhanden, am stärksten war es in der Wanne, wo der Graf dann auch so manche Stunde zubrachte. Den angekündigten Flachbildfernseher gab es gar nicht, aber den vermissten wir auch nicht.

Das Abendbrot waren dann tatsächlich ein Teller Piroggen aus dem Frost, Tee und eine kurze, nette Konversation mit dem Hausherrn, einem Mittdreißiger aus der IT-Branche, Sohn eines Poznaner Professors, wie uns Google verriet.

Den nächsten Tag, grau und trüb, verbrachten wir in unseren Räumen. Ich strickte meinen estnischen Spitzenschal zu Ende, der Graf arbeitete an einem eBook und so verging die Zeit viel zu schnell. Danach wieder Piroggen, die Gattin des Hausherrn war am zweiten Abend auch anwesend und ein Abend in der Badewanne, vom Vollmond durch das Dachfenster beschienen.
Kleiner Exkurs zu den guten alten Zeiten. Wir preisen die klare Luft auf dem Land. Aber der Berliner Stadtmief ist wohlriechend gegen die Wolke teerig-holzig-schwefligen Hausbrands, die über diesem kleinen Dörfchen hing.

Gestern mittag reisten wir ab und machten noch einen kurzen Abstecher nach Poznan. Das Wetter schwankte zwischen Schneeregen und scharfem kaltem Ostwind. Wir machten eine Runde durch die Altstadt. Um den Markt waren sehr teure Boutiquen und Antiquitätenläden mit Unmengen edler Dinge und schränkeweise Silberkannen, sie zeigten, dass man hier Geld und vor allem Repräsentationsbedürfnis hat.
Zwei Straßen weiter sah es schon anders aus. Die Läden schlossen um 14 Uhr und bald würden sie den Weg aller anderen Innenstadtgeschäfte gehen, die wir in polnischen Altstädten sahen Wer nicht in teuren Boutiquen kaufen kann, der fährt an den Stadtrand in die Einkaufszentren.
Um ein Hüngerchen zu stillen, landeten wir im Bistro La Cocotte. Von ein paar jungen Hipstern geführt, gibt es hier sehr gutes Essen.

Dann ging es zurück nach Berlin, mit Zwischenstopps in Slubice für Weißkäse, Würste, Piroggen, Bier und in Frankfurt (Oder) für Kaffee und Kuchen mit den Eltern.

Hier schreibt der Graf und hat jede Menge gute Fotos parat, von denen er  mir eines zur Verfügung stellte.

Aber für ein Fazit zurück nach Polen. Die gesellschaftlichen Schichten verändern sich, das sieht man von Jahr zu Jahr deutlicher. Der Kapitalismus hält Einzug, es bildet sich eine neue besitzende Oberschicht, auch die Mittelschicht baut sich Häuschen und kauft Autos.
In Poznan liegt die Arbeitslosenquote unter 3%. (Im Gegensatz zu den vollkommen abgehangenen ländlichen Gebieten mit einer Arbeitslosenquote von über 20%.) Überall stehen produzierende Betriebe, oft Ableger internationaler Konzerne.
Wer helle im Kopf, gut vernetzt ist und Wirtschafts-Subventionen zu nutzen weiß (denn altes, gewachsenes Kapital hat ja niemand), kann sich etwas schaffen. Das Haus, in dem wir waren, ist das beste Beispiel. Einst war es der Wohnort des polnischen Philosophen Graf August Cieszkowski, ein Mann, der alles an Projektionsfläche polnischer Identität in sich vereint: Katholizismus, polnischer Landadel (Szlachta), gesamteuropäische Kontakte.*
Mit knapp 1 Mio Euro Agrotourismusförderung und Regionalförderung von der EU wurde das baufällige Haus vollkommen entkernt und neu hergerichtet. Was in Booking als Hotel angeboten wird, ist auch eine großzügige Wohnung/Landhaus für die Besitzer, mit steuerlich absetzbarem Hauspersonal. (Das hatten wir im Sommer ein paar Kilometer weiter schon einmal erlebt.) Auch wenn der Hausherr sagte, er wohne nicht hier, es lief in den hinteren Räumen jeden Abend der Fernseher und er war immer da…
In 30 Jahren sind das die Kapitalbesitzer und in 50 Jahren werden ihre Kinder behaupten, das wäre schon immer so gewesen. Das scheint der Lauf der Welt.

 

* Es gibt nicht so viele. Polen war über viele Jahrhunderte ein imaginäres Land, ländlich wirtschaftende Adelsclans hatten einen hohen politischen Einfluss. Polen zerfällt für mich immer wieder in winzige Partikel, wenn ich es ansehen will. Geredet wird aber immer von einer riesigen monolithischen Macht durch die Jahrhunderte. Das ist ein sehr eigenes Phänomen.
(Nebenbei, ich stoße grade auf so wirre Websites.)

Miz Kitty reist mit dem Grafen – Zamecek Janovicky

Am Morgen unserer Abreise aus Breslau genossen wir noch einmal den tollen Kaffee, besorgten etwas mit Erinnerungswert („das ist doch aber deutsch“ meinte der, den wir um Erlaubnis fragten, es zu nehmen und wir meinten „klar, das soll ja auch deutsch sein“) und mussten am Stadtrand erst einmal das Auto durch die Waschanlage fahren. Wenn wir das Dach öffneten, flog sonst zu viel von der Staubschicht, die es bedeckte, hinein.
Es war Feiertag Mariae Himmelfahrt, für die Polen ein verlängertes Wochenende, das sie gern zum Feiern und Reisen nutzen und wir freuten uns, dass kein LKW auf der Straße war.
Auf dem Weg aus der Stadt heraus sahen wir ein neugebautes großes Werk am anderen. Sie sind alle da. Toshiba, LG, Procter & Gamble und viele, viele, mit deren Namen ich nichts verbinde.

Auf der Suche nach einem See

Wir hatten auf der Karte am Rand unserer Strecke einen größeren See entdeckt und wollten schauen, ob wir darin schwimmen können. Also verließen wir die Hauptstraße.
Wieder fuhren wir an einer großen, zugewucherten Ruine vorbei, ein verfallenes Herrenhaus, ein paar Kilometer weiter das nächste, beides barocke, klassizistisch umgestaltete Häuser. Kurz vor dem See, in Borzygniew kam die dritte Ruine, die anrührendste.
Ein hübsches Renaissance-Schlösschen mit einstmals bemalten Wänden, dessen Inschrift auf dem Schild über der Tür lautet:

1613 DURCH GOTTES GNADE UND SEGEN HAB ICH CHRISTOF VON MÜLHEIM UND DOMANTZ AUF BORGANY NEBEN MEINEM GELIEBTEN WEIBE FRAW BARBARA GEBORNE VON SEIDLITZEN AUS DEM HAUSE KEMMENDORF GEBAUET DIS HAUS NICHT AUS HOFFART SONDERN AUS NOTH DEM ES NUN NICHT GEFELT DER SCHATZ ES NICHT AUS SONDERN BAUE IHM EIN BEQUERMERS UND BESERS
GOTT BEWAHRE UND SEGNE DIESES HAUS UND ALLE DIE HIER GEHN EIN UND AUS

Den Dreißigjährigen Krieg hat es überstanden, die Artillerieangriffe 1945 nicht.
Der See war ein großer Stausee, angefüllt mit grüner Brühe und Müll, aus dem Schiffe den Grund herausbaggerten, also nix zum Schwimmen. Auf dem weiteren Weg fanden wir noch eine weitere Schlossruine, eine uralte Wasserburg.
suehnekreuz
An den Wegrändern sahen wir immer wieder Sühnekreuze, archaisch behauene Steinkreuze, die auf vergangene Verbrechen hinweisen.

Der Graf hat diese Ruinentour sehr schön dokumentiert.

Ab in die Berge

Durch den polnisch unaussprechlichen und -schreiblichen Ort Wałbrzych, deutsch Waldenburg fuhren wir, so fix es ging, denn derzeit werden gerade die Straßen erneuert. Das Steine-Tal wird nach oben immer enger und der Ort Mieroszów hat definitiv schon bessere Zeiten gesehen, aber steckt da in der Grenzecke fest.
Wir wechselten ins Tschechische, weil wir noch etwas in die Berge wollten und ich immer so von meinen Wintern in der Tschechei geschwärmt hatte und fuhren hinauf ins Eulengebirge, in den Ort Janovicky oder Johannisberg zu einem hübschen kleinen Berggasthof ganz oben.
Was uns noch nie auf unseren Reisen passiert war – wir saßen bedrippst im Zimmer, schauten uns noch mal ganz genau die Beschreibung auf Booking an und beschwerten uns dann. Das 20qm-Zimmer hatte maximal 16 und die Kategorie Deluxe bot zwei Sessel vor dem Bett, das wars. (Was wir nicht wussten – die Normalzimmer waren so klein, dass man grade noch so an der Wand vorbei ins Bett kam, aber auch die waren als größer beschrieben.) Die Chefin kam und schob erstmal alles auf die Kategorien von Booking. Jedenfalls gab sie uns nach einiger Diskussion (wir wollen darüber schreiben war dann das ausschlaggebende Argument) ein größeres Zimmer. Das große Turmzimmer, das auf allen Fotos zu sehen war, war belegt. Jetzt hatten wir ein Sofa, die für die Kategorie nötige (leere) Minibar und eine Nachttischlampe, was logisch war, denn es gab auch nur einen Nachttisch.
Das Essen war wirklich sehr gut gemachte tschechische Küche, aber Gourmet, wie im Flyer beschrieben, war es nicht. Ich habe überhaupt kein Problem mit einfachem Standard und wir hatten schon einige „als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet“-Locations gesehen. Aber das ganze Haus, das sichtlich gerade neu, mit Aufwand und vielen liebevollen Details renoviert war, litt unter ziemlichem Chaos. Im Treppenhaus zu den Gastzimmern standen kaputte Möbel und Stapel dreckiger Wäsche. Die Tischdecken waren verschmiert und krümelig, die zwei Bäder, die wir sahen, hatten in den Ecken und Rändern eine Korona von Schmutz und Kräusel-Haaren. Als wir morgens zum Frühstück kamen, war das Buffet fast leer, erst auf unsere sichtbare Körpersprache – wir standen einfach fassungslos davor – wurde nachgefüllt.
Irgendwas stimmte da nicht und wir konnten nur spekulieren, was. Als ich vor über 10 Jahren winters im Riesengebirge war, begannen die Tschechen ihre Hotels und Pensionen, die bis dahin noch 1a sozialistische Zusammenbruchs-Ausstattung hatten, zu renovieren und anderes Essen anzubieten – zu höheren Preisen versteht sich. Viele (deutsche) Leute, mit denen ich sprach, wollten das damals nicht, sie wollten es weiterhin gammelig-schlicht, aber extrem billig.
Das Zimmer war gemessen an der Ausstattung gar nicht mal so preiswert, aber das Essen kostete extrem wenig. Vielleicht steckt man auch dort in dieser Preis-Erwartungs-Schere, keine Ahnung.
Hier schreibt der Graf darüber und hat Fotos dazu.

Wir machten am Vormittag im Regen einen kleinen Gang den Berg hinauf und dann wurde, als der Regen aufgehört hatte, daraus ein immer längerer. Ich fand noch ein paar Nachzügler-Walderdbeeren, es gab Blaubeeren, Himbeeren und die ersten süßen Brombeeren. Himmlisch. Irgendwann mussten wir zurück. Wir waren einer Strecke nachgegangen, die für einen am Morgen stattfindenden Bergcrosslauf markiert war. Allerdings hatten wir keine Ahnung, wie lang die Strecke war. Wir waren schon fast 8 km gegangen und der Graf riet dringend dazu, ins Tal abzusteigen. Das waren auch noch mal viele Kilometer, insgesamt mögen es wohl 15 gewesen sein. Dann standen wir unten an der Landstraße und Gott sei Dank rief uns jemand im nächsten Haus ein Taxi und das kam auch und fuhr uns ziemlich lange zum Hotel zurück.
Hier der Artikel und die Fotos des Grafen (der Mann hat derzeit schwere Schreibanfälle).

Felsenstadt Adrspach

Am nächsten Morgen ging es mit vielen kleinen Schleifen und Mäandern in Richtung Berlin zurück.
Wir machten in Adrspach halt, einem Stück Gebirge, das schöne, fast weiße Sandstein-Tafelberge hat. Aus Zeitgründen besichtigten wir nur die Felsenstadt, die Region um einen gefluteten Steinbruch, das kostet Eintritt, so wie scheinbar vor allen Zugängen dort ein Kassenhäuschen steht. Drölfzigtausend Laute walzten mit uns über die Wege. Für mich hatte das nicht sooo den Attraktionenwert, wir waren als Kinder fast jedes Jahr im Elbsandsteingebirge wandern und der Großvater steht im Gipfelbuch der Barbarine.
… Beim letzten Besuch der Schrammsteine hatte ich den Aufstieg so getimt, dass sich morgens der Nebel über der Elbe hebt, das Panorama bewundert werden kann und man wieder weg ist, wenn die Vollhonks mit ihren Wanderstöcken von Tchibo in Rudeln kommen. – Auf meiner Merkliste steht nun eine kleine Reise mit dem Grafen dorthin.

Weiter ins Riesengebirge und dann ins Isergebirge

Wir machten einen kurzen Abstecher auf die böhmische Seite des Riesengebirges. Ich zeigte dem Grafen Benecko, wo ich einige Winterurlaube verbracht hatte und wir kehrten in der Hancova Bouda ein, wo ich vor 10 Jahren ein nettes Weihnachten allein feierte. Das Haus ist noch immer sehr schön, rustikal, mit Seele und einer guten Küche.
Der Graf hatte Freude am Bergstrassenfahren und so kurbelte er uns über kleine Straßen durchs Isergebirge, bis hinunter nach Liberec, das sich endlos in die Täler erstreckt. Gut 80 Einzelsiedlungen umfasst die Stadt und wir fuhren das Tal der Schwarzen Neiße hinunter, an dem hinter jeder Straßenwindung eine (nun leerstehende) Fabrik mit dazugehörigem Schornstein und Besitzervilla stand. Liest man nach, so ist der Glanz dieses dicht besiedelten Industriegebietes schon vor fast 100 Jahren verblasst, denn nach dem 1. Weltkrieg brachen die Absatzmärkte der böhmischen Textilindustrie zusammen.

Richtung Heimat

Mit Einbruch der Dunkelheit kamen wir in Görlitz an. Wir hatten es sogar vorher noch geschafft, uns in einem polnischen Supermarkt, mit Grundnahrungsmitteln – Bier, Chips, Schokolade – und Waschmittel einzudecken. Nennt mich blöde, aber mir ist das Markenwaschmittel mit der weißen Frau in Deutschland zu teuer und ich komme mit der Dosierung des Konzentrats nicht zurecht.
Ab Görlitz fuhren wir auf geleckten, perfekten Landstraßen nach Norden bis zur Autobahn, ständig überholt von ungeduldig rasenden Autofahrern. Deutschland hatte uns wieder.
Und der Text des Grafen.

Was mir der Urlaub ein weiteres Mal gezeigt hat – was Geschichte ist. Wir sind ständig über europäische Vergangenheit gestolpert. Über Zeiten von Völkerkoexistenz, Wirtschaftsblüte und Verfall, Königsschach mit Bauern, Krieg und Exodus. Es war zu sehen, wie sich Gebiete verändern, wenn das gesellschaftliche Ordungsprinzip Clan von dem der Nation abgelöst wird, wie sie sich nun wieder unter der Globalisierung wandeln. Und – die Zeugen der goldenen Zeiten sind zwar lange sichtbar, aber sie waren oft sehr kurz, die Zeiten von Umschwung und Veränderung um so länger.

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Miz Kitty reist mit dem Grafen – Sleepwalker in Breslau

Schildbergs Schildbürger

Wir fuhren zu einer christlichen Zeit in Antonin los, es ist sehr entspannend, dass man in polnischen Hotels erst um 12 Uhr auschecken muss. Wie immer fuhren wir lieber über kleine Landstraßen, statt uns ins Lastergedrängel einzureihen.
In Ostrzeszów, deutsch Schildberg, machten wir Station, weil der Graf dringend einen Kaffee brauchte, bei dem man nicht den Grund der Tasse sehen konnte. Ein nettes Städtchen, in dem sich rund um den Marktplatz gut 20 Schuh- und Kleidungsgeschäfte sammelten, ein Anblick, den man so gar nicht mehr gewöhnt ist. Ich schaute vor allem in die Schuhgeschäfte, weil ich auf der ewigen Suche nach einem schönen, hellen Sommerschuh bin. Aber das, was meine Füße noch aushalten, ist hier im Promillebereich vorrätig und leider hässlich, beige-betongrau und trägt ein Sanitätskreuz im Label.
Beim Schlendern trafen wir einen alten Herren, der uns über die Segnung des Viehs mit Hilfe von St. Rochus im hübschen Städtchen Mikstat erzählte, durch das wir am Vortag schon gefahren waren. Der nächste alte Herr, den wir trafen, als wir an der Burgruine eine Ausstellung alter Ansichtskarten ansahen (typisch deutsche Postkarten übrigens: „Schildberg – Postamt, Bahnhof, Bürgermeisteramt, Gericht“), gab launig zum besten, dass die Polizei in der Volksrepublik mangels Ersatz noch mit einem Stadtplan unterwegs war, in dem die zentrale Straße Adolf-Hitler-Straße hieß.
Das wäre ein würdiger Drehort für eine Serie im Stil von Milos Formans Feuerwehrball.
Und hier schreibt der Graf dazu.

Auch ein Niemandsland

Später sahen wir von der Straße aus die Ruine eines großen Gebäudes. Neugierig fuhren wir hin, es handelte sich um eine Kirchenruine. Ruinen von Kirchen und Bethäusern gibt es in Schlesien häufig, denn nur in preußischen Zeiten war man hier evangelisch.
Aber frühgotische Backsteinmauern und im Schmuck romanisch, das ist reiner Historismus und für eine einfache verkommene evangelische Kirche nicht alt genug, die sind meist aus dem 18. Jahrhundert (1902, sagte die Jahreszahl am Portal), außerdem waren wir noch in Großpolen, nicht in Schlesien.
Prinz-Wilhelm-Gedächtniskirche
„TROYEZ BIRON CONSTANT DANS L’INFORTUNE“
Im Innern lagen sogar noch Reste von Parkett, der Bau war auch noch nicht von Bäumen bewachsen und das Dach des Turms schien erst kürzlich eingestürzt. Diese Website gibt Auskunft. Ein deutscher Adliger, Prinz Gustav Biron von Kurland hat diese Kirche an der Stelle errichten lassen, an der sein Sohn tödlich vom Pferd stürzte. Die Kirche war noch gar nicht lange fertig, als sie zunächst durch die Grenzziehung aus dem Versailler Vertrag vom Ort ihrer Gemeinde abgetrennt wurde und scheinbar lange unbenutzt(?) und verschlossen blieb, bis sie 1945 geöffnet und nach und nach ausgeräumt wurde.
Constant dans l’infortune. Ja.
Der Graf schreibt hier dazu und hat viele Fotos.

Breslauer Hauptverkehrsstraßen und ein feines kleines Hotel

Kennste eine von diesen Städten, kennste alle, möchte man angesichts quer durch die Stadt gefräster sechs- bis achtspuriger Magistralen sagen. Ob Köln, Leipzig oder Breslau. Unsere Unterkunft lag an einer dieser Straßen, die den Verkehr an dieser Seite des Blocks nur in einer Richtung vorbeileitete, also kreiselten wir zweimal, bis wir den Ausstieg fanden. Denn zu allem Überfluss reiht sich hier Baustelle an Baustelle, unter Verschluss von Nebenstraßen. Ich erinnerte mich wieder an meine These Ostdeutschland minus 20 Jahre – Mitte der Neunziger (btw. bemerkenswerter Tumblr!) wurden in Berlin Mitte auch die Lücken mit großen Bauten geschlossen.
Unsere Unterkunft, das Sleepwalker Boutique Suites, steckte mitten drin. Vor dem Haus Verkehr und nur ein schmaler Fußweg, hinter dem Haus entsteht gerade der halbe Block neu. Abgesehen davon, dass immer mal das Haus wackelte und das Auto auf dem Parkplatz eine fette Staubschicht davontrug, war davon drinnen nichts zu merken. Das Haus ist wie ein kleiner Kokon. Der Graf hatte uns ein blau-weißes Ein-Schlafzimmer-Appartement herausgesucht und ich hätte, wenn da nicht eine interessante Stadt gelockt hätte, sehr wahrscheinlich die zwei Tage dort drin verbracht.
Sleepwalker BreslauGut gestaltet, gemütlich und gerade mit der richtigen Menge Plüsch und Chichi, um als Gast wie eine zarte Praline wertvoll verpackt zu sein. Das mag ich.

Die Stadt rief dann aber doch. Am Abend der Ankunft machten wir erstmal eine klassische Touri-Aktion und gingen auf dem Marktplatz polnisch/schlesisch/wasauchimmer essen. Ich hatte Schweinsbraten mit Backpflaumen gefüllt, die Meerrettichsoße war zwar mal zu heiß geworden und nicht mehr scharf, dafür war der Galizische Mohnkuchen hinterher ein Gedicht.
Der Graf hatte vom Klo eine Handvoll Veranstaltungsprospekte mitgebracht. Ein gut Teil war erst in den nächsten Wochen, aber die Sonderausstellung mit flämischer Malerei im Königsschloß wollte ich mir dringend anschauen.
Das ist ohnehin Kitty-Sightseening: In die örtliche historische Gemäldegalerie gehen oder im Hotelzimmer einigeln und manchmal schauen, was einem sonst noch über den Weg läuft. Ich bin nicht soziophob. Ü-ber-haupt-nicht!
So beschlossen wir am nächsten Morgen, der mit einem liebevoll aufgebauten Frühstück begann (und vor allem mit einer Koffeinmenge, die wir in der ganzen Woche vorher nicht hatten), am Nachmittag getrennt zu marschieren. Der Graf mit der Kamera im Anschlag durch die Stadt und ich gradewegs ins Museum. Ok. ich machte zwischendurch dreimal Station in einer Kirche, aber das war immer nur der übliche Barock von der Stange…
Im übrigen erinnerte ich mich daran, dass ich bereits als Kind mal auf dem Marktplatz war. Mit einer Kollektiv-Busreise des VEB Halbleiterwerk. Das eindrucksvollste war eine alte, dicke Marktfrau mit Warzen im Gesicht, die dasaß wie eine Barlach-Figur und ein Wollkopftuch umhatte und um dieses Kopftuch kroch eine riesige Kreuzspinne.

Landkarten statt Breughel

Die Dame im Königsschloss lachte herzlich, als ich ihr den Prospekt zeigte und nach der Ausstellung fragte. Der wäre vom vorigen Jahr und wenn ich alle anderen Ausstellungen sehen wolle, müsste ich mich beeilen, das Museum schließe in anderthalb Stunden. Also hoppelte ich durch die Sonderausstellung, die Landkarten Schlesiens und Panoramen Breslaus von Vierzehnhundertquetsch bis Achtzenhnhundertquetsch zeigten. Hätte ich einen Blick für Details, könnte ich würdigen, wie verschiedene Landkartenmaler die Ur-Karten, die aus Messungen resultieren, miteinander vermischt haben.
Die Ansichtskarten, von denen oben im ersten Abschnitt die Rede war, sind ein Schatten der Stadtpanoramen der vorhergehenden Jahrhunderte, in denen Städte ihre Macht demonstrierten, indem Befestigungen und Sakral- und Herrschaftsarchitektur vorgezeigt wurden. Im fünfzehnten Jahrhundert können solche Panoramen wie ein Wald potent gereckter Kirchtürme aussehen.
Mich interessierten eher die Details am Rande.
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Die anderen Räume hatte ich schnell durchwandert. Was mir angenehm auffiel, dass die Historie nicht patriotischen Gesichtspunkten untergeordnet war. Es passiert in Polen ganz schnell mal, dass einem jeder größere Stein als Beleg für das ewige, immer existente großpolnische Reich verkauft wird, vor allem in lange deutschen Gebieten, irgendwann reagiert man da nur noch mit „Ja. Nee. Isklar.“ darauf. Der Saal „Breslauer Eliten“ stellt die Völker, die Breslau ausmachten, weitgehend gleichberechtigt nebeneinander.
Hier fand ich auch ein schönes Zitat von Karl von Holtei, das sich aufschreiende Menschen zu Herzen nehmen sollten:
„…seyd einig! Trachtet nicht nur, die Ketten, die euch andere geschmiedet haben, abzuwerfen! Zerbrecht auch die eignen, inneren Fesseln. Tödtet den Neid, die Selbstsucht, die Sklaverei. Nur freien Herzen will Gott die Freiheit senden.“
Word.
Der Saal über die 70er und 80er rührte mich sehr. Tadeusz Różewicz lebte hier bis vor ein paar Monaten. Als aufgeklärter, kulturell interessierter DDR-Bürger kam man an ihm nicht vorbei. Theater. Rockmusik. (Wenn sie sich als Jazz verkleidete, war sie möglich.)
plakat
Dieses Plakat hing in meiner Kindheit und Jugend in den Wohnungen derer, die anders waren. Für jemanden aus dem Westen ist es schnöde Pop Art, für Leute aus dem Osten die Verheißung, dass es noch ein anderes Leben als das politisch korrekte gibt.
Gleiches gilt für Czeslaw Niemen. (Achtung Gedankensprung, der kommt nicht aus Breslau.)  Für jemanden, der die Musik noch nie zuvor gehört hat, ist das wahrscheinlich epigonaler Poprock. Für mich und viele andere Gänsehaut.
https://www.youtube.com/watch?v=IJmg5_ROsJE

Die grüne Fee, nein erst Feniks

Vor der grünen Fee kam ein Besuch ein Kaufhaus Feniks, einst das Warenhaus der Gebrüder Barasch. Auch so ein großes Haus sieht aus wie alle anderen schönen alten Warenhäuser im Lande: Die Abteilungen werden von Einzelhändlern betrieben oder aber sind in Einzelverkaufsstände aufgeteilt. Die Existenzkrise der Warenhäuser hat große westeuropäische Konzerne daran gehindert, Kaufhäuser in ersten Lagen zu eröffnen. Was man hier sieht, ist ein kleines Fenster zur Ostblockatmosphäre von früher und jede Menge einheimischer Waren. Ich gehe ohnehin gern im Ausland in unmoderne Haushaltswarenläden, weil ich dann sehe, wie die Menschen leben. Das ist das kulturell Konservativste und Globalisierungsresistenteste, was man sehen kann, schon weil das Sortiment oft Jahrzehnte alt ist. Für reichlich zwanzig Euro kaufte ich einen grau emaillierten Teekessel und eine gläserne Puddingform. Die klassische gläserne Zitronenpresse kostet hier übrigens immer noch einen Euro, bei Manufactum ein vielfaches.

Bald fand sich auch der Graf wieder ein und wir saßen in einer der zahlreichen Hipster-Kneipen in der Altstadt und ich trank Bubbletea für Erwachsene – Aperol Spritz mit Blaubeeren.
Bubbletea für Erwachsene
Dann zogen wir weiter auf der Suche nach etwas zu essen. Unsere Twitter-Umfrage brachte keine Tipps, aus zwei Läden gingen wir wieder raus, weil zu laut, zu kalt, zu studentisch schrappelig und landeten im La Fee Verte, einem französischen Restaurant, in dem ich im Schwung der französisch-polnischen Speisekarte versuchte, auf Französisch zu bestellen. Das verstand aber niemand, auf Englisch klappte es aber prima. (Ick werd uff meene alten Tage noch polyglott.)
Es gab weiche Sessel, leckeres Essen, feinen Wein und hinterher noch Creme Brulee, im Hintergrund lief gute Musik, Herz, was willst du mehr.
Um Mitternacht liefen wir quer durch die Altstadt nach Hause, es hatte sich sehr abgekühlt, wir fielen ins Bett und ich wurde nur einmal kurz aus dem Tiefschlaf wach, als man auf der Baustelle alle Lichter anschaltete, um einen Schwerlasttransport zu empfangen.

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Mit Kitty reist mit dem Grafen – Jagdschloß Antonin

Zwischenstopp in Kalisch

Am letzten Morgen in Srodka begann es zu regnen und kühlte sich ab, wir fuhren los in Richtung Süden und hielten in der Stadt Kalisz. Übrigens der Heimat der Mutter von Charming Liisa. Wir waren letztes Jahr schon einmal dort und ich erinnere mich an Kälte, Regen und allgemeine Tristesse. Auch dieses Jahr regnete es wieder und wir parkten in derselben Straße, bei der ich letztes Jahr Angst hatte, dass dort in einer halben Stunde das Auto ausgeräumt ist. Diesmal warteten wir, bis ein Auto mit komischen jungen Männern weg war und sahen, dass alle Gebäude der Straße Überwachungskameras hatten, also ein guter Platz zum Parken.
Der ausgestorbene Marktplatz hatte sich etwas erholt. Es gibt wieder wie überall die Einzelhandelsgeschäfte, aus denen die Polin von Welt ihre schicken Outfits bezieht. Überhaupt sahen wir, als wir im Café saßen, Frauen jedes Alters und jeder Figur schick zurechtgemacht und gepflegt vorbeilaufen. Nur manchmal und in einigen Gegenden fällt auf, dass die Frauen meiner Generation sehr fertig aussehen. Kein Wunder, die 80er und 90er waren eine sehr harte Zeit hier, wenig zu essen, knappe Versorgungslage, schlechte Wohnbedingungen und politische Wirren mit Internierungen. Manchmal muss man sich bewusst machen, um wie viel besser es wir Ostdeutschen hatten. (Wir haben einen Preis dafür gezahlt, unbenommen, denn was ich hier in Polen nicht sehe, sind sozialer Hospitalismus und verdruckste Leute.)
Wir schlenderten noch etwas durch die Stadt und entdeckten einen Stoffladen, die Preise sind auf Maybachufermarkt-Level und es gab gute Seide zum Preis von 8-11 Euro das Meter. Nun ist der Graf momentan Gott sei Dank auch Stoff-Addicted und wir gingen mit einem guten Paket dort raus.

Waldidyll in Antonin

Dann fuhren wir unter Vermeidung der stark frequentierten Landstraßen weiter über die Dörfer und kamen am frühen Abend in Antonin an. Im vorigen Jahr hatten wir ja Pech, da war das Schloß eingerüstet und wurde renoviert, aber diesmal bekamen wir ein Zimmer.
Der Bau ist wirklich außergewöhnlich und etwas verrückt, wie vieles, was Schinkel mal eben aufgemalt hat. In der Mitte des Blockholzbaus steht ein achtseitiger, vier Stockwerke hoher Turm mit innen umlaufenden Galerien, wie ein Gasometer, nur dass in der Mitte ein schornsteinartiger Kachelofen eingebaut ist, der ist wiederum mit Hirschtrophäen verziert (so in der Art,

jetzt weiß ich, wo der Art Director das her hatte). Das Erdgeschoß ist der Speisesaal. An vier gegenüberliegenden Seiten sind an den Turm drei Stock übereinander gestapelte Blockhütten angebaut, die Gästezimmer, die über die Galerien betreten werden können. Das Gebäude war in Vollholz ausgeführt, aber ich hatte letztes Jahr den Eindruck, da ist nicht mehr viel Original dran, denn unter der für die Renovierungsarbeiten abgenommenen Holzverschalung sah ich Steine. Zumindest war unser Zimmer im 3. Stock sehr authentisch schief.
So schön es ist, in so einem Kleinod zu logieren, der Brückenschlag zwischen Museum, Kulturerbe und mit kommunalen Angestellten bewirtschafteten kleinem Hotel und Restaurant bringt Kompromisse mit sich. Nach dem Frühstück, das eher so sehr meh war und dem Kaffee, von dem ich hätte eine ganze dieser Riesenkannen trinken müssen, um auf mein normales Koffeinlevel zu kommen, saßen wir noch etwas auf den unteren Sofas, denn nur hier gab es WLAN (das heißt, WLAN gab es im ganzen Haus, denn bis in die oberen Stockwerke gab es winzige Büros, das war nur nicht zugänglich für die Gäste). Als wir da so saßen, kippte man eine ganze Busladung beiger Rentner über uns aus, die uns wahrscheinlich gleich als Homo Sapiens digitalicus var. apple mit besichtigten. Das ist nun mal so, aber die Location ist nicht groß, das wird ordentlich eng. Für die Besichtiger war das ok., die setzten sich auch zu fünft auf eine Bank und unterhielten sich, obwohl zwei Meter daneben links und rechts eine weitere Bank stand. Ich floh in den Park, der noch regenkühl und feucht war und erwischte sogar hinter dem Teich einen Streifen WLAN, bis mich die elefantengroßen Mücken entdeckten. Später saß ich strickend auf einer Bank in der Sonne und zwei kleine Mädchen schauten mir gebannt zu. Die Mutter und ihre deutsch sprechende Freundin fragten mich aus, was ich mache, die Mädchen hätten sich nicht zu fragen getraut – und so machte ich mitten in Polen Werbung für den Me Made Mittwoch und erfuhr, dass auch hierzulande der Handarbeits- und Werkunterricht abgeschafft sind.

Sprung zurück in die Kindheit

Am Nachmittag bekämpfte ich meinen inneren Schweinehund und wechselte mit dem Grafen auf die andere Straßenseite, um im angrenzenden See zu schwimmen. Was wir im Wasser erlebten, das wird ein extra Thema in der Freistilstaffel mit dem Titel „Das Unbekannte unter dir“ (verlinke ich, wenn es fertig ist). Hier nur kurz: Der Graf lernte im dritten Beziehungsjahr eine ganz neue, vollkommen emotionale Seite an mir kennen, die sich vor allem in der ständigen nachdrücklichen Aussprache der Worte „Ist. Das. EKLIG!“ und „Ich will sofort zurück!“ manifestierte.
Ein Seeufer war mit einem Bungalowdorf im alten Stil bebaut, dem man eine EU-finanzierte Steganlage spendiert hatte, dazu kamen die üblichen bunten Plastiktretboote. Wie alle alten und etwas aufgehübschten Urlaubslocations, die wir bei unserer Fahrt sahen, war auch diese fast leer. Wer Geld verdient, fährt wahrscheinlich ins Ausland und nicht an die Orte seiner Kindheit. Ich stelle immer wieder fest, Polen ist wie Ostdeutschland -20 Jahre, da versuchte man in McPomm auch mit etwas Fassadenkosmetik und neuen Preisen Business zu machen.
Die Bungalows schickten mich in meine Kindheit zurück. Ein grün veralgter See an einer Landstraße, eine von Trinkern belagerte der Verkaufsstelle in man trockene Kekse und – so lange der Vorrat reichte – Bier, Limonade und Bockwurst mit trocken Graubrot von muffigen Verkäuferinnen gereicht bekam. Diese winzigen Hüttchen im Kiefernwald, der sich bei Regen in eine Schlammwüste verwandelte, vollgestellt mit wackelnden Betten und wenig mehr. Das Gegröle der besoffenen Nachbarn. Mensch ärger dich nicht bei Regen (und es regnete oft). Die stinkenden, dreckigen Plumpsklos und die Waschräume und Dusche die nur abends warm war, ein paar hundert Meter entfernt. Das kannte ich von Rügen, dem Feldberger Land, aus Charkow, Sotschi, irgendwo in Rumänien und der Slovakei. Da schüttelt es mich heute noch. Dann lieber mit dem Zelt auf der Kraxe trampen.

Diner im Kühlen

Am Abend aßen wir sehr guten Kaninchenbraten und am Nebentisch fand ein deutsch-polnisches Business-Essen statt, mit viel Wodka natürlich. Irgendwann fiel die Frage: „Warum tut ihr euch so schwer, mit uns Geschäfte zu machen?“ und die Antwort war: „Wollen wir ja, ihr habt unheimlich viel erfahrene Leute. Aber ihr seid nicht genau. In eurem Vorschlag war ein Posten, der hatte eine Toleranz von einem Meter. Das geht nicht!“ Ich erfuhr leider nicht, um was für ein Geschäft es sich handelte und ob die Toleranz von einem Meter nun Korinthenzählerei oder relevant war. Der deutsche Verhandler sah komischerweise nicht genau aus, mit seinem semigebildeten Rumhänghabitus und dem nach hinten gedrehten Basecap, der polnische um so mehr, das war eine korrekter, studierter Betriebsleiter. Ich glaube, wenn erstmal durchgedrungen ist, dass der Meter Toleranz wichtig ist, kann sich Deutschland warm anziehen. -20 Jahre, die Konkurrenz muss nur etwas aufholen.
Wir saßen später drinnen, draußen rauschte der dichte dunkle Wald und ich beglückwünschte mich dazu, dass ich spontan beim Packen nach dem tibetischen Yakwollplaid gegriffen hatte, das ich sonst nie brauche, so war mir wunderbar warm.

Am nächsten Tag würde es vom Land in die Stadt gehen, aber das ist eine neue Geschichte.
Den Post des Grafen, wie immer mit wunderbaren Fotos, da kann ich nicht gegen an, kann man hier und hierlesen.

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