Vereinbarkeit – Alles auf einmal, geht das?

Triggerwarung: Ich meine mal wieder rum. Ich bin keine Soziologin, keine Politologin. Ich habe Augen im Kopf und ein Hirn und kann graben, wo ich stehe. Deshalb sind die Dinge, die ich aufschreibe, wie immer sehr subjektiv.

Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Geht gar nicht, sagen die einen. Natürlich geht das, habt euch nicht so, sagen die anderen, wer will findet Wege.

Ich bin bei diesem Thema tief gespalten, darüber hatte ich hier und da auch schon geschrieben.

Zum einen verstand ich die westdeutschen Frauenbiografien nicht. Was ist so attraktiv daran, sich in einer Wohnung oder einem Haus festzuzuzeln, als Mittelpunkt des Universums 1-2 Kinder und einen Mann zu haben, knappes Geld zu verwalten und immer nur über Kinder, Kochen und von Dritten gehörtes zu reden? Ausbildung? Ja, da war mal was, aber das diente nur dazu, mal rauszukommen, um jemanden kennenzulernen und ein Fallback zu haben, falls man niemanden abkriegt wird alles überschrieben, wenn er endlich da ist und der normale Lebensplan beginnt. (Das ist jetzt etwas polemisch formuliert, aber ich habe das zu meiner großen Befremdung genauso ansehen können. Ein halbes Germanistikstudium mit Ziel Lehramt, dann Ehe und Aufgabe aller eigenen Lebenspläne, von da ab ist das größte Thema, was man ihm kocht, wenn er mittags nach Hause kommt. Frauen, die genauso alt waren wie ich, Anfang der 90er.)

Die ostdeutschen Frauenbiografien sah ich aber genauso kritisch. Als ich das Abitur hatte, wollte ich auf gar keinen Fall eine dieser todmüden, abgearbeiteten Frauen werden, die zwar große berufliche Aufgaben übernehmen konnten, wenn sie nur wollten, aber immer nur hinterher rannten. Selbst die Chefärztin hatte abends den Haushalt und die Kinderbetreuung zu erledigen.
Auch wenn die Kinderbetreuung tagsüber sehr gut war – wer gab sein Kind wirklich gern morgens um 6 in der Krippe ab und hoffte, dass es nicht im Laufe des Tages Fieber bekommt und abgeholt werden musste (von der Mutter selbstverständlich), um es nach 6 Uhr abends erst wieder zu sehen?
Es war ja nicht nur die Familienarbeit selbst. Es war die Energie und Hirnkapazität, die in Verantwortung, Organisation, Planung und Aufmerksamkeit ging. Ist genug Milch im Haus? Ist die Wurst noch gut? Was stelle ich auf den Tisch, damit alle davon essen? Gibt es gerade etwas, für das es sich anzustellen lohnt? Der Staubsauger ist schon wieder kaputt und muss zur Reparatur-Annahmestelle drei Straßenbahnstationen vom Haus entfernt gebracht werden. Bügeln, Wäsche schleudern, irgendwann zum Friseur, für den frau sich aus dem Betrieb schleicht. Von schönen Kleidern träumen, die immer nur die anderen kaufen, weil sie die Zeit haben, sich mitten am Tag in der Jugendmode anzustellen.

Die Männer lebten ihr Männerleben. Taten beruflich sehr wichtige Dinge. (Oft die selben, wie die Frauen. Aber eben wichtig!) Kamen und gingen, wann sie wollten, waren niemand Rechenschaft pflichtig. Besorgen gespundete Bretter und Betonbohrer. Wussten, wo es Zement gab und wie man den Trabbi noch mal zum Laufen bekam, obwohl der Keilriemen ständig riss. Gingen auf Dienstreisen, hingen noch einen Tag Freizeit irgendwo ran und warfen nach der Rückkehr ihre Schmutzwäsche ab. Brüllten mal kurz rum, weil die Wohnung dreckig und unaufgeräumt war. Kontrollierten die Schulhefte der Kinder. Sagten der Frau, dass da was passieren müsse, das ginge so nicht. Erwarteten Begehren und Sex und keine ungekämmte, verschwitzte Mutti in der Kittelschürze, die um 9 Uhr ins Bett fällt und einschläft.

Das war oft von beiden Seiten aus anders gedacht und geplant. Aber für den Rückfall in die alten Rollen reichte es, als Mann in Sachen Kinder und Haushalt ein wenig ungebildet, desinteressiert, aber proaktiv zu sein.
Keine Zeit für den eigenen Putzanteil haben (wichtige Dinge!). Mit dem Kind, das Bronchitis hat, im kalten März mit dem Fahrrad durch die halbe Stadt zum Kinderarzt zu fahren (das muss Rad fahren lernen!) und für die anschließende Lungenentzündung bleibt die Frau zu Hause. Komisches Essen (Aber das ist leckere Würfelbrühe!) auf den Tisch stellen, wenn die Frau auf Dienstreise ist. Alle Wäsche in die Maschine schmeißen (das geht doch ganz schnell!) und das 60 Grad-Programm anstellen.
Was tut frau mit solchen Heldentaten? Ausrasten? Dann macht sie in Zukunft alles allein und ist noch die blöde Zicke. Erziehen? Dann hat sie noch ein zusätzliches Kind. Das Gespräch suchen? Wann bitte?
Außerdem kann sie das Auto nicht reparieren, vor der Schlagbohrmaschine hat sie Angst und die ganze Organisation rund um Handwerkliches ist ihr ein Rätsel. Und überhaupt wofür? Um noch mehr tun zu müssen?

(Fun Fact: Männer, die ganz selbstverständlich ihre Wäsche machten, bügelten, einkauften und kochten lernte ich erst nach der Wende kennen. Der ostdeutsche Normalo-Mann hatte bis auf Aufenthalte in Kasernen, Studenten- und Ledigenwohnheimen nie allein gelebt und wechselte von den Eltern zur Ehefrau.)

Ich hatte in der DDR panische Angst, in diese Doppellast-Falle zu laufen. Ich wollte Filme machen oder Theaterstücke inszenieren. Dafür hätte ich aber entweder mein Kind vernachlässigen oder aber Zeitkonto und Rückzugsmöglichkeiten eines Mannes haben müssen.
(Vernachlässigen heißt in diesem Fall, nicht unbedingt, im Kindergarten abgeben. Ein heute sehr bekannter Theaterregisseur war plötzlich alleinerziehender Vater. Der Deal mit der Mutter war von Anfang an: Du willst das Kind, du übernimmst es, wenn wir uns trennen sollten. Die Frau hat das durchgezogen. Er suchte fortan händeringend nach einer neuen Partnerin, die die Sorge um das Kind übernimmt und ernährte derweil eine Zweijährige ausschließlich von Vanillepudding, legte sie um 18:30 Uhr ins Bett, schloss die Tür zu und ging bis 23 Uhr zur Abendprobe.)
Ich hatte das große Glück, nach dem Fall der Mauer auf einen Mann zu treffen, dem Arbeiten nicht so wichtig war, der finanziell auf Karriere nicht angewiesen war und mit Kindern sehr gut konnte. Aber selbst in dieser Situation habe ich mich vorzeitig kaputtgearbeitet. Es war zu viel. (Kann man aber auch als individuelle Konditionierungs- oder Organisationsschwäche betrachten. Besseres Zeitmanagement, andere Prioritäten, was auch immer…)

Ich hatte noch andere Vorbilder, auch wenn ich ahnte und wußte, dass ich so ein Leben nicht würde leben können. Die Großmutter hatte nie (erwerbs-)gearbeitet, hatte Lyzeumsbildung und mit 17 geheiratet. Sie konnte einen großen Haushalt und wichtiges Gesellschaftsleben organisieren und war die starke Frau hinter einem erfolgreichen Mann. (Das war nicht so nicht abzusehen, aber es kam so.)
Die Mutter der Jugendliebe war eine etwas anstrengende, aber wunderschöne Frau mit künstlerischen Ambitionen, die dafür sorgte, dass die genormte Plattenbau-Wohnung schick eingerichtet und sauber war und dass es ihrem Mann und den Kindern gut ging, dass es gutes, gesundes Essen gab, die richtige Literatur im Regal stand und alle gut angezogen waren. Der Deal war: Er konzentrierte sich aufs Geld verdienen, sie musste nicht irgendwo als technische Zeichnerin am Brett stehen, sondern konnte malen und Mode entwerfen, wenn die Hausarbeit erledigt war.
Ich sah sehr genau hin. Das war nicht nur eine Frage des Geldes.
Bei uns wurden Unmengen an verdorbenen Lebensmitteln und schlecht gepflegten Klamotten weggeworfen, es gab teure Fehlkäufe und die stressige Situation für alle Beteiligten verleitete zu Kompensation an anderer Stelle.

Für schlecht ausgebildete Frauen in einfachen Berufen konnte das Teilzeit- und Hausfrau-Konzept auch in der DDR ganz gut funktionierten, wenn der Mann regelmäßig arbeiten ging. Für gut ausgebildete Frauen lohnte es sich nicht, weil sie genauso viel oder oft sogar mehr Geld als ihr Mann verdienten. Das gab wenig Anreiz, plötzlich nur noch zu Hause zu bleiben. Trotzdem war die Situation unbefriedigend, weil – trotz niedrigerer Produktivität und weniger anstrengender Arbeit als heute – die Frauen am Abend und Wochenende ihre zweite Schicht leisteten.

Edit: Der Mann war in der DDR nicht mehr der Familienpatriarch. Aber warum sollte er seine Komfortzone verlassen und sich neben Arbeiten und Handwerken nun noch den Haushalt zu einem Teil anhängen?
Mein Eheratgeber aus dem Jahr 1968 aus dem Verlag für die Frau hat ein Kapitel zu Vereinbarkeit. Der große Tenor ist: Es ist alles eine Frage der Organisation, auch Männer können Hausarbeit lernen, die Frau braucht die Freiheit, sich im Beruf zu verwirklichen und der Haushalt und die Kindererziehung können auch tiefer gehängt und an andere Strukturen delegiert werden. – Argumente, wie sie auch heute aktuell sind
Das Buch ist der Hinsicht sehr weit vorn, aber theoretisch. Andere Publikationen zeigen die klassische Rollenverteilung. Der Mann „hilft mit“.

Im übrigen gab es in Zeiten der politischen Wende in der DDR eine Bewegung aus jungen Familien, denen wichtig war, dass sie sich ihr familiäres Lebenskonzept allein aussuchten. Die Selbstverständlichkeit „Mann und Frau gehen arbeiten, die Kinder werden fremdbetreut“ erschien ihnen kritikwürdig. Das war zum Teil bedingt, weil diese – oft religiösen Menschen – keine ideologische Einflussnahme auf die Kinder wünschten, aber ihnen war auch der Gedanke zuwider, dass alle Familienmitglieder in einem entfremdeten Apparat verschwanden – die Eltern in ihren Betrieben und die Kinder in der Fremdbetreuung – und sich der familiäre Kontakt auf das Wochenende und kurze Abende beschränkte.

Ich verfalle jetzt nicht in „früher war alles besser“. Handwerker- und Bauernfamilien, deren Arbeit in die Großfamilie integriert war, waren bei weitem nicht so produktiv und nur selten auskömmlich wohlhabend. Entfremdete Erwerbsarbeit und Spezialisierung ermöglichten die hohe Produktivität der modernen Industriegesellschaft und damit den heutigen gesellschaftlichen Wohlstand.
Aber ich habe den Eindruck, dass dieser Effekt in Europa weitgehend ausgereizt ist. Wir profitieren heute zusätzlich von der Ausbeutung von Menschen in ärmeren Ländern. (Nur so können wir uns leisten, Menschen, die die hohen Ansprüche an Erwerbsarbeit hierzulande nicht (mehr) erfüllen können oder die gerade nicht benötigt werden, ohne Arbeit zu lassen und knapp zu alimentieren. Bei Hartz IV ist die Ausbeutung in Ländern wie Bangladesh und China Bestandteil der Kalkulation.)

Die Freistellung der Frauen von der Erwerbsarbeit war lange Zeit Ausdruck von individuellem und gesellschaftlichen Wohlstand. Eine Menge Bestandteile unserer Kultur zeugen noch davon – Gesetze, die die Hausfrauenehe stützen und das populäre Bild der „guten Mutter“ wie auch des „Erfolgsmannes“.
Das hat sich überlebt, weil Potentiale brachliegen. Arbeitskräfte mit Potential (Bildung, Verhalten, Konditionierung, Sprachbeherrschung) für Arbeit in modernen Industriegesellschaften sind angesichts niedriger Geburtenraten scheinbar knapp.
Dass Frauen arbeiten gehen, ist also nicht nur im Interesse ihrer Selbstverwirklichung. Diese Gesellschaft kann sich nicht mehr leisten, Frauen teuer gut auszubilden und dann als Arbeitskraft zu verlieren. Als in Leistungsfähigkeit und Verhalten dem Mann gleichwertige Arbeitskraft wohlgemerkt, denn die Arbeitswelt, wie wir sie kennen, ist männlich codiert. Sie erfordert lange Abwesenheit von der Familie, Fokussierung auf die Sache und flexible Verfügbarkeit und hat kaum Platz für Menschen, die im Zweitjob nach Feierabend noch als Hausfrau und Mutter arbeiten.
Das klingt alles ganz fürchterlich. Als wären wir eine Armee, die zur Rekrutierung für die Arbeitswelt bereit steht. Aber unsere Kultur ist dominiert durch entfremdete Erwerbsarbeit und Konsum durch Kaufen. Dann ist das halt so.
(Das Argument „das Geld eines Alleinverdieners reicht nicht mehr für eine Familie“ würde ich hingegen nicht unbedingt akzeptieren. Unsere Großelterngeneration war wesentlich anspruchsloser und sparsamer. Wer in der Großstadt wohnen und einen schichtenadäquaten Lebensstil führen will, kommt halt mit dem Geld einer Verdienerin nicht mehr aus.)

Es gibt eine ganze Menge Ansätze, das Problem zu lösen:

  1. Verzicht auf Kinder, Konzentration auf Leistung und Karriere. Damit wird der Mangel an optimalen Arbeitskräften aber auf die nächste Generation verschoben.
  2. Delegierung des Problems an das Individuum: Frauen und Männer sollen sich über die Verteilung der Familienarbeit einigen. Das führt zu verbaler Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre und ändert das auf männliche Bedürfnisse und Potentiale eingerichtete Arbeitsleben nicht.
  3. Vergesellschaftung familiärer Strukturen. Die Gesellschaft schafft Organisationen, um den Anteil der Familienarbeit zu verringern, wie Kindergärten, Ganztagsschulen, praktische, leicht zu pflegende Wohnungen, der Haushalt wird aufgelöst, Arbeiten wie Essen kochen und Hausarbeit werden genormt, optimiert und nach außen delegiert. Das ist das Modell der (kommunistischen) Moderne und funktioniert in individualisierten Gesellschaften schlecht.
  4. Das Konzept Dienstpersonal wird neu aufgelegt. Die sonst kostenlose Familien-Arbeit erledigen bezahlte Helfer, deren Qualifikation ihnen keine Chancen bei moderner Industriearbeit ermöglicht, deren Kenntnisse in Familienarbeit aber wertvoll sind. Diese Kosten werden steuerlich berücksichtigt. Das ist in Europa derzeit nicht bezahlbar, organisierbar und ich denke, auch nicht politisch gewollt.
  5. Ältere, aber nicht zu alte Familienmitglieder übernehmen die Familienarbeit. Das wäre die Rückkehr der Großfamilie. Das funktioniert im ländlichen Raum, in Bayern und Baden-Württemberg recht gut. Für Städter, die zudem örtlich flexibel sein müssen, ist es schwierig.
  6. Alles wie gehabt, aber ohne Geschlechterfixierung. Der für die Erwerbsarbeit erfolgversprechendste Partner geht arbeiten und erwirtschaftet so viel, dass der andere Partner  für die Familienarbeit freigestellt werden kann. Bleibt das Problem, den unbezahlt arbeitenden Partner ausreichend finanziell abzusichern, auch über den Bestand der Partnerschaft hinaus. – Oder ihn einfach für die Arbeit zu bezahlen.
  7. Beide Partner arbeiten Teilzeit. Dafür müsste sich die Arbeitswelt enorm ändern, die in großen Bereichen so organisiert ist, dass Arbeitnehmer mental und körperlich 100%ig zu Verfügung stehen muss, wenn dies nötig ist.
    Bis hin zu Umzügen und Ortswechseln der Arbeit hinterher, die dann auch beide machen müssen. Ich habe starke Zweifel, dass sich der Aufwand wirklich lohnt. Das mag in Ausnahmen funktionieren, in der Masse könnte das schwierig werden.

Was meiner Meinung nach überhaupt nicht geht: Dass ein Mensch in einer Partnerschaft ganz entspannt sein Tun hat, während der andere fast zusammenbricht oder sich kaputtarbeitet. Oder beide sich kaputt arbeiten, weil sie die gesamte Organisation nicht hinbekommen.
Das Ergebnis der Versuche von Vereinbarkeit von Kindern und Familie sehen wir ja nicht sofort. Es kann sein, dass die Gesellschaft entspannter wird, weil eh keiner mehr den Nerv hat, über Gebühr Arbeitsleistung zu erbringen. Kann auch sein, wir versacken irgendwo in Mittelmaß und Chaos. Oder es hängt eine ganze Generation ausgebrannt und fertig 10 Jahre vor der Rente zu Hause, weil man doch nicht alles haben konnte.

Ich weiß es nicht. (edit: Die meisten Veränderungen passieren aus Not oder Komfortgewinn, nicht aus „man müßte mal“. Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist aus Sicht der Partner gerade beides nicht unmittelbar gegeben. Es gibt nur die mittelbare Not, dass Frauen beruflich weit abgeschlagen und finanziell verelendet sind, wenn die Ehe zerbricht. Aber das ist komischerweise selten öffentliches Argument. Über die Reform des Ehegattenunterhaltes von 2008 wird selten gesprochen. Die Zahlen sprechen für sich, 39% der Alleinerziehenden bekommen Hartz IV.)

Edit: Ich habe so einen Text schon einmal geschrieben, merke ich, vor einem Jahr beschäftigte mich das schon mal. Textlich etwas pointierter, aber in den Schlußfolgerungen nicht so detailliert.

Veröffentlicht unter Exkurs

Rites de Passage

Die Kaltmamsell fragte, warum Bloggerinnen, obwohl sie im richtigen Alter sind, nicht über die Wechseljahre schreiben.

Ich habe darüber nie geschrieben, weil ich den Wechseljahren in meinem Leben nicht viel Raum und Bedeutung gegeben habe. Wie ich aber im folgenden Text merke, war das ein tief einscheidender Lebensblock, dem ich teilweise nur einen anderen Namen gab.

Aber erstmal ein Intro:

Wir leben in einer Gesellschaft, die so lange wie möglich jugendlich bleiben will. Die das auch kann, weil die Jugend konsequenzenlos ausgedehnt werden kann.
In früheren Zeiten konnten erst Erwachsene verantwortlich an der Gestaltung der Gesellschaft teilnehmen. Erwachsen sein hieß, Sex haben dürfen und dessen Konsequenzen tragen – verheiratet sein, Kinder haben, die Familie ernähren. Wenn Sex keine unbeeinflussbaren Konsequenzen mehr hat, ist Familie und ihr ganzer organisatorischer Überbau eine private Entscheidung.

Auf privater sozialer Seite verbleiben viele Menschen in einem Status zwischen Jungendlichem und Erwachsenem nach alter Definition, obwohl sie bei der Arbeit hochgradig erwachsen und verantwortlich handeln müssen.
Wie kann sich eine Frau in so einer Umgebung damit auseinander setzen, dass sie merklich und sichtlich in die Wechseljahre kommt? In einer Gesellschaft, die verkündet „du kannst alles, wenn du dir nur Mühe gibst, hart arbeitest und es richtig willst“, ist ein Vorgang, der nicht umzukehren und auch nur marginal zu beeinflussen ist, kein attraktives Thema.

Denn mit den Wechseljahren ist eine Frau offiziell alt, sagt zumindest die Überlieferung. Wir wollen heute die Freiheit haben, uns so jung betragen, wie wir uns fühlen. Kinder bekommen mit über 40, mit 50 noch mal richtig wild durchstarten. Arbeiten und Leben wie Männer sowieso.

Unsere Körper sagen etwas anderes und wir respektieren das meiner Meinung nach viel zu wenig. Der Körper einer Frau hat eine ziemlich klar beschränkte und nur mittels schwerer Eingriffe veränderbare Fruchtbarkeitsphase, die unsere Existenz rhythmisiert und an ihrem Ende wendet.
Wir haben in der Fruchtbarkeitsphase nicht nur einen großen bogenhaften Biorhythmus, wir haben einen Zyklus, wir bluten jeden Monat oder werden schwanger. Wir lösen, wo auch immer wir sind, diesen kurzen männlichen „I nteressant für Paarung?“- Reflex aus. Ein Teil von uns ist immer verletzlich und in Reserve, denn innerhalb von drei Wochen könnte unser Leben durch ein Kind über lange Jahre anders verlaufen. Und mit Ende 40 ist diese Phase vorbei.

Ich habe diese Seite der Weiblicheit, als ich jünger war, vehement abgelehnt. Mein Frauenkörper, der diese Reaktionen von Männern auslöste, konnte von mir wie eine Waffe benutzt werden. Aber im tiefen Inneren wäre ich, breithüftig und weichhäutig wie ich außen war, lieber ein Mann gewesen. Ich habe mich lange als Hirn und Seele eines Mannes im Körper einer Frau gesehen.
(Keine der modernen Transgenderschicksalsspielchen. Ich habe es abgelehnt, eine Frau zu sein, mehr nicht. Wie wahrscheinlich viele heute auch, die an sich herumdoktern lassen, um ein Mann zu werden.)

Die erste Begegnung mit dem Thema Wechseljahre hatte ich mit 37. Da sagte mir meine Internistin, es wäre so weit, ich würde alt und meine Müdigkeit, Erschöpfung und Lustlosigkeit wären der Beginn der Wechseljahre, ich solle mich schon mal dran gewöhnen. Ich verließ heulend die Arztpraxis.
Das klärte sich mit anderen Ärzten im Verlauf eines Jahres. Ich hatte Hashimoto, eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse und männerfaustgroßes Myom im Muskelgewebe der Gebärmutter. (Die Ersatzhandlung des Körpers für nicht geborene Kinder, sage ich mir immer.) Ein heftiger Energiesauger.
Nachdem ich Jod wegließ und die Schilddrüse weitere Hormonhilfe von außen bekam, wurde es besser und als ich mit 40 dann das Myom mitsamt der Gebärmutter wegoperieren lassen musste (weil es sich plötzlich explosionsartig vermehrte und entzündete, bis das Organ wie ein Kartoffelsack aussah), kam ich in eine Lebenszeit, die ich als meine Amazonenphase bezeichnete.

Ich hätte nicht so lange warten sollen. Immer, wenn mein Gynäkologe mich darauf hinwies, dass das Myom besser raus sollte, weil es immer weiter wachsen und sich ggf. auch in etwas Bösartiges verwandeln würde, winkte ich ab. Jetzt noch nicht. Ich hatte über Frauen mit Total-OP, wie es damals fälschlich hieß, denn eigentlich werden bei dieser auch die Eierstöcke entfernt, aus allen Lagern Horror-Meldungen gehört.
Der Arzt meiner Mutter und Großmutter empfahl es allen Frauen ab 40, denn ein funktionsloses Organ, das zu Krebs neigt, müsse besser raus. Mit Sex sei dann sehr wahrscheinlich Schluss, das ginge nur noch unter Schmerzen, hieß es auch hinter vorgehaltener Hand. (Was viele Frauen auch begrüßten, endlich ist Schluss mit dem Schweinkram, den frau eh nur für die Männer macht.) Ein feministisches Beratungszentrum waberte argumentativ herum, dass Frauen nach so einer OP ihre innere Mitte und das Gleichgewicht verlieren würden und nicht mehr auf einem Bein stehen könnten. Als ich eine Beratungsstunde buchte und konkreter nachfragte, hatte man nur wenig Ahnung, aber viel Meinung, nämlich das solche Kastration eine männliche Attacke auf die Weiblichkeit sei.
Dann sagte mir eine ältere Kollegin: „Hab keine Angst. Bei mir war es das Beste, was mir passieren konnte.“ Sie hatte sich von diesem schmerzenden, wilde Blutungen erzeugenden Organ und der Verhütung befreit gefühlt und ihre zwei Söhne hatte sie schon mit Mitte Zwanzig bekommen.
Das half mir weiter.

Fun Fact: Als ich auf die OP wartete, begann ich zu bloggen. Alles, was ich in den letzten 12 Jahren schrieb, schrieb ich als Frau, die keine Kinder mehr bekommen konnte. Edit: Noch ein Fun Fact. Mein Blog sollte eigentlich Rites de Passage heißen, aber die url gab es nicht mehr. Das erste Blog hieß deshalb Durchgangsverkehr. Ich fühlte mich auf dem Weg zu etwas anderem, ohne das an den Wechseljahren festzumachen.

Als ich mich ein paar Monate nach der OP wieder berappelt hatte (das wäre einfacher gewesen, wenn ich nicht so viel gearbeitet hätte und nebenher noch ein Umzug anstand), verabschiedete ich jeden der unzähligen Tampons, den ich auch noch Jahre hinterher in diversen Taschen fand, mit fettem Grinsen. Mal abgesehen von häufigen Träumen über Babies und Schwangerschaften in den ersten Wochen, fühlte ich mich gut und weniger verletzbar. Es war vorbei. Der Gang tief ins Innere meines Körpers – eine Vagina ist ein Delta, kein Fjord, es hört ja nach der Gebärmutter nicht auf, danach kommen die Tuben und die sind offen in Richtung Eierstöcke und Bauchraum – war nun eine Sackgasse. Die Gezeiten von Blut und Säften waren eingedämmt.
Ich musste nicht mehr über Verhütung nachdenken und bemerkte den Zyklus nur noch an meiner Verfassung. Wenn ich das hohe C problemlos bekam und junge Männer beschnurrte, hatte ich einen Eisprung. Es gab immer mal Blutschatten, weil ich mich für die den Muttermund erhaltende OP entschieden hatte und das wars.
Ich mochte diesen Zustand sehr. Ich ging damit vor Männern aber nicht hausieren. „Dich hamse ausgenommen, du bist ja jetzt keine Frau mehr.“, war der naiv-ehrlich Satz eines, der aussprach, was wahrscheinlich einige Männer in meiner Umgebung dachten.
Es war meine Freiheit, meine Unverletzbarkeit, die ging niemanden etwas an.

Eine Nebenwirkung der Gebärmutterentfernung war, dass die Wechseljahre etwas eher und auch unmerklicher einsetzen. Der langsam endende Zyklus ist nicht offenkundig zu bemerken.
Mit der Sicht auf die letzten sieben Jahre glaube ich, dass ich viele Erscheinungen der Wechseljahre für Krankheitssymptome meines Burnouts gehalten habe. Oder besser, es war nie so recht zu trennen.
Ich habe über ein Jahr lang jede Nacht das Kissen naßgeschwitzt und dachte, das wären Nebenwirkungen von Medikamenten, die ich nahm. Ich war niedergeschlagen, ängstlich-panisch, müde, wenig belastbar, vergesslich und oft ziemlich matschig im Kopf – was hat das verursacht?
Ein Burnout als die Krankheit der Helden der Arbeit klingt im Heute gesellschaftsfähiger als der Fall einer Frau ins unattraktive Alter.
In der psychosomatischen Klinik, in der ich 3 Monate war, galten klimakterische Frauen als Normalfall. Nach einer heftigen Blüte in den 40ern kommt zum Ende des Lebensjahrzehnts die Krise und die hat eben häufig drastische psychosomatische Auswirkungen, das war dort der Tenor.

Einiges habe ich tatsächlich als völlig neu empfunden. Ich wurde wütend, konsequent und kompromißarm, die mentale Weichheit, die übergroße Antennen für andere hat und sich selbst zurückstellt, wurde geringer. Die Lust veränderte sich, wurde auch konsequent, kompromißarm und geradeaus. Das gefiel mir wesentlich besser als diese innere Programmierung „ich bin Gefäß, du weißt, was du von mir willst“, die mich in der Zeit als junge Frau beherrschte.
Ich glaube, eine gewisse Grund-Aggressivität geht tatsächlich auf das Konto des veränderten Hormonmix.
Ein anderer Teil an Verhaltensänderung wird sicher ausgelöst, weil sich das Spiel zwischen Männern und Frauen ändert. Wer ständig belagert wird, kommt gar nicht zum Agieren, sondern kann nur Reagieren. Nicht mehr unterschwellig in der sexuellen Aufmerksamkeit vieler Männer zu stehen, hat mich sehr entlastet.

Die Hitzewallungen sind ein eindeutig den Wechseljahren zuzuordnendes Symptom. Während meine Großmutter sich alle halbe Stunde entnervt das Gesicht abtrocknen musste und deshalb bald auf Make up verzichtete, habe ich nur das Gefühl, da schaltet jemand in Höhe des Nabels einen großen Brenner an und ich muss sofort meine Jacke abwerfen, weil es mich einmal richtig durchheizt. Während ich von der Pubertät bis Mitte 30 bei jeder Gelegenheit fürchterlich gefroren habe – Bettsocken ab September, drei Schritte auf kaltem Fliesenboden gaben eine Blasenentzündung – ist mir jetzt immer gut warm und ich mag das.
Ach ja und Brüste. Üppige Brüste. Auch nicht schlecht.

Die Hormonersatztherapie war in meiner Umgebung nie Thema. Ich habe es zu Anfang mal mit Mönchspfeffer etc. versucht, aber wenn ich nicht daran glaube, vergesse ich meist, das ich da etwas einnehmen sollte. Die Pille hat mir nur Probleme gebracht, Depressionen oder leicht manische Anwandlungen (je nach Präparat), Lustlosigkeit, Gewichtszunahme, da wollte ich nicht noch in den Jahren, in denen ich sowieso Achterbahn fuhr, noch an dieser Seite des Hormon-Mobiles herumspielen.

In diesem Lebensjahr bin ich wohl so langsam mit den Wechseljahren durch. Mein Kopf ist klarer, ich bin wieder belastbarer, nun auf eine zähe, langsame Art. Ich habe mein Verhalten, wie es scheint, endlich der neuen Existenz angepasst.

Bestimmte Dinge sind nicht schick, aber sind halt so. Dieser präsente Bauch, der einem wächst, zum Beispiel, während die Beine schlanker werden. Und erzähle mir keiner, da müsse man nur diszipliniert weniger Kalorien aufnehmen als man verbraucht und dazu ordentlich Krafttraining machen. A…lecken! Das habe ich mit Anfang 40 auch noch geglaubt.
Wenn dein Stoffwechsel Achterbahn fährt, hast du zu den unmöglichsten Zeiten Heißhunger und da du ständig müde bist, verbrennst du kaum etwas. Krafttraining? Mit welcher Kraft? Die braucht dein Körper, um die erlahmende Fruchtbarkeit in Gang zu halten – mit Nebenwirkungen wie Östrogenüberproduktion, Zysten und Myomen. Bis dann ruhigeres Fahrwasser kommt und dann kann man ja mal schauen, was geht.

In der guten alten Zeit waren die Wechseljahre für Frauen der Moment, wo sie kürzer treten konnten. Oft mit viel Drama. Ich hörte öfter, dass es die eine oder andere Oma oder Tante gab, die sich dann einfach dauerhaft ins Bett legte und erklärte, sie sei jetzt schwer krank und die anderen könnten allein weitermachen.
In der guten alten Zeit waren die meisten Frauen aber auch von vielen Schwangerschaften und harter Haus-, Garten- und Hofarbeit ausgepowert. Viele erlebten das Ende ihrer Fruchtbarkeit gar nicht mehr, weil sie vorher im Kindbett starben.

Im Zeitalter der möglichst restlos vermarktbaren Arbeitskraft, flexiblen Bindungen (damit der Partner-Konkurrenz der Frauen untereinander auch noch im mittleren Alter) und demonstrativen, willenskraftgesteuerten Jugendlichkeit ist diese kräftezehrende Phase schwierig zu bewältigen. Darüber zu reden, hieße ja, zuzugeben, dass man aus dem Club der Turnschuhträger aussteigt.
Meist kommen die Wechseljahre zusammen mit gerade schulpflichtigen/pubertierenden Kindern und dem Wiedereinstieg in die Arbeit oder mit Veränderungen im Job – das Arbeitsfeld ist durchgespielt oder der Sprung auf die nächsthöhere Karriere-Stufe steht an.
Was tun, wenn der Run um den Geschäftsführerposten ansteht, frau vielleicht nun auch die nötigen Eier dafür hat, es mit der männlichen Konkurrenz aufzunehmen, aber am liebsten ganze Tage schlafen will und alles vergisst? (Ich habe übrigens öfter darüber nachgedacht, wie Angela Merkel das geschafft hat.)

Wer vorher auf dem Ticket Aufmerksamkeit durch Schönheit und Weiblichkeit gereist ist, bekommt meist ernste Probleme, die sich zu tiefen Identitätsproblemen auswachsen können. Die reflexartige Aufmerksamkeit und Wertschätzung fällt weg. Wer das nicht durchschaut hat und die Attraktion zum Kern seines Selbst gemacht hat, fällt ins Leere. (Ich habe jahrelang mit Schauspielerinnen gearbeitet, ich weiß, wovon ich rede.)

Da Ehen nicht mehr für die Ewigkeit geschlossen sind und ggf. erduldet werden müssen, fangen nicht wenige Männer ein neues Leben mit einer jüngeren Frau an (neben exzessivem Fahrrad fahren in engen Spandexklamotten etc.) und gehen in die zweite Brutphase.
Männer kamen später in die Pubertät und ihr Fall ins Alter kommt meist mit dem Ende des Arbeitslebens. Frauen haben 8-10 Jahre Vorsprung und in vielen Partnerschaften gibt es darum Zoff und Desillusionen. – Klassiker: Mann in der Midlifecrisis wirft Frau vor, mit ihr sei nix mehr los.

In auf Familienverbänden aufbauenden Gesellschaften haben die älteren, nicht mehr gebärenden Frauen große Macht in der (weitläufigen) häuslichen Sphäre. Sie haben sich mit Söhnen bewiesen und können nun ihren Schwiegertöchtern Anweisungen geben, die für sie arbeiten. Der Mann ist meist in aushäusigen Geschäften unterwegs oder bei seiner Geliebten, die er schon wegen seines Status haben sollte und stört nicht.
Witwen verfügen allein über ihr Vermögen (so es eines gibt) und sind über dessen Verwendung keinem männlichen Familienmitglied Rechenschaft pflichtig, außerdem dürfen sie in aller Diskretion auch Liebhaber haben.

In der modernen Industriegesellschaft steht die klimakterische Frau zwischen allen Stühlen. Das emotional-körperliche Drama fängt die Krankenkasse auf, nicht die Familie. Frau muss funktionieren, wie alle anderen um sie herum auch. Ich sehe kaum ein normales Rollen-Vorbild für die Zeit nach den Wechseljahren. Das ist entweder die verrückte, schrille Alte mit den Tarotkarten im Anschlag oder das verblühende Wesen mit der praktischen Kurzhaarfrisur und dem Dauerabo auf Katzenwaisen. (ja, das sind Klischees, ich weiß)
Christine Lagarde wäre es für mich vielleicht, überhaupt die ganze Damenfraktion. Aber wo werden im heutigen Deutschland Damen gebraucht?

Vor einer ganzen Weile sagte mir eine Freundin, ich würde mich mit Lust zu alt machen. Es kamen noch andere Rückmeldungen von anderen: zu wild, zu weite Röcke, zu ungebändigte Haare… Ok., das war wohl der Ausschlag in Richtung Schrille Alte ohne Tarotkarten. Und Ende letzten Jahres sah ich älter aus als heute, weil durch zu viel Arbeit völlig fertig. Das hat sich ja Gott sei Dank geändert. Schauen wir mal, wo es hingeht.

Ich hatte auch den Grafen zum Thema Frauen und Wechseljahre befragt, weil er ein guter Beobachter ist. Er meinte, es wäre interessant zu sehen, wie Frauen mit der Herausforderung Altern (für jemand Außenstehenden sind die Wechseljahre Altern, nichts anderes) fertig werden.
Dass manche über diese Phase fast unmerklich hinweg rutschen und gut altern, andere verlieren viel von ihrem Wesen und ihrer Ausstrahlung und gewinnen nichts hinzu. Dass man es Frauen, die ohnehin unter großer Belastung stehen, ansieht dass diese Phase extrem anstrengend ist.

Er sagte, Frauen würden so unterschiedlichen altern, wie es Lebenskonzepte und -schicksale gibt.

Veröffentlicht unter Exkurs

Meine Nähmaschine – Bernina Aurora 450

Marja Katz sammelt Erfahrungsberichte über die technische Ausstattung der Nähnerds. Bei ihr wird in einem Linkup eine Sammlung ausführlicher Erfahrungsberichte zu Nähmaschinen entstehen, um Kaufentscheidungen zu unterstützen. Hier ist meiner.

Anschaffung und Folgekosten

  • Welches Modell hast Du, welchen Preis hatte Deine Nähmaschine und wann hast Du sie gekauft?
    Eine Bernina Aurora 450 zum Preis von ca. 1.500 €, ein heruntergesetztes Auslaufmodell, das wir 2012 gekauft haben. Die Bernina Aurora ist nun ausverkauft, ein noch neu erhältliche Maschine mit ähnlichem und modernerem Funktionsumfang wäre die Bernina B530*.
    Ich hätte mir diese Nähmaschine nicht leisten können, der Mann und Oma Charlotte selig waren die Sponsoren.
    Bernina Aurora 450
  • Findest Du das Preis-Leistungs-Verhältnis angemessen?
    Ja.
  • Welche Eigenschaften waren für Dich ausschlaggebend für die Kaufentscheidung?
    – Die Maschine hat ein Innengerüst aus Metall, das verhindert Instabilität bei schnellem Nähen.
    – Langsames Annähen mit dem Fußpedal bis hin zum Einzelstich.
    – Gutes Stichbild in Gradstichen auch auf der Rückseite.
    – Die Fähigkeit, dünne Stoffe unfallfrei zu nähen (wichtig!) wie auch vor mehrlagigem Denim nicht zu kapitulieren (nicht so wichtig).
    -Guter Transport und ausreichend großer Durchlass für Quilts.
    -Gute Beleuchtung.
    -Wenig anfällige, noch nicht bewährte Elektronik-Experimente.
    -Zum Zeitpunkt des Kaufs wollte ich unbedingt Zierstiche, da wir nun auch das Stickkit haben, gebrauche ich die selten.
    Ich habe damals hier, hier und hier über meine Suche gebloggt und dabei auch meine Tests anderer Maschinen im Nähmaschinenladen kutz beschrieben.
  • Wieviel Zubehör wird mitgeliefert und wie teuer ist ein eventuelles Nachrüsten von Zubehör, z.B. Nähfüßchen?
    Im an die Maschine anklickbaren Zubehör-Container waren die wichtigsten Nähfüßchen: Normal-, Schmalkant-, Reißverschluß-, Jersey-, Stopf-, Stick- und der automatische Knopflochfuß. Dazu das Übliche, Nadeln, 10 Spulchen, Öl, Pinsel, Schraubendreher und Anschlaglineale. Ach so und noch eine Freihandbedienung und der Anschiebetisch.
    Das Nachrüsten ist recht teuer. Die Kosten für Nähfüße beginnen bei 20€ aber es gibt wirklich jeden Sch…, auch das, was man als geübte Näherin nicht braucht.
    Wir haben Spulchen, einen transparenten Applikationsfuß für den Mann und für mich einen Quiltfuß mit vielen Nahtabständen hinzugekauft. (Neben dem Stickkit und dem Freiarmsticktool.)
  • Wieviel Zubehör gibt es insgesamt für Deine Nähmaschine, welches davon hast Du und welches davon nutzt Du am meisten? Welches möchtest Du unbedingt noch anschaffen?
    S.o., es gibt unglaublich viel Zubehör, bestimmt an die 50 Teile. Zudem die Möglichkeit zur Umrüstung zur Stickmaschine. Bei diesem Modell braucht es dazu noch einen externen Computer zur Maschinensteuerung, aber das kann jeder Windows-Laptop.
    Ich nutze neben dem normalen Fuß am meisten den Schmalkantfuß, weil die Maschine durch 9mm Stichbreite und entsprechendem Abstand der Transporteure freihändiges schmalkantiges Nähen ohne Verstellen der Nadelposition schwierig macht. Danach kommt der Quiltfuß, mit dem ebenfalls das „füßchenbreite“ Nähen unter 1 cm bequem möglich ist. Für das Freihandquilten benutze ich den Stopf- oder Quiltfuß sehr häufig.
    Ganz oben auf der Wunschliste steht der Stich-Regulator (BSR)*
    . Da ich oft in Mustern Freihand quilte, ist es sehr anstrengend, die Stichlänge per Hand immer fast gleich zu halten. Genau das macht der Stich-Regulator – je nach Geschwindigkeit der Bewegung des Stoffs unter dem Fuß reguliert er die Stichlänge. Leider ist er mit fast 500 € auch das teuerste Zubehörteil, dafür muss ich lange sparen.
    Ansonsten brauche ich demnächst einen Biesenfuß und der Mann liebäugelt mit einem Bandeinfasser.
  • War Deine Nähmaschine schon einmal kaputt? Kannst Du eine Aussage darüber machen, ob die Reparatur- oder Wartungskosten hoch sind (z.B. aufgrund aufwendiger Elektronik)?
    Nein, sie war noch nicht kaputt und ich erwarte einfach von dieser Marke auch wenig Reparatur- und Wartungsaufwand. Allerdings bin ich Maschinenflüsterin und überkorrekt beim Putzen und Ölen, das mache ich nach jedem größeren Projekt.
    Die Wartungskosten sind vermutlich hoch (ich weiß es nicht) und Gott sei Dank hat sie wenig Elektronik im Bauch.
  • Wo würdest Du Dein Modell einordnen (Holzklasse, Mittelklasse, Luxusklasse) und für wen würdest Du es empfehlen (Anfänger, Fortgeschrittene, Profi)
    Obere Mittelklasse, etwas für Anfänger, weil unverzickt, aber auch für Profis ehr gut. Profis brauchen in der Regel wenig Chichi, aber belastbares, präzises Arbeitsgerät.

Praktikabilität

  • Wie groß und wie schwer ist Deine Nähmaschine?
    Schwer, wegen des Metallgerippes im Inneren, 9,9 kg, relativ hoch wie alle Berninas und nicht sehr breit.
  • Kommt Deine Nähmaschine für einen Auf- und Abbau bei flexiblen Arbeitsplätzen in Frage oder ist sie eher für feste Arbeitsplätze geeignet?
    Sie lässt sich mit ein paar Handgriffen aufbauen, steht aber auch durch ihr Gewicht sicher und fest am Arbeitsplatz.
  • Wie aufwendig ist Abbau/Verpackung/Transport für gemeinsame Nähkränzchen?
    Schleppen möchte ich die Maschine nicht, aber solange es ein Auto gibt, in das man die in die Tasche verpackte Maschine stellen kann, ist der Transport kein Problem. Die Verpackung geht schnell, die Tasche hat eine große Öffnung und die Maschine einen robusten Tragehenkel.
  • Lässt sich die Nähmaschine gut reinigen oder kommst Du an einige Stellen gar nicht heran?
    Geht so, es gibt ein Loch hinter dem Greifer, in das Flusen hereinfallen und wo ich nicht herankomme, dort läuft aber keine Mechanik. Außerdem lässt sich der Greifer nicht auseinandernehmen, weil es ein Rundlaufgreifer ist, wie ihn Industriemaschinen haben.
    Mich macht es aber schon ein bisschen kirre, wenn ich das Innenleben einer Maschine nicht ohne großen Aufwand ansehen kann.
  • Wie ist die Helligkeit der Beleuchtung?
    Gut hell, ich hätte es aber gern noch heller. Da die Maschine recht hoch und kompakt ist, lässt sich das Nähfeld schlecht zusätzlich mit Fremdlichtquellen beleuchten.
  • Wie laut ist die Maschine?
    Wenn sie gut geölt ist, ist sie normal laut, auch wenn sie schnell läuft. Sie klingt metallisch und mechanisch, das Motorengeräusch ist nicht so laut wie bei anderen Maschinen (v.a. meinen alten). Muss sie geölt werden, fängt sie an zu klacken.
  • Ist die Maschine intuitiv bedienbar?
    Nur der mechanische Teil. Die elektronische Steuerung ist eindeutig in der Zeit vor dem iPhone und seiner intuitiven Bedienungsphilosophie entwickelt und hat die üblichen kruden Knopfdruck-Kombinationen, die kundenfernen Ingenieurshirnen entsprungen sind und die ich jedes Mal nachschlagen muß.
  • Kann man die Nähmaschine auch ohne Pedal bedienen?
    Ja, mit regulierbarer Geschwindigkeit.

Näheigenschaften

  • Welche Nähmaschine(n) hattest Du bisher? Wie schätzt Du Deine Maschine im Vergleich dazu ein?
    Eine Victoria mit Langschiffchen von 1915, dann elektrische: eine Veritas, eine Famula, eine einfache Privileg, eine einfache Singer, die nur noch den Namen trug und dann die Bernina Aurora 450.
    Die ist mit Abstand die Beste, obwohl die Veritas schon ziemlich gut war, da brannte mir nur der Motor ab.
  • Wie oft nähst Du? Was nähst Du hauptsächlich und findest Du Deine Nähmaschine dafür ungenügend, perfekt ausreichend oder etwas oversized?
    Wir nähen 2-3 mal wöchentlich, Kleidung, Heimdeko, Taschen, Etuis und große Quilts. Die Maschine ist dafür perfekt ausreichend.
  • Welches Feature fehlt Dir für Deine Näharbeiten und auf welches Vorhandene möchtest Du auf gar keinen Fall verzichten?
    Mir fehlt auf den ersten Blick nichts, aber vielleicht gibt es Sachen, von denen ich nicht weiß, dass ich sie brauche.
    Ach doch, eines: Ein automatischer Fadenabschneider, man wirft ja gut 20% des Garns weg und das Abschneiden raubt Zeit. Eine Unterfadenkontrolle brauche ich z.B. nicht, weil ich es höre, wenn der Unterfaden zur Neige geht.
    Ich möchte vor allem auf die unverzickte Präzision, Robustheit und Unkaputtbarkeit nicht mehr verzichten.
    Langfristig brauche ich noch eine Overlock, auch da bin ich leider Bernina-addicted, das wird teuer.
  • Hat Deine Nähmaschine Features, die Du für unsinnig hältst?
    Die Zierstiche, aber das war mir beim Kauf nicht klar. (Obwohl mir das viele gesagt hatten.) Damit verbunden die 9mm Stichbreite, denn die haben einige negative Konsequenzen.
  • Welche Knopflochfunktion(en) hat Deine Nähmaschine und bist Du damit zufrieden? Was könnte besser sein?
    Es gibt 8 verschiedene Knopflocharten, die nach Programmierung automatisch genäht werden. Auf flachen Stoffen sehen sie super aus.
    Da die Maschine empfindlich auf dicke Stellen im Stoff reagiert und Knopflöcher meist an Kanten mit dicken Stoffstellen sind, bin ich damit noch nicht so glücklich. Dafür gibt es noch einmal Sonderzubehör, das ich nicht habe.
  • Potentielle Problemzonen
    • Wie näht Deine Nähmaschine enge Rundungen?
      Geht so. Bei 9mm maximaler Stichbreite sind die Transporteure recht weit auseinander, das bedingt einen größeren Wenderadius. Ich nähe allerdings selten enge Rundungen. Für Applikationen würde ich das Stickkit benutzen.
    • Ist das Stichbild sauber, auch bei sehr dickem Nähgut oder sehr schnellem Nähen?
      Das Stichbild ist präzise, auch auf der Unterseite.
      Das ist eine Frage des angepassten Nähtempos, die Maschine ist (wahrscheinlich durch den Industriegreifer) bei höherem Tempo fast präziser. Nähe ich sehr schnell, habe ich das Gefühl, die Maschine könnte mechanisch gesehen noch höheres Tempo machen. Sie wirkt fast wie in der Geschwindigkeit abgeriegelt. (900 Stiche/Minute ist allerdings schon viel.)
      Zögerliches Nähen mit ständigem Geschwindigkeitswechsel mag sie gar nicht, da lässt sie Stiche aus und der Unterfaden eiert.
      Unterschiedlich hohes Nähgut unter dem Füßchen – also rechts dick, links dünn oder umgekehrt – ist sehr problematisch. Dafür gibt es Ausgleichsplättchen. Ich bin aber zu blöd, damit umzugehen bzw. müsste das erst einmal lernen. Meist habe ich schnell eine andere Lösung gefunden, das passiert nicht so oft.
    • Ist der Stofftransport gerade und gleichmäßig, auch wenn Du den Stoff nicht aktiv führst?
      Ja, ich kann glatte Stoffe eigentlich „freihändig“ nähen, das ist wiederum der Vorteil der weit auseinanderstehenden Transporteure.
    • Ist ein sauberes Nähen an Stoffkanten möglich, ohne dass sich die Naht oder der Stoff zusammenzieht? (Nahtanfänge, versäubern)
      Ja, auf jeden Fall, das war eines der Hauptargumente für die Maschine.
    • Werden elastische Stoffe problemlos genäht oder wellt der Stoff?
      Ich nähe selten Jersey oder Strick. In den Fällen, wo ich es getan habe, hat sich der Stoff gewellt und ist unter dem Füßchen verrutscht. Allerdings bin ich da nicht sehr erfahren und ich habe versucht, knappkantig zu nähen, was mit der Transporteurweite schwierig ist. Dafür steht die Anschaffung einer Overlockmaschine an.
    • Wie ist die Kontrolle über Nähgeschwindigkeit? Ist sehr schnelles oder sehr langsames Nähen (Stich für Stich) möglich?
      Ja, das ist möglich. Stichgenaues, sehr präzises Nähen erfordert ein wenig Übung und Kennenlernen und dann klappt es super. Ich mache das mit dem Fußpedal, es lässt sich aber auch über die einstellbare Nähgeschwindigkeit regeln.
    • Bei welchen Nähfragen kommst Du an die Grenzen Deiner Nähmaschine? Was funktioniert überhaupt nicht?
      Kleine, schmale, gebogene, fummelige oder einseitig wulstige Stücke mit Hilfe des Normalfußes mit einer Naht versehen. Filztierchen könnte ich damit nicht machen.

Wie ist Dein abschließendes Gesamturteil in Kurzform?Auf einer Skala von 1 bis 5 – wieviel Sterne würdest Du Deiner Nähmaschine geben und warum?

Sehr verlässliches, belastbares, präzises und gut aufrüstbares Arbeitstier. Da sie nicht mehr hergestellt wird, würde ich auch einen Gebrauchtkauf auf jeden Fall empfehlen.
Ich würde 4 Sterne geben. Es ist schon noch Luft nach oben, aber bei der Marke Bernina würde ich bleiben.

Die anderen Erfahrungsberichte stehen bei Maja Katz.

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Einmal rund um „Geschickt eingefädelt“

Nachdem ich mir 3 Folgen der deutschen Adaption von GBSB angeschaut habe, kann ich mir langsam eine Meinung bilden.

Vorangeschickt, es geht mir gar nicht darum, zu bewerten, wie gut oder nicht gut Kandidaten sind. So ein Cast ist so zusammengestellt, dass eine unterhaltsame Geschichte erzählt werden kann und auch beim britische Original wurden selbst vor der Kamera sichtbare Patzer von der Jury „übersehen“ wenn es noch eine Geschichte mit einem Kandidaten zu erzählen gab.
Was ein Sender wie Vox für unterhaltsam hält, das bestimmt die Vorstellung, die er von seiner Zielgruppe hat.

Bei einer ersten Staffel ist das immer ein Risiko. Die BBC hat beim Original in der ersten Staffel zunächst in eine so kleine (wahrscheinlich billige) Location investiert, dass sich die Kamera kaum bewegen konnte, nur 4 Folgen mit 9 Kandidaten (7 Frauen, 2 Männer) produziert und in den ersten Folgen mehrere Kandidaten nach Hause geschickt. Das ist in Deutschland anders, in Berlin findet sich problemlos ein geräumiges Loft, es treten 8 Kandidaten an, davon 3 Männer – erstaunlich, da Hobbynähen in Deutschland eine Frauendomäne* ist.

Die Ausstattung der Location finde ich sehr angenehm. Ich hatte befürchtet, in einem übel überniedlichten Interieur zu landen, ähnlich wie bei Das große Backen, das im Look unfallartig vom dezenten britischen Original abwich.

Die deutsche Jury ist ein wenig komplizierter zusammengestellt als die britische – dort moderiert mit Claudia Winkleman eine in Contest-Shows versierte und bekannte Fernsehjournalistin und ihr sind eine Maßschneiderin und ein Designer als Jury zur Seite gestellt.
In Deutschland moderiert Guido Maria Kretschmer, selbst Modedesigner und etabliert durch Formate wie Shopping Queen, gleichzeitig ist er Jury-Mitglied, ihm zur Seite stehen die Vorsitzende des Verbandes des Schneiderhandwerks und eine weitere Modegestalterin. Ein bisschen designlastig ist die Jury also.
Das wird allerdings dadurch ausgeglichen, dass die handwerkliche Jurorin Inge Szoltysik-Sparrer eine ungeheuer medienpräsente Persönlichkeit ist und klar und unverhandelbar ihre Ansprüche formuliert. Eine echte Entdeckung, ich liebe diese Frau!
Anke Müller als Design-Jurorin hält sich eher im Hintergrund und darf bestätigen oder Stichworte geben, denn das ist ganz eindeutig Kretschmers Show. (Ihr gewöhnungsbedürftiger Fifties-meets-Kinderzimmer-Look hat schon auf Twitter die Spekulation gebracht, sie verkörpere die klassische deutsche DIY-Frau.)

Die Kandidaten sind ein Querschnitt der deutschen Nähszene. Also fast. Es gibt zwei Leute, die aus der recht großen und jungen Cosplayszene kommen. Eine Frau, die schon zu DDR-Zeiten genäht hat, eine junge Frau, die ganz korrekt nach Schnittmustern arbeitet und zwei Nähbloggerinnen. Dazu noch zwei junge Männer, die im weitesten Sinne mit Mode bereits Geld verdienen bzw. eine Ausbildung in der Branche gemacht haben – einer hat ein kleines Label für Vintage-Kleider, der andere Modemanagement studiert und ein Taschen-Label.
Scheinbar gibt es in Deutschland kaum nähende Männer mit genügend Zeit und deshalb sind zwei männliche Fast-Profis dabei… Allerdings kam das englische Original auch mit einem Männer-Frauen-Verhältnis 7/2 aus. (Warum 6/3 in so einem Format nötig sind, vielleicht an der Angst des Senders liegen, dass die mit ihren Frauen auf dem Fernsehsofa sitzenden Männer sonst den „Weiberkram“ ablehnen könnten.
Edit: In den Kommentaren wurde die Vermutung geäußert, man hätte sich an den Briten orientiert, die merkte, dass die Zuschauerinnen unheimlich auf die nähenden Männer abfuhren.)

Auch wenn es offiziell um Hobbyschneiderinnen geht – das Spannungsfeld zwischen deutscher Wertarbeit und Designer-Geniekult geht mir in der Denke zu sehr in Richtung Professionalität.
Daß in Kunst-Castingshows eine große Karriere versprochen und mit dem Plattenvertrag gewinkt wird, ist verständlich. Aber weder in den unzähligen Kochshows noch bei Das Große Backen wird den Kandidaten eine Gastronomen- oder Bäckerkarriere avisiert.
Bei Geschickt eingefädelt wurden im Castingaufruf mit Nur Hobbyschneider, keine Profis! explizit Leute gesucht, die berufsfern sind. Ich finde das nicht ganz sauber.
Ich erinnere mich daran, dass es auch bei Veranstaltungen wie DSDS immer mal Kandidaten gab, die eigentlich schon Profis waren, wenn sie auch erst im Musical als Zweitbesetzung arbeiteten. Klar ist es anstrengend, mit womöglich losenden Laien zu arbeiten. Leute die irgendwie schon in die Branche reingeschnuppert haben, kennen die Codes und wissen, wohin sie ihre Leistung fokussieren müssen. Da stimmt mir die Verabredung der Sendung nicht.
Wo Hobbyschneider drauf steht, sollte auf keinen Fall Jungdesigner drin sein.

Die Aufgaben, die an die deutschen Kandidaten herangetragen werden, sind einfacher als im Original, scheinbar traut man den Kandidaten höhere handwerkliche Fertigkeiten/Leistungen im vorliegenden Drehplan nicht zu. Statt dessen gibt es im zweiten Teil, der als Kreativ-Teil bezeichnet wird, eine lieblose Upcycling-Aufgabe** nach der anderen, die irgendwann dazu führen, dass einige Kandidaten Upcycling so definieren, dass ein Alibi-Fetzen Stoff des Alt-Materials reichen muss, um effektvoll herrliches, sauteures Material meterweise zu verbraten. Was die Jury goutiert.
Die im Original gestellte dritte Aufgabe fehlt ganz. Auch die Animationen, die den Zuschauern erläutern, worin die handwerkliche Aufgabe besteht, fehlen. Als würde man fürchten, die Zuschauer damit zu langweilen.

Im Storytelling bleibt die Show ganz bei Vox-Traditionen, die auch aus „Das perfekte Dinner“ oder „Shopping Queen“ bekannt sind. Die Kandidaten kämpfen gegen die Zeit und mit der Aufgabe und das wird von außen mit ironischen Sprüchen bedacht. Beim Perfekten Dinner passiert das über einen anonymen, nicht personifizierten Off-Kommentar, bei Shopping Queen sitzt Kretschmer in der Green Box und beobachtet und kommentiert.
Die Nähshow geht noch näher an die Kandidaten ran – Kretschmer und zum Teil auch die Juroren kommentieren das Geschehen hinter der Glastür des Ateliers.
Das ist sehr wahrscheinlich gescripted, so was wird seltenst selbst ausgedacht. Dazu werden im Schnitt Sequenzen und Sätze rausgepickt, die die realen Personen der Teilnehmer zu merkfähigen, recht stereotypen Figuren werden lässt.
Ziel ist, ein kleines, voyeuristisches Bündnis mit dem Publikum einzugehen, im Lachen über andere ist man sich einig. Das muss man natürlich mögen.
Das britische Original macht das nicht über die Technik „lustig hinter vorgehaltener Hand lästern“ sondern über mit Kamera und Musik. Es gibt in der ersten und zweiten Staffel zum Beispiel eine fast gleiche mit lustiger Musik unterlegte Kamera-Einstellung eines völlig vernähten Rockes, vorgeführt von einem männlichen Kandidaten, der sich in seinem Können völlig überschätzt.
Sonst wird über ausdruckvolle Gesichter und Gesten erzählt, manchmal auch über Satzfetzen oder Gespräche der Kandidaten untereinander.

Hier unterscheiden sich die Konzepte m.E. um einiges voneinander. Bei der BBC geht es um das Produkt und die Macher (und da war in der ersten Staffel auch der Typ schüchterne graue Maus dabei), bei Vox um merkfähige komische oder sympathische Typen im Kampf mit der Materie, die zufällig diesmal Nähen ist. Aber unironisiert und 100% zu den Kandidaten stehend geht es scheinbar nicht.
Wer sich mit dem Format beschäftigt, sollte sich darüber im Klaren sein, daß die Kandidaten nur Material anbieten. Wie sie dargestellt werden, liegt weitestgehend außerhalb ihrer Kontrolle.
Bisher ist meine Vermutung: je länger jemand im Wettbewerb dabei bleibt, desto weniger holzschnittartig ist er oder sie dargestellt.
Die junge Cosplayerin, die als erstes rausflog, war bunt wie ein Papagei, vom zweiten Cosplayer, der gehen musste, wurde ständig erzählt, dass er so schrecklich schwitzen würde und die Kamera kroch ihm ins über dem Bauch aufsperrende Hemd. Das Best-Ager-Model muß als Sexy Oma herhalten und man filmt ihr auf den Schlüpfer, die runde Autorin ist das klassische Fatshaming-Ziel, der Fifties-Kleiderschneider aus Brandenburg das unsichere Muttersöhnchen.
Einzig drei jungen Leuten im besten werbezielgruppenkompatiblen Alter zwischen 25 und 35 blieb das bisher weitgehend erspart. Das sind scheinen die Heroes zu sein.
Ich bin gespannt, ob das wirklich so ist.
(Edit: Ja, die Vermutung wurde bestätigt, nur noch die jungen Leute sind im Rennen.)

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Edit eine Woche später:
ok. In der nächsten Folge passiert ein kompletter Wechsel der Tonalität. Wir verlassen jetzt die Zone Spott und Häme und menscheln rum. Plötzlich werden die lang erwarteten kleinen Geschichten erzählt, die Teilnehmer werden emotional nahbar und respektvoll dargestellt. Wir erfahren sogar etwas über Nähtechniken.
Ich gehe nicht davon aus, dass die Postproduktion letzte Woche eine Sonderschicht geschoben und die Sendung umgeschnitten hat. Es ist Entertainment. Erst auf die grobe Tour im üblichen Vox-Stil einprägsame Leute vorführen und nun der Endspurt mit viiiiel Emotion und sogar ein wenig Annäherung an das Originalformat.
Ist das abgefuckt. Es kostet ja nix. Da wird ja nur ein Unternehmensberater als schwitziger verdallerter Depp dargestellt, eine mitten im Leben stehende Mutter, Oma und arbeitende Frau als Sexobjekt und eine erfolgreiche Autorin als inkompetentes Trampel.
Wer sich für das kurzzeitig schon ausgeschriebene Casting für die nächste Staffel bewirbt, weiß, wer nicht normgerecht und jung ist, ist ohnehin nur Kamerafutter für die nächste Hämenummer. (Das vor dem Hintergrund, dass gerade ältere und nicht in Konfektion passende Frauen verdammt gut nähen können und den „Wettbewerb“ auf ein höheres Niveau gebracht hätten.)
Der junge Brandenburger, den ich übrigens interessant und sehr kreativ finde, geht mit dem Banner „möchte ein Modelabel gründen“ – das er schon vor den Dreharbeiten hatte. Das Internet vergisst leider nichts.
Ich weiß gar nicht, warum ich mich so aufrege. Das ist die Erzähltechnik dieser Shows.
Vielleicht, weil ich diesmal auf der anderen Seite stand, weil die Leute diesmal für mich nicht die anonymen Nummern waren, die man durchs Casting schleust. Weil es diesmal nicht um Halbasis ging, für die die Teilnahme in einer Freakshow wahrscheinlich das Erlebnis ihres Lebens ist. Weil es nicht eine Woche Arbeitsaufwand war, wie bei „Das perfekte Diner“, sondern wesentlich mehr Zeit geblockt werden musste. Weil die englische Vorlage so großartig war und ich deshalb hohe Erwartungen hatte. Weil die Atmosphäre unter den Nähnerds so anders ist.

Und das Fazit zum Finale ist ein Rant.

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Drumherum finde ich sehr interessant, dass in den sozialen Medien die Zuschauerinnen sofort auf die Produkte anspringen – „Welche Bügelstation, welche Nähmaschine, welche Stoffe?“
Die Hersteller der Produkte scheinen ob dessen ungerührt und fangen den Impuls nicht auf, sondern spulen ihren Monate vorher festgelegten Social-Media-Plan ab. Oder irre ich mich?
Nächstes Phänomen: Trotz passabler Quoten sind die Facebookseiten zur Sendung nicht sehr frequentiert. Die Zuschauer scheint nicht so wahnsinnig Facebook-affin zu sein. Das hätte ich nicht erwartet.

So, das waren erst einmal jede Menge Spekulationen und Medienkritik Genörgel. In anderthalb Stunden beginnt die nächste Sendung. Ich bin gespannt.

BTW. Nach einem sonntagabendlichen Streitgespräch mit dem Grafen über die Sendung hat er gestern diesen Artikel zum Thema geschrieben.

Weitere Blogposts zur Sendung gibt es von
Muriel in Nahtzugabe 5 cm
Mädchen für alles
Claudine in Holyfruitsalad

*Ausnahme ist Outdoor- und Cosplayausrüstung, da gibt es viele Männer.

** also aus Alt und Doof mach Neu und Schick unter Schonung von Ressourcen