Fehlermeldung

Das Kind rief gestern Abend an. Wenn der Anruf zu ungewöhnlicher Zeit kommt und mit „Ich muss dir was sagen“ beginnt, setze ich mich schon automatisch.
„Mama, A. ist gestorben.“, sagte sie.
Mein Kopf regierte sofort: Fragwürdig. Inkonsistent. Abgelehnt. Falsch verstanden?
In der Familie, der ich fast zehn Jahre durch Patchwork verbunden war, gibt es einige alte und kranke Leute. A.? Das kann nicht sein!
A. ist die Cousine vom Kind, 9 Tage jünger als sie, 27 Jahre alt. Die Kinder haben viele Ferien miteinander in Bayern verbracht. Es gibt Unmengen von Fotos von ihr und den beiden Cousinen im Schnee, beim Rodeln, auf Skiern, im Schwimmbad.
Ich hatte sie lange nicht mehr gesehen und immer noch als dickköpfigen Teenager in Erinnerung, aber die drei Mädchen waren immer in Kontakt. Die mittlerweile junge Frauen wurden. A. war sehr eigensinnig geblieben. Sie studierte eine exotische Wissenschaft und war oft in Asien. Aber sie war weder schwer krank, noch irgendwo auf gefährlichen Unternehmungen, es war keine Rede von einem Unfall. A.s Tod bricht den Plan ab. Ich hatte sie immer in der mongolischen Wüste gesehen, zusammen mit einem Indy-Jones-Gefährten geheimnisvolle Dinge entdeckend.
Fehler. Falscher Datensatz. Gelöscht.
Ich drehe mich seit 12 Stunden im Kreis. Ich habe es mir erklärt. Herzstillstand, ein schneller, unmerklicher Tod, einer, den sich jeder wünscht und der seltenst so kommt. Sie wurde zwar nie als kränklich behandelt, hat sich auch selbst nie so gesehen, aber sie hatte einen angeborenen Herzfehler, der in den ersten Lebenswochen operiert wurde. Keiner hat damit gerechnet.
Vielleicht hatte die die Mutter eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Sie fuhr in den Studienort, nachdem A. nicht wie abgesprochen erreichbar war. Sie fand sie Bett liegend, mit einem Buch auf dem Bauch, wie beim Lesen eingeschlafen.
Ich denke sehr an die Mutter, auch wenn meine Inneres den Bericht über das Ereignis immer wieder löscht und ich immer wieder bei dem Satz „A. ist gestorben.“ anfangen muss. Ich weiß, dass sie sehr stark ist, viel stärker als ich und genauso eigensinnig, wie ihre Tochter war. Es ist schwierig, eine solche Frau zu trösten und ihr beizustehen. Ich denke an A.s Schwester und ihren Vater. Zwei Menschen, die sich sehr ähnlich sind in Klarheit und Gradheit. Ich wünsche den drei Menschen, die zurückgeblieben sind, sehr viel Kraft.

Ich werde es sicher irgendwann erklärt und abgespeichert haben. Begreifen werde ich es nicht. Und ich sehe mich, als Davongekommene, Verschonte. Ich sehe mich und das Kind im trüben Spiegel des Todes. Es erwischt mich an einer ganz schwachen Stelle. Ich finde diese emtionale Überwältigung egoistisch und eitel, aber ich kann nichts dagegen tun.

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Treibholz-Stöckchen

Die Frau Rosmarin hat mir schon vor einer Woche ein Treibholzstöckchen gesendet. Jetzt habe ich endlich Zeit dafür.

1. Striptease….?
Öhm. Da ich eine begnadete Bewegungslegasthenikerin bin, endet bei mir graziles Strapse-Nesteln und Nylons-Ausziehen bei einem Plumps auf den Hintern. Also eher Slapstick. Wobei eine Dame die Technik des strategisch wichtig geöffneten Blusenknopfs beherrschen sollte, finde ich.

2. Die Geschichte hinter meinem teuersten Strafzettel….
Icke: „Warum verdammt noch mal, ist auf einer nagelneuen, breiten Autobahn Tempo 80?“
Das Telefon: „Klingelingeling!“ (das Kind auf dem Beifahrersitz geht ran)
Das Kind: „Oma fragt, wo wir bleiben, das Essen wird kalt!“
Icke: „Ey, die ham doch hier n Knall! Jetzt fährt der vor mir noch langsamer! Hier ist doch weit und breit nichts!“ (gehe aufs Gas und wechsele auf die Überholspur)
Das Auto: „Wrooooom! Roaaar!“
Der Blitzer: „Tschack!“
Icke: „…“
Mein Vater: (bei unserer Ankunft) „Hähähä! Bist du in diese Deppenfalle gefahren?“
-> 150 €, 1 Monat Fahrverbot

3. Was sollte man mindestens einmal im Leben getan haben?
Kann ich hier nicht schreiben, hat was mit Sex zu tun.

4. Am liebsten koche ich für….?
Sechs Leute mit mehreren Gängen.

5. Wenn ich Diktator wäre, würde ich folgendes ändern…?
Ich bin zu tolerant für Diktatorentum. Ich bin der festen Meinung, man kann Leute nicht ändern und auch Verhältnisse nur wenn die Zeit reif ist, dafür braucht es wiederum keinen Diktator.
Oder die Joke-Antwort: Ich würde Nachos mit Stinksoße im Kino verbieten. Ernsthaft.

6. Richtig peinlich ist mir….?
Fast nichts, bis auf intelligente Leute, die sich weigern, ihr Hirn zu gebrauchen.

7. Meine allerliebsten Schuhe….?
Kittgraue Donna-Karan-Pumps aus Rauhleder. Absolut zeitlos und mit einem schicken und doch lauffähigen Absatz. Kann man den ganzen Tag tragen und passen zu fast allem. Sie sind nunmehr 15 Jahre alt und immer noch tragbar, müssen nur immer mal abradiert werden.

8. Ich sammle zwar nix, aber eigentlich….?
Kann ich mich von keinem Schmuckstück trennen und ist es noch so talmihaft.

9. Wenn ich eine Pflanze wären, dann….?
wäre ich Kelp. Ausladend, schwebend und leicht unterkühlt.

10. Wenn ich Künstler wäre, dann… ?
Ich habe in meinem Leben mit so vielen Künstlern zu tun gehabt, dass ich nicht tauschen möchte. Ein Pianist übt ewig, ein Rockmusiker muss ständig auf Droge sein und Randale machen, Maler müssen immer überlegen, was sie malen, Schauspieler warten verzweifelt auf Rampenlicht und Regieanweisung…
Wenn, dann wäre ich gern als exzentrische alte Dame eine Bahnhofskiosk-Bestsellerautorin, die mit effektvoll gesetzten Worten Emotionen und Umsatz erzeugt.

11. Hast Du ein Lieblings-Zitat?
Ja. „Just do it!“ Da ist zwar etwas in Verruf geraten, weil es vor Nike die Maxime eines amerikanischen Massenmörders gewesen sein soll, aber der kurze Satz, bringt es gut auf den Punkt, was ich mag am Leben: Handeln zu können.

Ich gebe das Stöckchen auch noch weiter, aber heute bin ich zu müde.

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Fünfzig

Im vorletzten Blogpost gab es eine Rückschau. Fast zehn der dazwischenliegenden 25 Jahre sind verbloggt. Jetzt kommt eine Vorschau.

Ich habe Pläne und ich weiß, dass sie mir das Leben ohnehin über den Haufen wirft. Oder dass ich zu Zielen komme, die ich nicht kannte, auf Wegen, die ich nicht ahnte. Wenn man sich bewegt, verändert sich die Welt um einen herum und meist sind unsere Zielvorgaben nur statisch.
Was ich ganz kategorisch nicht will und nie wollte: Am Ende sagen, dass ich es bereue, wichtige und grundlegende Dinge nie getan zu haben. Habe ich in den letzten Jahren immer gesagt: „Ich kann doch noch nicht älter werden, ich habe doch noch so viel zu tun!“ merke ich, dass die Liste kürzer wird oder – anders. Dazu kommt, wie mir schon bei der Aufzählung von Jahr Fünfundzwanzig bewusst wurde: Da war eine ganze Menge. So sehr viel, dass ich manchmal rechtschaffen müde bin. Es geht langsamer weiter, bewusster, gelassener.

„Verweile doch, du bist so schön?“ o-o! Der von mir als deutsche Kulturikone so sehr verhasste Faust ist voller doppelter Böden und wenn ich etwas liebe, dann das Sehen in verschiedenen Perspektiven. Diese Szene ist ein Vexierspiel par excellence.
Während er blind davon phantasiert, dass auf sein Geheiß ein Sumpf trockengelegt wird – so zumindest interpretiert er das Schaufelklirren – bereiten die Lemuren sein Grab.
Die da irgendwo den Deich bauen, brauchen ihn längst nicht mehr. Und der Moment, in dem er glücklich zur Ruhe kommt, ist die Stunde seines Todes.
Einige Texte begleiten mich durch mein Leben. Szenen aus Hamlet, Baldwins Another Country, wo ich mich fast in jeder Figur spiegeln kann und eben jene Szene aus „Faust“. In jedem Lebensalter interpretiere ich den Text anders. Früher las ich die Szene als „Oh nee, dieser alberne, naturtötende Fortschrittsglaube“. Später, als ich die Peter-Stein-Inszenierung sah, bemerkte ich erst den Irrtum Fausts und sagte mir „Krass, der alte Mann wird verarscht!“ Jetzt sehe ich das wieder anders, als Geschichte einer Ablösung von der Welt. Das Denken geht noch in den alten Bahnen, er wähnt sich noch als Führer, die Welt geht längst ihren eigenen Gang und er bleibt zurück. Ich bin gespannt, wie ich die Szene in 15 Jahren interpretiere.

Ok., aber wo war ich stehen geblieben? Vorausschau.
Einige Dinge diktiert das Leben.
Nachdem meine Alterssicherung im Burnout durch den Schlot gegangen ist, muss ich dafür etwas tun. – Aber auch da, das Leben ist dynamisch. Was Mitte der 90er gutes Geld für den Ruhestand irgendwann 2030 schien, war von der Preis- und Investment-Marktentwicklung längst überholt. Da muss eine andere Lösung her.
Arbeit.
Wie in den letzten zweieinhalb Monaten gelernt, drei Tage zu fünf Stunden wöchentlich mit Leistungsdruck funktionieren. Der Rest der Zeit kann meditativer verbracht werden und selbstgenügsamer. An der Nähmaschine, ohne Lieferdruck, funktioniert das.
In der Abteilung Spaß und schöne Dinge.
Die südlichen Inseln rufen wieder. Auch Marokko ist noch offen, der Atlas und Marrakesch. Granada und die Sierra Nevada. Sardinien. Und ich will unbedingt, bevor da Touristen hinkommen, noch mal nach Svanetien.
Es ist auch wieder Zeit für mehr Bewegung. Ich habe nun bewiesen, dass ich im Klimakterium genauso wie alle Frauen in meiner Familie aussehe. Aber das war nie meine Absicht. Außerdem sind noch große Skitouren durch die Weite auf der Liste, langes Schwimmen und Wanderungen. Da brauche ich keine 20 Kilo Vorrat für schlechte Zeiten.
Ich möchte den Spaß an der Herausforderung zurückhaben und den unguten Zwang doch vor der Tür halten. Wie das gehen kann, weiß ich noch nicht.
Geliebte Menschen.
Die Großeltern-Generation ist nun gestorben, mir bleiben die Eltern und die haben sich nicht so gut gehalten, ihre Energie versackt in ihren kleinen Kämpfen. Vielleicht ändert sich das noch mal, wer weiß. Aber auch da, ich will bereit sein, für das, was passiert, auch wenn ich noch nicht weiß, was und wann es passieren wird. Der Bruder ist da schon viel weiter als ich.
Ich bereite mich aufs Großmutter-Dasein vor. Was bin ich heilfroh, dass ich nicht mit 50 auf Elternabenden und Schul-Kuchenbasaren rumhocken oder mich mit Pubertieren rumstreiten muss. Das ist vorbei, die Midlife-Crisis habe ich auch knapp überlebt und nun kommt die Aufgabe, dem Kind irgendwann als Mutter Entlastung zu geben und ihr doch genügend Raum zu lassen. So, wie es in der Familie seit drei Generationen war, dass die Großmutter oder Tante vollständig einsprang, dass ein Kind über Jahre weitgehend woanders aufwuchs und geprägt wurde, das möchte ich unbedingt – wenn es denn als Option überhaupt naheliegt, aber man weiß ja nicht, was passiert – durchbrechen. Ich möchte meine Tochter im Mutter sein unterstützen und weniger als Großmutter nicht gelebtes Leben mit einem kleinen Kind nachholen. Obwohl ich mich wahnsinnig darauf freue, dass ich irgendwann in den nächsten Jahren ein Baby im Arm halte, das noch ein paar von meinen Genen mitbekommen hat. *schnüff*
Liebe.
Habe ich wie so vieles per trial and error gelebt. Und am Ende kommen da ein paar Binsenweisheiten um die Ecke. Dass ein Partner einem sicher nicht das ersetzt, was man selbst nicht ist oder sich nicht geben kann. Dass man in die Welt rast und den Schatz gleich neben sich findet. Und dass es gut ist, wenn das überspannte Ego endlich mal gelernt hat, die Schnauze zu halten, damit der Rest von Miz Kitty dem Anderen zuhören kann. Ich habe begriffen, dass mir Zeit von einem anderen Menschen geschenkt wurde. Ein Paket von undefinierter Größe, mit guten und schlechten Tagen und ich habe es angenommen. Ich wurde angenommen. Das ist gut und das geht jetzt so weiter. Wann das Paket leer ist, habe ich nicht zu entscheiden. (Vor 10 Jahren hätte ich so einen Satz nicht ausgehalten.)

So, das war das Wort zum Sonntag, ich gehe jetzt auf den Crosstrainer.

PS: Ich lege Ihnen dieses Interview ans Herz.

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Fünfundzwanzig

Vor fünfundzwanzig Jahren war der Winter selbst im nah an Sibirien gelegenen Oderkaff atypisch warm.
Ich stand an zwei Fronten: In der Uni, bei dem Studium, für das ich fünf Jahre gekämpft hatte und das nun für mich befremdlich und fast ein bisschen enttäuschend war. Ich musste lernen, meine Gedanken in der richtigen Sprache zu verkaufen, ich kannte die Codes noch nicht. Wie immer war ich distanzierte Beobachterin. Es war ein Zwiespalt, war doch die Theaterwissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Uni ein Ort, der frei von allzu großer ideologischer Zwanghaftigkeit war und das freie Denken forderte und doch fühlte ich mich fehl am Platz, zu pragmatisch für die Uni.
Zu Hause, in Ehe und Familie, ging es um das, was man heute Gleichstellung nennt. Ich hatte meinen Mann – arbeitend und später dazu weitestgehend allein mit unserem Kind – im Studium unterstützt. Nun nahm ich das für mich selbstverständliche Recht, es genauso zu tun. Ich wollte die Woche über in Berlin studieren und das Wochenende der Familie widmen. Das ging kein Vierteljahr gut. Das Kind war oft krank, ich bekam den Sprung ins andere Leben mental und zeitlich schlecht hin und der Mann schien mit Haushalt, neuem Job und Kind überfordert.*

Um mich herum herrschte die Erstarrung der spätsozialistischen Gerontokratie. Freunde, Kollegen und viele meines Alters, die mir über den Weg liefen, warteten auf die Ausreise. Einzig die Kommilitonen wollten es mit diesem Land noch versuchen. Wer sonst inspirierend und interessant war, war bereits auf dem Absprung. Für mich, mit der Fast-Nomenklatura-Familie im Hintergrund, war das die Garantie, niemand von ihnen je wieder zu sehen und vielen zu schaden.

Ich wollte Regisseurin werden. Film natürlich. Ich arbeitete an einem Super8-Projekt nach einem Text von Thomas Brasch. Drehort sollte der damals schon marode Bahnhof Ostkreuz sein, mit diesem Mordor-Turm im Hintergrund. Irgendwo liegen noch gut 80 s/w-Motiv-Fotos, die der Kameramann gemacht hatte. (edit: leider doch weggeworfen) Ich malte Storyboards, suchte Schauspieler und entwarf ein schwarzes victorianisches Kostüm, das La Primavera anfertigte. Im Hintergrund organisierte das Amateurfilmstudio, mit dem ich verbunden war, Geld für die Produktion und hatte die Hand über uns. Manchmal hatte ich das Gefühl, von nix eine Ahnung zu haben, aber ich ließ mir das nicht anmerken.

Die Verwirklichung meiner Träume war Gas geben mit angezogener Handbremse. Ich hatte das Gefühl, wenn ich durchstartete, dann würde es krachen. Wahrscheinlich vertanzte ich mich deshalb an so vielen Stellen und fand für nichts richtig die Konzentration. Es blieb alles im vagen, für mich quälend Unproduktiven.
Mittlerweile habe ich gelernt, diesen Passagenzustand auszuhalten, in dem ich bereit bin, vieles versuche, das Ziel weiß, aber die Richtung und den Startzeitpunkt noch nicht kenne. In dem es für mich arbeitet.

Im Frühjahr des Jahres 1989 zog mit einem Holzkasten voll Kram ich in die Wohnung eines Freundes in der Brunnenstraße, weg von diesem fürchterlichen, kakerlakenverseuchten Studentenwohnheim. Der Sommer war brüllheiß und gleichzeitig starr und gelähmt, wie vor einem Gewitter. Honecker wochenlang im Krankenhaus, Gerüchte über die Vorbereitung von Konzentrationslagern, das Zivilverteidigungslager für uns fiel aus, man befürchtete illegale politische Zusammenschlüsse der Geisteswissenschaftlerinnen.
Ich hielt es nicht aus, ich wollte weg von Berlin, wieder irgendwo am Theater arbeiten, der explosiven Spannung in der Mauerstadt entfliehen. An den Abenden des Wochenendes stand ich hinter der Theaterbühne des Oderkaffs, sah in das Dunkle des Schnürbodens und hörte den Schauspielern unter den Scheinwerfern zu. Ich streckte die Fühler aus, um zurückzugehen und das Studium extern fortzuführen.
Mein ehemaliger Chef bot mir an, seine persönliche Assistentin zu werden. Doch man steigt nie zweimal in den selben Fluss. Ich sah plötzlich eine Seite an ihm, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Den schwer abhängigen Trinker, der um jeden produktiven Tag ringt. Ich sagte ab.
Die Semesterferien verbrachte ich mit dem Kind am See. Im September nach Berlin zurückgekehrt, hatte sich die politische Schraube noch enger gedreht. Wohnungen standen leer, die Bewohner waren über Ungarn ausgereist und hatten alle Sachen zurückgegelassen. Das Neue Deutschland versuchte sich als Bild-Zeitung.
Ich zog in den Prenzlauer Berg, näher zu den Freunden, unweit der Gethsemanekirche. Meine kleine Wohnung versah ich mit weißen Fußböden und schwarzen Stahlmöbeln. Auf einer an die Wand geschraubten Arbeitsplatte stand meine kleine Rheinmetall-Schreibmaschine. Nur ein Bett hatte ich vergessen, ich schlief auf dem Fußboden.
Ein anderer Mentor vermittelte mir eine Dramaturginnenstelle in Zittau, am Stadttheater. Der Intendant war interessiert, ich geschmeichelt. Aber das war die Ecke des Landes, die sich gerade entvölkerte. Ich sagte wieder ab, tief im Zweifel, ob ich nicht gerade eine große Chance versemmelt hatte.

Der Rest ist Geschichte und neues Leben. Die nächsten 25 Jahre konnte ich fast alles verwirklichen, von dem ich geträumt hatte. Gut, ich war zwar keine Regisseurin geworden, aber ich fand meinen Platz.
Ich saß mit 12 Jahren mit offenem Mund vor Fellinis „La Dolce Vita“. Nun konnte ich das leben. Klingt albern oder? Aber nun konnte ich alles sein, ohne kleinbürgerliche, mißmutige Kontrolle von Abweichlern: Durch die Nacht fahren, lieben, hassen, eiskalt sein und glühend heiß. Dekadenz erleben und Intellektualität. Mit gelindem Entsetzen begreifen, dass Dummheit und Schönheit synästhetisch sein können. Fürsorglich sein und abweisend. Schuld auf mich laden und mich verschenken. Selbstmörder betrauern und morgens am Meer sitzen.

tl;dnr: Mit 25 Jahren ist der Mensch wirklich erwachsen. Er hat begriffen, daß er jetzt für sich selbst verantwortlich ist und muss sich nicht ständig des Wohlwollens seiner Eltern versichern. Bei mir fiel das mit dem Mauerfall zusammen und veränderte mein Lebensgefühl sehr.

 

* Erst später sagte er mir, dass das ein Streik war, mehr nicht, er hatte keinen Bock, damals ging das scheinbar mit seiner Auffassung von Männlichkeit nicht zusammen. Heute ist das für ihn kein Thema mehr.

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