Kleider-Schnitte selbst zu konstruieren, ist toll. Ich kippe zwischen Theorie und Praxis hin und her – erst ist auf dem Papier alles zwingend und logisch und auf dem Nessel-Probeteil sieht es dann gaaanz anders aus, aber das macht nichts. Dann kniffe ich hier noch etwas Stoff weg und lasse da etwas raus und in der nächsten Runde fällt mir wieder etwas auf, das ich optimieren könnte. Noch bin ich in den Anfängen. Wenn es irgendwann komplexer wird – Hosen, Jacketts – muss man mir wahrscheinlich das Weitermachen verbieten, sonst werde ich nie fertig.
Das ist erst einmal nur die Passform für das Dastehen, Passform in Bewegung ist noch anders und Kleidungsarchitektur ist eine Kunst.
Das gibt es in der Konfektion kaum noch. Da wird einfach Plastik-Vlies aufgeklebt, damit eine Form entsteht. Mit einem weichen Seide-Woll-Tweed sollte man das aber nicht tun.
Ich glaube, ich brauche mal zwei Jahre Zeit, um in diese Materie richtig einzutauchen.
Archiv für den Monat: April 2016
Vigil 39
Alle Menschen sind gleich, mache sind gleicher. Sagt man zumindest ironisch.
In meiner digitalen Umgebung wird sehr viel Wert darauf gelegt, dass Menschen gleich sind und Othering (feststellen, dass jemand anders als man selbst ist) bekommt den Wert einer moralischen Verfehlung.*
Am Mittwoch Abend ist ein Mann in Frauenkleidern brutal zusammengeschlagen worden, berichtet der Tagesspiegel. Um sich am Ende des Artikels dafür zu entschuldigen, dass man den Mann in Frauenkleidern zunächst als Transgender bezeichnet hätte, weil die Polizei von einem transphoben Verbrechen sprach. Nach Hinweisen aus der Community hätte man das geändert.
Interessante Sache. Wer will da mit wem nichts zu tun haben und warum? Finden die Fetischisten Transgender bäh und bemühen sich um die richtige Einordnung ihres Neigungsgenossen? Möchten die Transgender mit ollen Fetischisten nichts zu tun haben? Und was hat das alles damit zu tun, dass jemand schwer zu Schaden gekommen ist? Warum muss dann minutiös erklärt werden, welche geschlechtlichen Aggregatzustand oder welche Passion jemand hat?
*Wobei zu bemerken ist, dass es in den letzten Monaten besser geworden ist. Die Zeit scheint vorbei zu sein, in der auf Twitter werauchimmer von irgendwelchen Studentx angeblökt wurde, x solle seine wenauchimmer gerade in seinem mentalen Komfort störende Äußerung worüberauchimmer nicht mehr machen.
sch'pin betrunken #ironblogger
Vigil 38
Der Artikel im Tagesspiegel, in dem sich die Journalistin Cigdem Toprak fragt Wo ist die coole „muslimische“ Jugend hin?, hat mich sehr berührt.
Ich habe das, was sie beschreibt, die Generation junger muslimischer Leute, die irgendwie (oft trotz Bildung, Karriere und Erfolg) mental und sozial zwischen allen Stühle landeten, in einem Fall selbst mit angesehen. Oder besser, ich habe es nicht richtig gesehen.
Das, was für diese jungen Leute als frei sein galt, war für uns normal.* – Freizügige Kleidung, lieben und heiraten, wen man will oder auch nur zusammenleben, Sex vor der Ehe, auf Kinder verzichten, eigene Entscheidungen fällen, nicht religiös sein oder oder… So normal, dass einem kein Gedanke kommt, es könnte anders sein und eventuell Konsequenzen haben.
Ich habe einige Jahre mit einer jungen Frau, für die Jenny from the Block sicher auch ein Vorbild war, gearbeitet. Sie war oft von der Politik umworben, schien sie doch das Klischeebild der jungen, klugen, erfolgreichen und modernen Migrantin zu sein. Eigener Kopf, eigene Karriere, eigenes Geld. Solche Instrumentalisierung wies sie immer freundlich und bestimmt zurück, sie wolle sich politisch nicht äußern.
Sie war sehr gut angepasst und deshalb merkte ich die Risse zwischen ihrem Sein und ihren Wurzeln nur manchmal und nahm sie auch gar nicht so ernst.
Ihr Freund, der mich ansprach, ob ich denn nicht intervenieren könnte, sie sei bei der Arbeit so schamlos gekleidet, damit hätte seine Familie ein Problem. Ein Bekannter von mir, ein junger Kurde, für den sie eine Schlampe war, die nicht merkte, wie man ihren Körper obszön präsentierte (ich fand es sexy, mehr nicht). Ihre Ablehnung einer großen Herausforderung, weil sie sich dann nicht mehr in ihrer Community sehen lassen konnte und ihren Eltern Schande gemacht hätte. Der Vater, der immer weiter wegrückte. Die Künstler in Istanbul, für die ihr Türkisch zu ungebildet war. Die Männer, die fasziniert waren, die Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit gern mitnahmen, aber selbst wenig investieren wollten.
Wir haben selten darüber geredet. Ich habe nicht gewagt zu fragen und das Thema lag auch nie so richtig offen. Es war auch nie – außer in Schauder- und Katastrophengeschichten wie Ehrenmord und Zwangsheirat – Teil eines gesellschaftlichen Diskurses. Man erzählte sich von den Heimlichkeiten der Mädchen und den Schwierigkeiten der Jungen, aber es waren ja die Anderen, die fremde Welt, die Dinge, in die man sich als Deutsche nicht einzumischen hatte.
*Es sei denn, man kommt aus einem abgelegenen Dorf und/oder aus einer fundamental-religiösen Familie. Das gibt es in Deutschland nur nicht mehr so oft.