Zeitkapsel 2

Ein Freund schickte mir gestern eine Mail, die vor genau 9 Jahren an ihn schrieb:

Gestern abend, als ich losging, stand ich vor dem Spiegel und hatte zu ersten Mal das Gefühl, alt zu werden. Ich habe mit allen Tricks die Furchen der Müdigkeit nicht aus dem Gesicht bekommen. Und ich sagte mir: so fängt es also an, der Auseinanderfall von Selbstbild und wahrer Erscheinung. Das ist nichts hysterisches und kein fishing for compliments. Es war einfach so.
(…)
Soll ich Dir noch eine Geschichte erzählen? Ich saß gestern abend noch auf dem Steg, um das aufgeschobene Telefonat zu führen und habe die allerletzte Sternschnuppe dieses denkwürdigen Sommers gesehen. Und als ich heute morgen aufwachte, wußte ich auch, daß dies die letzte Sommernacht auf dem Steg für dieses Jahr war. Jetzt wird es Herbst.

Es hat sich nicht viel verändert. Nur der Steg fehlt und der Fluß.

52° 16′ N 14° 26′ O

Pilze sammeln mit dem Vater. Einen eigenen Pilzfleck zu haben, 5 Minuten Fußweg vom Sommerhäuschen entfernt, das ist ein riesiger Luxus.

Über uns die hohen Schreie eines jungen Adlers – das Adlerhorst ist ganz in der Nähe – und die Unterhaltung des Rabenpaares, das seit Jahren am Waldrand wohnt.
Wir sprachen wenig. Über die Herz-OP. Darüber, daß ihm zwei Ärzte und eine Psychologin geraten haben, er solle endlich leben und nicht nur funktionieren. Daß er so gern reisen möchte, die Mutter es aber völlig ablehnt. („Die Katzen…“)
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Die Schildpatt-Katze, die kleine Eidechse zum Geschenk bringt. Der weiße Kampfkater mit dem schwarzen Schwanz hat diesen Sommer neben diversen Mäusen eine Schlange, einen Koi-Karpfen und einen Vogel vor dem Haus abgelegt.
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Die Landschaft meiner Kindheit hat sich verändert. Ich erinnere mich an Müll, Lärm, Staub, Dreck, Schlamm und Smog. An müde, trockene Bäume, kaputte Straßen, das Gebrüll der W50-LKW. An komplizierte, mühselige, langsam zurückzulegende Wegstrecken in mitten von ausgelaugten, mit schwerer Technik kultivierten Äckern.
Brandenburg sieht aus wie ein Naturpark. Üppiges Grün, klare Luft, blauester Himmel. Subventionsparadies.

Eine Kuh macht Muh

… und viele Kühe machen Mühe.
Die Welt steht natürlich noch, sie sieht genauso aus wie vorher und wird so bleiben. Ich schleiche noch etwas rekonvaleszent durch mein Revier. Keine Spur von Euphorie, kein Kick, wie sonst üblich nach incentives, wo das satte Aufklatschen nach ein, zwei Wochen inkludiert ist. Es ist eher dieses beklommene Gefühl, das einen nach einer längst überfälligen Trennung beherrscht: Ich habe es wirklich ausgesprochen… Und jetzt? Wie geht es weiter?
Die guten Wünsche für den Chiemsee habe ich erst vor zwei Stunden gelesen. Danke!
Mein Weg führte mich am Chiemsee vorbei in die Berge. Ohne Freiheit, ohne Chance für Sidesteps und Extratouren. Aber selbst auf meinem kleinen Plätzchen an der Bergkante hat sich mir diese Landschaft tief ins Herz und in die Sinne geschnitten. Der Heugeruch, blumigsüß und krautigherb. Die vernebelten Berge, endlose Grauabstufungen hintereinander, wie Scherenschnitte. Die Kühe, die mit ihren langen Zungen das Gras zusammenschleckten. Die drei Kälber, die plötzlich in Formation hinter mir standen und mich anstaunten, wie ich da so im Gras hockte. Die letzte Himbeere, die ich verbotenerweise vom Strauch pflückte und die erste Brombeere. Die milde, goldene Sonne. Der Orion, der mir des Nachts ins Fenster sah, als ich die Augen aufschlug, völlig wach war und wußte, daß die Bogenschützen nun andere sind, daß ich meinen Bogen nach da oben abgegeben habe, um Wurzeln zu schlagen, tiefe, feste Wurzeln.