Vigil 31

Error-Tag.
Erst naßgeregnet auf dem Weg vom Schwimmen nach Hause umgekehrt.
Dann beim Versuch, Website A offline zu stellen, Website B gründlich zerschossen. (von Website B kein Backup gehabt, da Gefälligkeitsarbeit) Website B nicht wieder vollständig hinbekommen.
Bei der Küchenarbeit Alarmstufe Rot ausgerufen, da die Gastherme ernsthaft den Aufstand probte. Sie sprang schon  lange recht laut an, seit einiger Zeit gab es ab und zu eine laute Verpuffung, und über Ostern mehrere, so dass es sich nicht mehr um Zufall handeln konnte. Ich konditionierte mich schon auf Ende der Heizsaison, abends im Mantel sitzen und duschen im Schwimmbad, weil alles schlimmstens kaputt und doof. Aber der Graf hatte den Durchblick und nun faucht sie wieder leise vor sich hin und freut sich über eine neue Zündelektrode.
Nebenher war das Blog plus Strato stundenlang down und danach streikten wichtige Fotos. (100 mal aufschreiben: Ich soll keine Dateinamen mit Umlauten vergeben! Komischerweise können Chrome und Firefox das ab, Safari aber nicht.)
Ich hoffe, ich falle heute nacht nicht aus dem Bett. Das würde den Tag komplettieren.

Vigil 30

Der Graf filme mich vorhin heimlich beim Konstruieren eines Schnitts (besser, bei dem Versuch). Ich nehme mich ja gern stoisch so gealtert hin – mit einer Nahsichtbrille, die mich nach meiner Mutter aussehen lässt (die ist 8 Jahre alt und unkaputtbar), irgendwie hochgedröselten graublonden Haaren, den Spuren von Rosacea auf der Haut und einem Doppelkinn. Aber wenn ich nachdenke und kniffelige Sachen anzeichne, schneide ich furchtbare Grimassen und bei Radieren habe ich die Zungenspitze zwischen den Zähnen. Das geht doch nicht. Das sieht doch furchtbar aus. Hätte mir zumindest meine Oma gesagt. „Mädel, schneid keine Gesichter, da werschte alt und faltig!“
Heute ist ohnehin das maximal mimiklose Botoxgesicht en vogue, fiel mir auf, als ich darüber nachdachte, wie wohl Kate Blanchett oder Nicole Kidman eine Frau gespielt hätten, die grade etwas kompliziertes ausrechet und zeichnet. Sie hätten konzentriert dreingeschaut und allenfalls hätten sich ihre Augenlider bewegt oder ihr Mund wäre anmutig auf und zu gegangen. Bei Bette Midler oder Whoopie Goldberg ist das anders, die dürften Grimassen schneiden. Aber das war auch schon immer die Abteilung komische Alte.
Ernstzunehmende Frauen haben ihr Gesicht unter Kontrolle und schauen harmlos-entspannt drein, mir halbgeöffenetem Mündchen. Merk dir das Kitty.

Vigil 29

Erst kommt das Fressen, dann die Moral oder wie unsere Existenz unsere Wertmaßstäbe determiniert.
Es war einmal, vor ungefähr 30 Jahren. Die Familie meines damaligen Mannes bekam Westbesuch (meine Familie hatte und durfte so etwas ja nicht). Der Westbesuch war ein Hamburger Richterehepaar mit drei antiautoritär erzogenen Kindern, deren Kleinstes mit vier Jahren noch mit Windeln ins Bett ging. Man war alternativ und ökologisch korrekt, hatte Anteil an einer Biomilch-Einkaufsgemeinschaft und bezog den Vorläufer der heutigen Biokiste.
Das alles erfuhr ich aber erst am Kaffeetisch in der Plattenbauwohnung der Schwiegereltern, die den gleichen Grundriss hatte, wie die meiner Eltern. Schwiegermutter hatte Omas Sammeltassen auf den Tisch gestellt, extra viel starken Kaffee gekocht und eine Erdbeertorte in die Mitte gestellt.
Eine Erdbeertorte hatte man entweder, wenn es kurz dem Zeitpunkt der Verabredung zufällig im Gemüseladen Erdbeeren gegeben hatte (das Selberpflücken auf dem Feld kam im Oderkaff, das seit den späten 70ern von Erdbeerfeldern umgeben war, erst später) oder man kannte jemanden mit Beziehungen zu Erdbeeren. Den in Plastik verpackten haltbaren Tortenboden, wie man ihn aus dem heutigen Supermarkt kennt, gab es nicht. Den musste man entweder selber backen, was die Generation der werktätigen Mütter in der Regel nicht gelernt hatte (mal ganz zu schweigen davon, dass sie keine Zeit hatten) oder frisch beim Bäcker kaufen, was wiederum A. den Zufall der Tortenbodenlieferung in der Erdbeersaison und einen Platz ganz vorn in der Schlange, bevor alles ausverkauft war oder B. gute Beziehungen zu einem Bäcker oder einer Backwarenfachverkäuferin, was eine Vorbestellung ermöglichte, voraussetzte.
Schwiegermutter hatte Wochen vorher eine Kollegin angesprochen, die mit einem Bäcker um fünf Ecken verwandt war. Auf Grund des großen Ausnahmezustandes Westbesuch wurde ihr Ansinnen erhört und sie kam in Besitz dieser Erdbeertorte, natürlich mit Hilfe eines saftigen Trinkgelds.

Der Westbesuch erzählte viel, wenn nicht grade die drei rothaarigen Mädchen rundliefen. Dass sie ihr Haus mit Sperrmüllmöbeln eingerichtet hatten. (Das kannten wir, die jungen Leute machten das auch, weil die Möbel im Laden hässlich und teuer waren.) Daß man vor den Kindern viel in der Welt herumgereist sei, es wäre wichtig, fremde Kulturen kennenzulernen. (Das war Utopie für uns.) Dass man abwechselnd aus dem Hamburger Umland unpasteurisierte Milch von speziellen Bauern holte. (Wir schüttelten uns, Milchhygiene war ein A und O, es gab immer noch Tubekulosefälle.) Man könne sich die Arbeit einteilen und terminieren, wie man wolle und man verdiene mehr als brauche. (Dass diese Arbeitsorganisation ein Richterprivileg war, wussten wir nicht.)
Es gab schlecht verhohlenen Abscheu vor dem Mocca Fix Kaffee (das Kilo kostete 70 Mark, meine Schwiegermutter verdiente ca. 500 Mark). Man solle überhaupt nicht so viel Kaffee trinken, das sei ungesund. Schwiegermutter schwieg, lächelte und bot noch ein Stück Erdbeertorte an.
Nein danke, ein Stück reiche, war die Antwort. Man solle nicht so viel essen. Man könne gutes Essen überhaupt nicht genießen, wenn man sich immer Nachschlag nähme. Außerdem gäbe es so viel Hunger in der Welt. Da müsse man nicht so viel in sich hineinstopfen. Ungesund sei es außerdem. Sie könnten nicht verstehen, warum wir hier so viel Essen auf den Tisch stellen würden, wer brauche denn eine ganze Erdbeertorte? Es gäbe auch andere Dinge, die einen glücklich machen.

Ich hatte es dann bald ziemlich eilig und irgendwie hatte ich danach überhaupt keine Lust mehr, noch mehr solche Deppen kennenzulernen.

Wir mögen die gleiche Sprache sprechen, aber unsere sozialen Erfahrungen, Prägungen und Werte sind andere.

Vigil 28

Es war einmal. Vor ungefähr 15 Jahren.
Da begab es sich, dass ich wieder einmal den Versuch machte, der Stadt zu entfliehen. Ich wohnte zwar schon am Stadtrand, aber auch das war mir noch zu belebt.
Ich fuhr am Ostersamstag durch die Spreeaue bei Berlin, um Häuser anzuschauen. Klein, hutzelig und vermoost, am Waldrand stehend oder aufgepimpt in einer engen Datschenkolonie – am unteren Ende der Finanz-Skala (verschulden wollte ich mich nicht dafür) gab es keine Paläste. Der sonnige Tag entschädigte mich für die Bruchbuden.
Als ich in der rosagrauen Dämmerung davonfuhr, brannten rund um mich herum Osterfeuer. Ich war umgeben von Feuern.

Das ist eine der wenigen Sachen, die ich nicht getan habe und doch ein wenig bereue. Ich bin immer in der Stadt geblieben. Obwohl mir viele Menschen, versiegelter Boden und hoch über der Erde wohnen und oft nicht bis zum Horizont blicken können, nicht viel bedeuten.
Natürlich lässt sich das noch ändern, aber die Kräfte einer Dreißigjährigen habe ich nicht mehr. Ich kann heute weder eine Landwirtschaft anpacken, noch ein Haus ausbauen. Für den Streuobstgarten und einen Blumen- und ein Kräuterbeet reicht es aber noch.