Gleimkiez die zweite

In den letzten Wochen vor dem Auszug aus dem Flußhaus wachte ich nachts schreiend auf. Pavor nocturnus heißt das, so weiß ich mittlerweile. Ein Freund zitierte Heiner Müller: alles Neue kommt mit Schrecken. Was mir in diesem Fall nicht wirklich half.
Für die Firma war relativ schnell ein Büro im Prenzlauer Berg gefunden. Mit der Wohnungssuche tat ich mich schwerer. Alles, was so ungefähr meinen (bereits heruntergeschraubten) Vorstellungen entsprach, war allerhöchstens für Doppelverdiener bezahlbar. Und der Rest, den ich besichtigen durfte, war eine Frechheit. Zweizimmerwohnungen, ein Durchgangszimmer, das zweite nicht heizbar, auf deren Böden sich alter PVC-Belag wellte. Dustere Kopfschußbuden in unrenovierten Häusern, die vorn einen Blick auf die Eberwalder Straße und hinten einen auf eine Beton-Mauer hatten. Gehypte „Luxuswohnungen mit amerikanischer Küche“, wo ein großes Altbauzimmer mit einer Mauer getrennt und in einem der entstandenen Schläuche drei Küchenschränke und ein Herd an die Wand gestellt wurden, dazu ein marmorgefliestes, fensterloses Minibad.
Ich weiß nicht, was mich an diesem Augusttag geritten hatte, als das Kind und ich zusammen mit einer Herde Studenten auf einen Besichtigungstermin in einem Haus unweit des Mauerparks warteten. Die Wohnung war ok. Zwei separate große Zimmer, ein langer Flur mit Zwischenboden, Küche und Speisekammer, gefliestes Bad, Stuck an der Decke und abgezogene Dielen. Der Haken: Erdgeschoß im Hinterhof und Außenwandgasheizer. Ich sagte ja, nachdem ich mir und dem Kind die Wohnung kräftig schöngeredet hatte. Außerdem hatte ich bei Besichtigungen ab dem zweiten Stockwerk heftiges Unbehagen verspürt, denn ich hatte Angst davor, irgendwann aus dem Fenster zu springen.
Ich verbrachte vier Wochen Urlaub, die mir mein zeitweiliger Firmenpartner wegen völliger Überarbeitung gab, damit, das Bad neu zu fliesen und die Wasserleitungen zu verkleiden. Danach ging es mir gesundheitlich noch schlechter (was ich mir auch an allen vier Fingern hätte ausrechnen können).
Der Umzug im November war eine Trauerfeier. Ich lief herum wie ein Zombie. Nur einmal wurde ich wach, sehr wach. Wir räumten noch verbliebenen Sperrmüll aus dem Haus, während ein graziler, fast unterernährter Afrikaner, den uns die Tusma geschickt hatte, versuchte, die Wohnung zu streichen ohne zusammenzubrechen.
Ich vermißte in einer der Kommoden meine Steinsammlung, fossilie Seelilienstängel, die ich jahrelang zusammengetragen hatte. Der Mann mit dem ich diese hysterische on-off-Beziehung führte druckste herum und rückte wenig später doch damit heraus: er hätte diese phallischen Dinger nie leiden können und sie deshalb vom Steg herab ins Wasser entsorgt. Und so sprang ich an einem grauen Novembersonntag, es schneeregnete, mit einem Wutschrei und meinen Schuhen und Klamotten ins Wasser, um zu retten, was ging.
Unser Ghetto, wie das Kind den Gleimkiez nannte, war schön. Vorn an der Straße war einer der besten Bäcker Berlins, in zweihundert Meter Entfernung die Kleine Eiszeit, das Colosseum-Kino, Boutiquen, Schnuppi- und Schnulliäden und jede Menge coole junge Menschen.
Sofern die coolen jungen Menschen in unserem Haus wohnten, borgten sie bei uns Stühle für ihre lautstarken Parties und wenn sie im Morgengrauen gingen, legten sie gern noch eine Zigarettenpause vor meinem Fenster ein, um laut über ihre Mitgäste zu lästern. Das Kind war leider noch nicht in dem Alter, wo sie mitfeiern wollte. Und überhaupt waren wir dort unter „das Lesbenpaar aus dem Erdgeschoß“ registriert, was sie schwer beschämte.
Die Luxusprobleme der Menschen über uns krass, mein Alter will mir die Kohle streichen, wenn ich noch mal wechsele waren nicht unsere. Wir betreiben an einem Ende der Küche einen Wandgasheizer, der uns fast ersticken ließ und an der einzig möglichen Stelle, wo der Küchentisch stehen konnte, herrschten freundliche acht Grad. Ich kaufte einen Elektroheizer dazu, damit wir morgens nicht zitternd frühstückten. Die Gasheizungen in den Zimmern erzeugten Feuchtigkeit, die Wäsche wurde nicht trocken und zusammen mit der aus dem Keller aufsteigenden Kälte kam der Schimmel. Nach vier Wochen signalisierte mir der Geruch, daß meine Matratze an der Unterseite Stockflecken bekommen hatte. Natürlich hätten wir mehr heizen müssen. Doch wenn wir in kalten Nächten die Heizer anließen, rechnete ich morgens aus, daß wir gerade die für den halben Monat kalkulierten Heizkosten verbraucht hatten. Dazu kam die Dunkelheit. Die Wohnung sah nur in den Spätsommertagen, an denen wir sie besichtigt hatten, vereinzelte Sonnenstrahlen. Sobald ich zu Hause war, machte ich das Licht an und schloß die Gardinen, weil ich keine Lust hatte, mir ins Zimmer sehen zu lassen. Das mag zum Lachen klingen, aber in dieser Wohnung war ich nicht einmal in der Lage, heimlich, still und leise im Bett zu onanieren (von Sex ganz zu schweigen). Ich hatte das Gefühl, die Leute, die über den Hof laufen, gehen durch mein Zimmer. (Kein Wunder am Fluß hatten wir in 250 Meter Umkreis niemanden.)
Im Frühjahr kamen juckende Stiche auf meiner Haut dazu. Jeden Morgen hatte ich neue. Wutentbrannt rief ich bei der Hausverwaltung an. Meine Vermutung war: Wanzen. Doch der Kammerjäger beruhigte mich. Es waren „nur“ die Flöhe vom Hund meines daueralkoholisierten Nachbarn.
Der Sommer ging einigermaßen. Wir lagen im Mauerpark in der Sonne und das Kind war am Wochenende bei ihrem Freund, die Sommerferien verbrachte sie in Kanada. Aber wir wußten, daß wir nicht noch einen Winter hier bleiben wollten. Unsere Pläne waren diffus. Das Kind sprach davon, auszuziehen.Wir besichtigten sogar einige Einzimmerwohnungen in der Nähe. Finanziell war das kein Problem, wie wir später mitbekamen. Durch eine Lücke in den Hartz-Gesetzen wären ihr der Umzug und Unterkunft und Lebensunterhalt bezahlt worden. Aber so clever waren wir nicht. Außerdem wäre es für mich wirklich das Letzte gewesen, vom Amt zu leben. Mir war es peinlich genug, für diese billige Bude sechs Monate lang Wohngeld zu beziehen. Aber die Zeiten waren hart. (Erst jetzt packen die Medienleute aus, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen ist. Die Schauspielerin, die im Callcenter Lottoverträge vertickt hat, die Werbetexterin, die sich ein Jahr lang in ihrer Wohnung verschanzte und von Müsli lebte. – Diese Liste läßt sich sicher fortsetzen.)
Ich hatte nichts als Blasen im Kopf. Mal besichtigte ich einen Bauernhof in der Prignitz, um in Zukunft von Landwirtschaft und Ziegenkäse zu leben, mal wälzte ich Pläne, um auf dem Grundstück meiner Eltern oder meiner Oma ein Blockhaus selbst zu bauen bzw. zwei Wohn-Container aufzustellen. Außerdem hatte der neue Besitzer des Hauses eine Sanierung bei lebendigem Leib angekündigt. Umsetzwohnungen gäbe es nicht, wer gehen wolle, könne gehen. Ansonsten wären Dreck und abgestelltes Wasser hinzunehmen.
Wie in so vielen Fallen hatte das Leben eine Lösung parat. In diesem Fall in Form eines Problems. Aber wie heißt es so schön: Probleme sind Lösungen.
Auf dem Rückweg von einer Preisverleihung in Köln hatte ich mich so stark erkältet, daß ich freiwillig im Bett bleib und meinen Teil der Geschäfte von dort aus weiterführte. Zwei Tage später ging es mir immer noch nicht besser. Im Gegenteil. Ich wachte morgens auf und konnte mich nur noch unter Jammern umdrehen. In meinem Bauch war etwas gewachsen, das die Größe einer Viermonatsschwangerschaft hatte. Und das drückte so auf die Rückennerven, daß ich vor Schmerzen heulte. Eine Odysse zu Ärzten begann. Mein Gynäkologe am Stadtrand, zu dem ich mit letzter Kraft gefahren war, zuckte nur die Schultern. Er hätte mir schon seit fünf Jahren gesagt, daß diese Geschwulst raus müsse und daß sie irgendwann entzündlich explodiert, hatte er mir auch schon prophezeit.
Bis zum OP-Termin blieben mir fünf Wochen, in denen ich eine neue Wohnung finden und den Umzug organisieren mußte. Denn nach dem Eingriff konnte ich nicht einmal einen Schrubber halten, geschweige denn eine Wohnungsanierung durchstehen. Nebenbei kam eine wichtige Präsentation in der Firma in die Endphase. Eine Arbeit, die über den Gang der Geschäfte für die nächsten zwei Jahre entscheiden würde. Kurz und gut: Es war die Hölle.
Kurzentschlossen mietete ich eine Wohnung im Plattenbau. Groß genug für mich und das Kind, unproblematisch heizbar, ohne Fugen, aus denen die Kälte oder Tierchen krochen, bezahlbar, weil Genossenschaft, mit der richtigen Größe für Unterstützungswürdigkeit bei sozialem Absturz, denn ich hatte Angst, daß in diesem Fußball in meinem Bauch der Krebs nistete.
Am Tag instruierte ich die Praktikantin, wie sie mich vertreten konnte und tat am Telefon so, als wäre alles in Ordnung, am Abend packte ich Kisten, die ich eigentlich nicht einmal mehr heben durfte.
Ich begriff: Ich war ganz unten angekommen. Es konnte nur besser werden.

3 Gedanken zu „Gleimkiez die zweite

  1. Ich finde Ihre Serie außerordentlich spannend. Interessant auch, daß es so starke Paralellen zwischen innen und außen gibt.

  2. REPLY:
    dem schließe ich mich an. wie relativ beschaulich mein leben doch dagegen verlaufen ist. meine wenigen umzüge hatten bisher immer nur mit „verbesserung“ zu tun.

  3. REPLY:
    keine angst, es wird ja wieder besser! das ist doch die große dramatische krise vor dem happy end…

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