Mein Mauerfall

Jubiläum und kein Ende

Während um mich herum alles im Jubiläumsfieber ist und die Historisierung der Ereignisse mehr und mehr anläuft, bleibt mein Gefühl für die Zeit zwischen Oktober und November 1989 im Privaten zurück. Mir sind da grade zu viele Welterklärer unterwegs, die nur noch Informationen aus dritter und vierter Hand repetieren und in wohlfeile Form bringen. Ich habe 25 Jahre in der DDR gelebt und nun 25 Jahre im vereinten Deutschland. Mir muss keiner mehr was erklären. Aber auch ich muss mich nicht erklären.
Es ist alles schon aufgeschrieben:

Wie es wirklich war
Wiedermal
Auch 20 Jahre I
Auch 20 Jahre II
Fünfundzwanzig
Die Leichen in unseren Kellern. Ein Lamento
War da was mit Mauer?
Einheitsbrei

Herkunft ist kein Verdienst

Ich fühle mich ok., aber ich habe nach wie vor einen feinen Sensus für kulturellen Kolonialismus. Für Menschen, die mir erklären wollen, dass meine Prägung nichts wert ist. Die glauben, dass ihre Art zu leben und zu denken die einzig richtige ist.
Von hochintellektuellem Gedöns bis hin zu „Ihr blöden Ossis seid so hinterm Mond, dass ihr sogar noch Scheuersand nehmt!“, garniert mit aggressivem, hämischem Lachen. Von einer Frau aus einer asozialen Stahlarbeiterfamilie aus dem Pott. Es ist für ein armes Würstchen immer willkommen, jemanden zu finden, der einem das Gefühl vermittelt, doch ein bisschen mehr wert zu sein.

Es hat sich so viel verändert. Die Menschen, die vor 25 Jahren aus dem Arbeitsleben gerissen wurden, ihre gesellschaftliche Position verloren, die Kurve nicht bekamen und zu Jammerossis mutierten, sind heute recht gut versorgte Rentner.
Ich habe eher das Gefühl, dass der westdeutsche way of life nicht hinterhergekommen ist. Dieses archaische Frauen- und Familienbild passt nicht mehr in diese Gesellschaft, die aus dem Osten genügend Frauen bekommen hat, die in der Regel ohne großes Geschrei ihren eigenen Weg gehen. Vielleicht, weil sie kein Fallback hatten oder andere Rollenvorbilder, aber das ist ok. so.

Ich lebe heute in dem Viertel um den Rosenthaler Platz in Berlin, diese Gegend ist kaum noch einheitsdeutsch, sie ist international. Hier hat beides, sich genuin westdeutsch oder ostdeutsch gebärden, den Status von possierlicher Brauchtumspflege.

Was vom Tage übrig blieb

Sandmännchenpastete. Ostdeutsches Kindheitssymbol meets Westdeutsches Formfleisch.

 

Edit: Lesenwert

Ich habe den Herbst ’89 noch im Körper

Die Tagebücher von Frische Brise

Dieser Tag

Für die Eltern war es der Tod von Stalin oder der Mord an Kennedy. Für uns waren es der Fall der Mauer und 9/11.

Ich saß im Büro und musste etwas tun, was ich sonst standhaft verweigerte: Ich rief einen Produktionsleiter wegen einer Vertragsverhandlung an, denn er ließ mich schon recht lange warten. Man lässt sich eigentlich anrufen, das ist oberstes Gebot, damit die Verhandlungsrichtung stimmt. Doch die Klientin, um deren Job es ging, war ungeduldig und drängelte.
Im Produktionsbüro war die Sekretärin dran, die verdruckst meinte, der Chef sei nicht da. Ich glaubte ihr nicht recht und fragte nach, wo er denn sei. Wenn jemand die Verhandlung verzögert und sich verleugnen läßt, ist das oft kein gutes Zeichen für das Projekt.
Er sei im Hotelzimmer, meinte sie. WTF?, dachte ich, mitten am Tag, in der heißen Phase? Ja, meinte die Frau, meine Verwunderung spürend, er sitze vor dem Fernseher und setzte hinzu: Da sei ein Flugzeug abgestürzt, in dieses Handelszentrum.
Alle verrückt geworden!, war mein Fazit aus diesem Gespräch, verarschen kann ich ich allein und ließ mir die Nummer vom Hotel geben, vor meinem Inneren Auge das Gebäude, das einmal Internationales Handelszentrum von Honeckers Gnaden war und in Berlin direkt am S-Bahnhof Friedrichstraße liegt.
Ich wählte die Nummer vom Hotel. Der Mann meldete sich und wartete gar nicht ab, was ich wollte.
„Ich gehe heute bestimmt nicht mehr ins Büro. Schalten Sie den Fernseher an, da zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen. Das ist Krieg, das ist kein Zufall.“ Ich hatte noch immer den Gedanken, dass der Mann schlicht verrückt geworden war.
Es gab im Büro keinen Fernseher und also suchte ich nach Informationen im Netz. Mager, aber es war wohl keine Lüge, da war was passiert. Ich wählte mich in meinen alten AOL-Account ein und sah, es stimmte. Ich sah die Fotos der rauchenden Türme. Auf dem Ticker wurde der Zusammenbruch des einen gemeldet. Es gab einen Videostream, aber der war überlastet. Ich ging über den Hof in die Wohnung. Ich hatte seit Jahren tagsüber das Büro nicht verlassen. Arbeitsethos. Seit dem Telefonat mit dem Mann im Hotel hatte ich das Gefühl, ich würde gleich aufwachen. Das, was da passiert sein soll, klang nach Hollywood-Action, nicht nach der Realität.

Es war das zweite Mal im Leben, dass ich vor dem Fernseher saß und spürte, dass sich die Welt mit lautem Knirschen in den Angeln bewegte. Beim Mauerfall heulte ich vor Glück, jetzt war ich erstarrt. Ich sah die Bilder in Endlosschleife, schaltete schaltete reflexartig auf CNBC und sah die Börsenkurse fallen. (Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ob das stimmt oder ob die Börsen geschlossen wurden.)
Ich verarbeitete die Informationen in vielen verschiedenen Abteilungen meines Inneren. Ab einem bestimmten Maß von Tod und Sterben komme ich mit den Gefühlen nicht mehr mit, da schließt sich die mentale Panzerung.
Die Geschäftsfrau nahm Abschied von großen Projekten, der Medien-Markt wackelte ohnehin schon, jetzt würde er rasant zusammenbrechen. Die Agentin lachte fassungslos ob des Umstands, dass gerade eine gut vorbereitete Pressekampagne anlässlich einer wichtigen Preisverleihung an den thematisch umgestellten Feuilletons abprallen würde. Die Mutter schrieb unsichtbare Überlebenschecklisten. Das Ostblockmädchen wußte ohnehin, was jetzt kam. Mobilmachung, Krieg, Atombomben und suchte nach dem nächsten Bunker.
Der Rest von mir hörte auf, mit dem Firmenpartner zu streiten und sah sich im Fernsehen Hollywoodschmonzetten aus den 50ern und Heimatflime an.

Den nächsten Actionfilm ertrug ich erst wieder 2005, das war die wodkagetränkte Aufführung von „Wächter der Nacht“ bei der Berlinale.
Ich hatte eine lange religiöse Phase, betete viel, begann ein Katechumenat, verstand die Rituale nicht, weil ich doch nur Trost suchte und sah dann doch davon ab, mich taufen zu lassen.
Dass die Welt dreizehn Jahre später an der Schwelle zur Totalüberwachung steht, dass Szenen aus 1984 wahr werden, das hätte ich mir nicht träumen lassen.

PS. Und daß ihre Totalüberwachung bei jedem schwerwiegenden Ereignis versagt, wo man diese Unmengen Daten zu etwas brauchen könnte, kann man diesen erbärmlichen Datenmesssies nicht einmal vorwerfen. Weil sie die Schraube dann womöglich noch weiter anziehen würden.

Veröffentlicht unter Exkurs

Kindersachen

Immer mehr Mütter sind genervt darüber, dass Waren für Kinder gegendert sind, das betrifft scheinbar jeden Bereich, Kleidung, Spielsachen, Süßigkeiten. Alles „für Jungs“ oder „für Mädchen“. Das Nuf macht sich hier Luft, auch Frischebrise schreibt über ihre Kinderkleider. Ich dachte gestern die ganze Zeit nach.
edit: Frau Quadratmeter schildert das Rosa-Glitzer-Grauen übrigens live.

Letztlich ist dieser Trend – zumindest für mich – nur eine Marketing-Momentaufnahme. Das kann in zwei Jahren vorbei sein. Man will halt Waren verkaufen und hat scheinbar einen Nerv getroffen, außerdem, wie jemand auf Facebook treffend bemerkte: Wenns nicht unisex ist, kann man es doppelt verkaufen. (Kann aber auch doppelt nach hinten losgehen, ist nämlich teurer in der Herstellung. Insofern bin ich da gelassen.)

Was Kleidung für Kinder betrifft, ist das noch ein bisschen anders, das geht tiefer als der platte „Habenwill“-Impuls, weil die Eltern (und Großeltern) weitgehend bestimmen und weil Kleidung extrem viel Aussage hat. Das ist wie bei der Tracht, auch wenn sich die Differenzierung durch moderne Konfektion etwas verwischt hat. Aber man kann Gesinnung, Gesellschaftsschicht, Reichtum, Körpergefühl und Lebensumfeld etc. daran ablesen.

Klein Kitty

Wurde von meist von Oma angezogen. In den 60ern, die in der DDR ja noch vorsynthetische Zeiten waren, hieß das erstens, was da war und zweitens was praktisch und gut waschbar war. Das war die Zeit, in der sich Sachen noch in „für gut“ und „für jeden Tag“ teilten.
Als Baby trug ich weiß, hellgrün oder gelb. Babykleidung war neutral, um sie wiederverwenden zu können, für das nächste Kind in der Familie.
Oma strickte Pullover und eine Art Leggings für mich, Kleider für jeden Tag gab es nur im Sommer, aber auch da trug ich eher Lederhosen oder ausgebeulte Trainingshosen und Gummistiefel.
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Wir spielten draußen, kletterten auf Bäume, bewarfen uns mit Sand und sauten uns ein. Wir, das hieß ich und ein paar Jungs. Ich fand mit Puppen und Mädchen spielen eher blöd. Da Oma zwei Jungs aufgezogen hatte, fand sie das ok. Ich habe nie von ihr gehört, dass ich dasunddas nicht…, denn ich sei ja ein Mädchen.
Meine Haare waren deshalb zu meinem Leidwesen immer kurz. Oma hatte sich als Kind mal mangels Kämmzeit – die Eltern standen schon im Laden, das Dienstmädchen ziepte in ihren Haaren rum, da wollte sie sich selbst kämmen – einen Weichselzopf zugezogen, was Drama und Haare scheren nach sich zog. Deshalb bekam ich alle vier Wochen meinen Bubikopf geschnitten.
kleinkitty3Kleider trug ich sonntags, wenn Opa da war, denn ich war sein Mädele. Die waren oft eine Nebenproduktion der Schneiderin und es wurden Reste der Stoffe verwendet, aus denen die Sachen von Oma waren. – und Oma war ne schicke Dame.
So wurde ich dann ausstaffiert und das war ein Riesenbohei, denn die Stoffe waren samt und sonders schlecht waschbar. (auch Kord trug als besonderes Merkmal die Bezeichnung „Waschkord“)
Dann gab es noch die Zu-Hause-Einheits-Kinder-Kleidung Strumpfhose und Pullover, was praktisch war, denn zum rausgehen musste man nicht das ganze Kind umziehen, sondern zog ihm nur eine Hose oder einen Rock und eine Jacke drüber. Ich habs gehasst, weil ich das Gefühl hatte, mit entblößtem Hintern unterwegs zu sein.
(A propos Gender, mein armer Bruder bekam mal von der anderen Oma etwas genäht, das nannte sich Kittelchen, ja, früher trugen kleine Jungs Kleider, der Matrosenanzug war nur für gut.)
Rosa war für Mädchen ein NoGo, weil viel zu empfindlich.

Das erste, was ich durchsetzte, als ich zu meinen Eltern umsiedelte, waren lange Haare, ich wollte unbedingt Zöpfe. Das nächste waren Kleider. Mein Lieblingskleid war ein Dirndl mit abstehendem weitem Rock. Je weiter und länger Röcke waren, desto mehr liebte ich sie. Außerdem hatte ich eine ganz große Liebe für Tutus, bekam aber nie eins.
Meine Mutter fand die langen Haare gut, alles andere planierte oft der Alltag. Die Oma-Kleider vernichtete sie in einigen beherzten Waschgängen, die hätten in die Reinigung gemusst. Die bunten, schmalen Nylon-Minikleider, die in den 70ern aufkamen, waren für den Alltag viel zu unpraktisch, weil man entweder drin fror oder schwitzte und ich fand die blöd, weil man halbnackig darin war und weite Röcke hatten die auch nicht.
Dann wurde ich mit den Jahren schnell größer und moppeliger, aus gehüteten „für gut“-Klamotten war ich oft rausgewachsen, bevor ich sie ein zweites Mal tragen durfte. Meine Mutter hasste Einkaufen und Besorgen (denn mit Einkaufen war es in diesem Land nicht getan) und Oma nähte praktische Dinge aus vollsynthetischen Möbelbezugsstoffen. Es war eine schlimme Zeit, in der ich vorwiegend üble Schlaghosen und irgendwelche abgelegten Erwachsenenpullover trug, denn in Kinder-(und schicke Mädchen)sachen passte ich nicht mehr rein. Röcke verboten sich außerdem von selbst, weil Nylonstrumpfhosen mit meiner Teenager-Schamgrenze kollidierten und unbezahlbar waren, außerdem viel zu schnell kaputtgingen. Dicke Wollstrumpfhosen waren was für Kleinkinder. Wir waren den ganzen Tag unterwegs und die Dinge die uns umgaben, ziemlich schmutzig und runtergeritten, die Sitten unter den Kindern waren ruppig (der Ruf: „Iiiieh! Schlüpper!“, wenn mal irgendwo eine Unterhose zu sehen war, konnte einen für Tage zum Paria machen). Da war Kleidung praktisch, dunkel und bedeckend. Und nur Mädchen mit ganz alten Eltern oder vom Dorf waren noch so angezogen wie Mädchen. Man hielt mich oft für einen Jungen, wenn ich meine Haare kurz trug.
Auch da, nirgends rosa. (Pink war ja noch nicht erfunden) Die 70er waren knallgrün, orange, aber vor allem blau und braun. Dabei liebte ich violett und altrosa und irgendwann setzte ich bei einem Spitzen-Häkelpullover mit Puffärmeln wenigstens Magenta durch (den ich nie anzog, weil ich halbnackt darunter war und fror). Aber Rosa war was für Babies und Violett für alte Omas und ich solle mich doch nicht lächerlich machen – so wurde mir das verwehrt.
Es gab auch nicht viel Variationsbreite. Wir hatten nicht so viele Sachen im Schrank, da machte man keine Farbexperimente.

Was wunder, dass ich, als ich mit 14 oder 15 über meine Sachen selbst bestimmen konnte  – also als ich sie selbst bezahlte bzw. machte oder aber meine Mutter in einem Urlaub Spaß daran bekam, für mich zu nähen – erstmal nur selbstgefärbte Violett- und Beerentöne trug (Rosa war zu albern und machte einen dick), dazu gewagte geschnürte Rückenausschnitte, weite Säume und Röcke bis zum Boden. Ich trug die ganze als unmodern und unpraktisch verschriene Frauenkleidung mit Lust, ich wollte schön und kostbar sein, ein wenig heikel und prätentiös und ich wollte sexuell aufgeladen wirken. Ich wollte keine von den verwaschenen Unisex-Frauen sein, die morgens „in den Betrieb“ schlichen.

Klein Ada

Was wir an Dingen mit unseren Eltern haben, geben wir an unsere Kinder weiter entweder im bewussten Widerstand oder in der unbewussten Wiederholung. Zunächst aber nähte ich Kindersachen für Klein Ada, denn wir hatten ja nix. Das heißt, erst gab es Strampelanzüge in Mengen, aus einem Westpaket von der Cousine des Gatten, die drei rothaarige Mädchen hatte. Die waren entweder rosa oder anderweitig pastellfarben, dann hatte die Oma sie gekauft oder orange/knallgrün/braun/blau, dann waren sie von den Eltern. Stickereien, Bildchen und Applikationen waren der Hit darauf, das gab es im Osten nicht, zu aufwändig. Ein wunderschönes hellblaues Hängerkleidchen war dabei, fast bodenlang, im Osten als Produkt unausdenkbar. Als Klein Ada das mit anderthalb Jahren bei einem Ausflug in den Tierpark trug, haben die Leute sie fotografiert, weil sie so niedlich aussah.
Ich hatte eine kleine Erstausstattung genäht, in weiß (weil kochfest), mit Molton gefüttert und himmelblau abgesteppt. Ich liebte blau-weiß. Jungs- und Mädchenfarben waren mir egal und ich wußte nicht, ob es Junge oder Mädchen wurde. Später nähte ich robuste dunkle Sachen für den Spielplatz und die Straße. Wir hatten ja kein Auto und ziemlich unzuverlässige öffentliche Verkehrsmittel, alles musste wetterfest, warm und schmutzabweisend sein.
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Auf diese Jacke war ich besonders stolz. Cord-Patchwork und das Futter mit dem kleinen Maulwurf, die habe ich sogar selbst entworfen. Die Frisur stieß auf wenig Gegenliebe der Umwelt. Ich schnitt ihr mal in einem Ritt die ganzen goldenen Löckchen ab, weil sie immer zappelte und ich keinen graden Schnitt hinbekommen hätte. „Wächst ja nach“, dachte ich. Meine Umwelt hätte mich fast gesteinigt, die Leute waren echt sauer. Warum mein Kind aussehen müsste, wie ein kleiner Russenjunge? In den Augen der Nachbarn und meiner Schwiegereltern war das knapp an Kindesmisshandlung – ich hatte wohl einem Kind die sexuelle Identität weggenommen.

Kleiner Exkurs mit ein paar Fragen

Was bedeutet es, wenn dem Kind seine sexuelle Identität angesehen werden kann? Ist diese  – kulturell unterschiedliche aussehende – Botschaft wichtig? (Mir sind jetzt mal alle Zwischenstufen zwischen XX und XY egal, darum geht es mir nicht.) Was ist das für eine Botschaft? Es könnte heißen: „Ihre Unberührtheit ist das höchste Gut unserer Familie!“ Oder „Leute, schaut mal, das zukünftige Familienoberhaupt!“ Oder aber „das ist schon ein vollständige Persönlichkeit“! Oder aber auf eine starke Eltern-Kind Symbiose hinweisen: „Ganz der Vater“ „Ganz die Mutter“, „mein kleiner Mann!“, „meine Prinzessin!“

Selbst Naturvölker differenzieren in Mann und Frau, seit es Körperschmuck und Kleidung gibt. Sie leben oft sogar getrennt. Kleine Kinder sind meist Neutren, oder? Eben dieses Gewusel, die ständig zur Welt kommen, aus dem ein paar überleben und vollwertige Mitglieder der Sippe werden. Dafür braucht es Initiationsriten, die jeweilige Aufnahme in den Kreis der Männer oder Frauen.  Erst dann ist ein Kind ein Individuum mit definiertem Geschlecht.
Könnte es sein, dass unsere heutige Geschlechterzuschreibung von Kindern mit ihrer Individualisierung, der frühen Anerkennung des Kindes als vollwertige Persönlichkeit bei gleichzeitiger starker Symbiose mit den Eltern zu tun hat? Und außerdem damit, dass wir auf ihre individuellen Wünsche eingehen?

Westklamotten

Nach dem Mauerfall freute ich mich über hübsche Sachen. Bei H&M gab es die ersten Kinderkollektionen und die waren in meinen Augen toll. Ich kaufte Matrosenkleider, ein Pioneer Dress und ein wunderschönes biedermeierlich aussehendes rosa Kleid mit Streifen und Rosenknospen und einer weißen Rüschenschürze. Einziges Problem: Die Sachen waren aus reiner Baumwolle und mussten umständlich gebügelt werden. Es gab auch Hosen und Pullover, aber die fand ich nur halb so interessant, die gabs bei C&A auch, das war die übliche Kleidung. Klein Ada und ich (im Look eher düster-dramatisch 80ies), waren schon ein Hingucker und machen wir uns nix vor, Menschen, die als attraktiv empfunden werden, bekommen viel positive Aufmerksamkeit entgegengebracht und es öffnet sich so manche Tür. Das war aber nicht die Absicht dieses Looks, platter Attraktivitätsbenefit hat mich nie interessiert, ich freute mich eher über die vielfältiger gewordene Welt, die nicht mehr in dumpfen „nur nicht auffallen“-Vorschriften erstickte, aber eine Nebenwirkung.
kleinada3Nun lief das Kind nicht ständig wie ein Zirkuspferd herum. Es pendelte sich irgendwo zwischen, hübschen, aber praktischen Kleidern und vor allem Hosen und Sweatshirts ein.
Ich zitiere mal @adagripsholm: „Man hat einfach viel labbrige Jeans getragen. Viel jeansblau, orange, lila, rot, blau und eben echt Unisex-Motive: Alf, Drachen, Pferde (aber nicht My Little Pony sondern eher wilde Pferde auf einer Koppel). Und es gab nicht so viel Merchandisemotive, wie Hello Kitty für Mädchen und Star Wars für Jungs.“
Und da war plötzlich Pink, aber nicht nur. Die Farben für Kinder wurden schriller, intensiver, leuchtender. Die Sachen wurden billiger, einfacher zu waschen, sie behielten ihre Farben und man trug sie nicht mehr so lange.
Und es gab merkliche Unterschiede zwischen bürgerlichen Eltern, die viel Geld für Kleidung ausgaben und bunte Bildchen, die oft mit schrillen Farben und Geschlechterzuschreibung verbunden waren, vermieden und Arbeiter-Eltern, die „richtige“ Jungs und Mädchen großziehen wollten und die bunten Bildchen liebten, genau wie sie das bunte Privat-Fernsehprogramm liebten, vor dem sie die Kinder parkten.

Wenn ich es mir recht überlege, geht das Schrillbuntwerden einher mit der Farbästhetik in den Privatsendern und dem billiger werden von maschinell hergestellten  oder in Billiglohnländern zusammengestöpselten kurzlebigen Produkten. Zuerst fielen mir  dabei japanische Zeichentrickserien ein. Das sind auch die kulturellen Einflüsse, die kindliche Mädchen sexualisieren. – Aber nicht nur.
Kulturelle Pattern sind eine Echokammer. Die Reflexe kommen von allen Seiten und bilden Muster, die nicht logisch herzuleiten sind, unsere Kultur ist wie ein Kaleidoskop. Warum sollte sonst ein Badeanzug Bikini heißen, mit Logik hat das nix zu tun. Und eine globalisierte Warenkultur bekommt ihre Einflüsse von überallher.
Billig gemachtes Fernsehen muss wie alle billig gemachten Dinge bunt und stark bebildert sein für den Aufmerksamkeitswert, sonst ist der Konsumreiz in einem riesigen Angebot weg.

Dazu habe ich auch noch mal den Grafen befragt, weil ich es nicht herleiten konnte. Arme Gesellschaften schwelgen in üppigen Formen und bunten Farben, sobald sie sie herstellen können. (Das ging mir ja genauso, aus dem schrappeligen, grauen Ostblock kommend, schwelgte ich in Provokation, Farben und Formen.) Bunte Farben haben einen hohen Signal-Reiz, aber wenn alles bunt ist, muss der Reizregler höher gedreht werden. Dann wird zu den Farben gegriffen, die in der Natur kaum vorkommen: Magenta, Pink, Cyan, Purpur. Dann lässt man die Farben, sobald das technisch möglich ist, leuchten. Durch selbstleuchtende Bildschirme oder einen hohen Gehalt an optische Aufhellern. Das überschreit sich dann, nicht umsonst habe edle oder elitäre Produkte wieder eine schlichte Ästhetik.
Vor 15 Jahren war Privatfernsehen noch unisex, weil man gemeinsam Medien nach festem Zeitplan konsumierte. Heute spaltet sich das, weil Medienkonsum vereinzelt passiert. Und so können die Bedürfnisse einzelner Individuen angetriggert werden, da das aber global passiert, mit sehr starken, archaischen Reizen.

Melange mit Grundmustern

Was mich fasziniert ist, dass momentan Strömungen parallel in die gleiche Richtung laufen und damit ein ganz massiver Eindruck entsteht.
Die Traditionalisten, die „richtige Jungs“ und richtige Mädchen“ im klassischen Rollenverständnis großziehen, gendern ihre Kinder derzeit genauso wie die Eliten. Bei letzteren ist sicher der „ganz der Vater“-Stolz dabei, wenn Thorben-Ludwig mit sechs Monaten eine Miniausgabe der braunen Chinos und des dunkelblauen Polohemds von Papa trägt. Und Sara-Emilia hat von Mama das gleiche Kleid genäht bekommen, das sie auch trägt (denkt noch wer an meine Oma und meine Kleider?). Dazu gibt es Unmengen von Eltern, denen der eigene Wille des Kindes über sozialen Schranken und Bewertungen steht. Und Kinder kennen keinen Standesdünkel und wenig Grenzen. Sie schnappen alles auf, was sie toll finden und integrieren es so anarchisch wie bei einem Karneval in ihr Leben, wenn sie niemand daran hindert wie das unsere Eltern mit ihrem „das macht man nicht“ getan haben. Barbies, Nagellack, Ritterschwerter, Autos, pinke Leggings, Tutus und Zauberstäbe.

Warum sich das gerade scheidet in Zipfelchen und Zöpfe? Weil der Markt damit ein Echo in den Konsumenten findet? Weil globale Marketingstrategien damit in traditionellen Gefilden wie modernen funktionieren? Weil gegen „Jungsidentifikationsgeschichten“ (Ritter und Piraten) mittlerweile „Mädchenidentifikationsgeschichten“ (Hexen und Feen) stehen? Das ist eine Marktdifferenzierung und zugleich -spaltung. Antje Schrupp meint, das Überraschungsei für Mädchen sei in Rücksicht auf Jungen entwickelt worden. Um zu verhindern, dass traditionelles männliches Geschlechterverständnis beschämt oder gelangweilt wird, wenn auch (als geschlechtsspezifisch interpretierte) Mädchenbedürfnisse beachtet werden.  Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Da Jungendinge und -kleidung immer unscheinbarer sind, als Mädchensachen, separiert man sie voneinander, um sie besser wahrnehmbar und erzählbar zu machen

Nix mehr mit Jungsgeschichten, die Mädchen nicht lesen dürfen, weil man sie mit „Trotzköpfchen“ sozialisiert. Keine Geschichten mit männlichen Helden, in die sich Mädchen nur unter Geschlechterverkehrung hineinträumen. Keine „die Kinder“-Geschichten aus dem antiautoritären Zeitalter mehr. Aber auch kein Hogwarts-Unisex.
Die gegenderten kulturellen Pattern von heute sind düster-metallisch-technisch-stark für Jungen und zart-leicht-irrational-schön für Mädchen. Die Botschaft an die Jungen ist: Sei ein Held, habe die Macht, beherrsche die Technik. Die Botschaft an die Mädchen: Sei sehr attraktiv, beliebt und etwas übersinnlich.

Kinderkleidung kann heute durch Wohlstand und Produktionsmethoden mit wesentlich in individuellerem Ausdruck aufgeladen werden, der fundamentalste wie auch überall gleichartigste Unterschied, den man bei einem in einer globalen Welt an einem Individuen einer Alterskohorte festmachen kann, ist das Geschlecht. Damit lassen sich Produkte fast weltweit doppelt verkaufen.
Wenn sich in einer Gesellschaft Jungen und Mädchen gleich bewegen dürfen und gleiche Teilhabe haben, können Jungen- und Mädchensachen nur noch emotional vermarktet werden. Und emotionales Marketing spricht Traditionalisten genauso an wie Moderne. Das Argument „Zieh ein Kleid an, mit einer Hose gehst du mir nicht auf die Straße“ funktioniert nur in einer Welthälfte. Die Geschichte „das ist ein Lilifee-Kleid“ in beiden. Wenn es aber den Mädchen-Trigger gibt, kommt der auch auf Dinge, die beide Geschlechter benutzen, also brauchen auch die Jungen ihren emotionalen Trigger, um ihre Identität zu wahren – eh voila – „das ist eine Piratenhose!“ Was sich vorher nur mit Farben überschrie, überschreit sich nun  mit Botschaften.

Das ist der „Same, same, but different“-Effekt. Aber der Spuk ist sicher so schnell vorbei wie er kam, da überlagern sich gerade Wellen.

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