Vigil 77

Keine Ahnung, wie es passiert ist, aber irgendetwas hat leise *klick* gemacht. Mir geht es so gut, wie seit sechs oder sieben Jahren nicht mehr. Nicht dieses wütend-euphorische Wohlgefühl, dieser trotzig-triumphierende Boost, sondern ein leichter Fluss, mal langsamer, mal schneller.
Ich habe mir vor ein paar Wochen eine Zeit-Struktur gebaut, die zu funktionieren scheint. Ähnlich wie die, die ich früher hatte, nur kürzer. Mein Tag ist geteilt in konzentrierte Kopf- und lockere Handarbeit. Plötzlich ist er lang und es gibt Zeit für Pausen. Ich verzögere weniger und schaffe mehr, weil ich auf dem Weg dahin nicht herumtrödele. Ich habe kaum noch Durchhänger und wenn ich müde bin, schlafe ich eine Viertelstunde, so viel Zeit muss sein.
Allerdings hat das auch einen Preis. Ich kommuniziere weniger und bin sehr zurückgezogen. Social Media rauscht irgendwie vorbei und Twitter und Facebook interessieren mich kaum noch. Wenn ich jemanden im RL treffe, ist das intensiv und danach brauche ich eine Pause.
Wie weit das beruflich tragen wird, wird die Zeit zeigen. Aber ich fühle mich damit sehr wohl.
Mein Kopf ist irritiert über die Abwesenheit von Drama. In mir geistert eine olle Kassandra herum, die in leisem, nörgelndem Ton schlimme Dinge prophezeit. Krankheiten, Katastrophen und und Strafen.
Das geht doch alles so nicht. Mir kann es doch so einfach ohne übermäßige Anstrengung gut gehen.

Wie bescheuert ist das denn?

Vigil 76

Das Wetter darf so bleiben. Zwischen 18 und 25 Grad und wenn es mal einen Tag wärmer ist, kommt nachts ein Gewitter und kühlt und befeuchtet.
Mittags sollten ein paar Wölkchen kommen, damit es nicht zu sonnig ist und abends gibt es einen klaren Strahlehimmel für den Sonnenuntergang.

Machen wir das so? Wer schreibt denn dafür eine Online-Petition?

Vigil 75

Ein wunderbarer Frühsommertag, die sehr sympathische Frau Caro kennengelernt. Einmal am Maybachufer rauf und runter, natürlich brauche ich keinen neuen Stoff und komme doch mit sorbetfarbener und schwarzer Tüllspitze, gelbschwarzem Paysley und geranienrotem Jersey wieder. Erstere für zwei Wickeltops, mittleren für einen Dreiviertelteller und letzteren für Nachthemden.

Dann etwas schlafen und an den Goldfischlein weiterarbeiten.
fischi

Am Abend ein türkisches Essen mit Frau Mamamachtsachen. Dann zurückradeln mit Vollmond, Sprossergesang und duftenden Robinien.

Der Tag war durch und durch nähnerdig. Frau Kaltmamsell war im Fashion Museum in Bath und wunderte sich, dass bis auf das Kleid von Königin Victoria nur Kleidung für schlanke Figuren ausgestellt war.

Nun stellen sich mir aus dem längeren Kommentar-Dialog auf Instagram einige Fragen. Ich verpacke sie mal in Thesen:

  1. Das Fashion-Museum stellt tatsächlich nur Modelle aus, die unserem Begriff von modisch-schöner Kleidung entsprechen, also für schlanke und zierliche Menschen. Die Modelle für nicht schlanke Menschen bleiben im Fundus.
    Das lässt sich sicher durch Nachfrage klären.
  2. Die ausgestellten Modelle sind die, die erhalten sind. Sie passten sonst niemandem bzw. konnten nicht mehr umgearbeitet werden und blieben deshalb irgendwo für weitere Verwendung liegen und wurden vergessen. (Das habe ich und auch andere so gehört.)
    Das entspricht dem, das gesagt wird, dass die Stoffe, die für die Kleidung der Oberschicht verwendet wurden, so wertvoll waren, dass sie bis zum Auseinanderfallen aufgetragen wurde und die Materialien immer wieder in andere Kleidung umgeschneidert wurden – für ärmere Verwandte oder neue eigene Kombinationen – so dass sie sich am Schluss auflösten oder eben nur noch kleinen und sehr schlanken Menschen passten. – Was auch die Vorstellung nährte, unsere Vorfahren wären alle extrem klein, zierlich und dünn gewesen.
    Das deckt sich ebenfalls mit meiner Beobachtung. Letzte Woche sah ich eine Kleidungssammlung von ca. 1750 bis in die 1980er. Die Kleidung der vorindustriellen Zeit (d.h. Ausführung und Verzierungen sind Handarbeit, schöne Farben sind nur auf Wolle und Seide möglich) waren ausschließlich schmale und schlanke Modelle, spätere Kleidung war für alle Figuren gemacht. Diese Sammlung war komplett ausgestellt, da war nichts im Fundus, weil es für nicht normgerecht oder unattraktiv gehalten wurde.
    Das deckt sich ebenfalls mit der Beobachtung, dass Vintage-Eingrößenschnittmuster vorwiegend in sehr kleinen Größen erhalten geblieben sind – diese wurden selten verwendet und bleiben liegen.
  3. Das Weiterverwenden von Kleidung innerhalb höherer Gesellschaftsschichten gab es in England nicht. Kleidung wurde höchstens an Dienstboten weitergegeben.
    Gegenthese: Wo bleibt das Distinktionsmoment, wenn die Zofe transparentes Musselin und bestickte Seide trägt?
    War England so reich, dass man sich modische Unikate leistete und diese nach Verwendung liegen ließ?

Ich würde da sehr gern Licht ins Dunkel bringen, das interessiert mich.

PS: Aha, es gibt tatsächlich im 18. Jahrhundert einen großen Unterschied in der Kleidung der kontinentaleuropäischen Oberschicht und der englischen. Das schlägt sich auch in Namen wieder. Es gibt die Robe à l‘ Anglaise und die Robe à la Française.
Der Kleidungsstil des englischen Landadels ist schlichter, praktischer und mehr Understatement. Der französische Stil zitiert selbst fern von Paris die Kleidung der Salons und der Höflinge, was sich in verspielten Details und Silhouetten und Unmengen von Stoff äußert.
Mit der französischen Revolution wird mehr und mehr der englische Stil beherrschend.

Das erklärt die Frage, ob englischen Damen ihre Kleider auch an Dienstboten weitergaben.
Die Frage, warum in Bath nur Kleider für schlanke Menschen zu sehen sind, ob das ein Konzept ist, klärt es nicht, da werde ich nachfragen.

Edit: Suschna hat den Impuls aufgenommen, was mich sehr freut.

Vigil 74

UpRecycling oder Die Odyssee eines Vorhangs. In den 70ern aus Verlegenheitsstoff von des Grafen Oma genäht, hing er Jahrzehnte im Bad. Dann wurde er von uns zum einwickeln und transportieren von etwas Zerbrechlichem genutzt. Danach lag er ewig im Kofferraum und wurde um ein Haar zu Putzlappen verarbeitet.
Aber der Graf hat ja einen Blick für Details. Das Muster gefiel ihm und als wir die Standard-Ikea-Fusselmatte aus dem Bad entsorgten, erkor er das alte Stück Stoff zum Nachfolger.

Ich trennte den Vorhang auseinander, fütterte den Stoff mit einer alten Fleecedecke und steppte Bahnen darauf – und nun ist er wieder in einem Badezimmer und hat ein zweites Leben.

matte