Die Leichen in unseren Kellern. Ein Lamento.

Vor drei Tagen schickte das Kind die Nachricht, dass der Lehrer, der ihre Klasse zum Abi geführt hat, IM war. Hinter den Link mit den Fakten hatte sie Emoticons mit großen, entsetzten Kulleraugen gesetzt.
Ein Schock. Für sie und auch für mich. Alle, aber der doch nicht, dieser renitente Typ, der niemandem nach dem Munde redete und lieber Ärger riskierte, als klein beizugeben. Der Typ mit der langen Matte und prinzipiell ohne Anzug. Der zusammen mit seiner Klasse durchboxte, daß die Schüler ihren Abi-Ball selbst organisieren konnten. Dann gab es eben zwei Abi-Bälle, den langweiligen der Schule und den schönen, den die Schüler organisiert hatten. Trotz des Verbotes ihres Chefs waren viele Lehrer gekommen. Das Kind hielt eine Laudatio auf ihn, denn sie alle waren ihm dankbar, daß er ihnen beigebracht hatte, sich gemeinsam zu stärken und durchzuhalten.
Das hatte Konsequenzen für ihn. Erstmal alle Streichungen von Gratifikationen, dann Rücknahme der angekündigten Gehaltserhöhung. Ein halbes Jahr später war er weg. Er wurde Rektor einer anderen Privatschule.

Bei mir setzte die Nachricht eine Kettenreaktion in Gang. Erstmal Tränen. Selten ist das bei mir. Irgendwie so ein allumfassendes: Ach Scheiße! Warum bloß?
Dann dem Kind reflexartig erklären: Da muss man differenzieren, nicht alle IM haben Leute ans Messer geliefert. Manche haben dem Druck nachgegeben und nur Schrott berichtet, manche glaubten tatsächlich, etwas ändern zu können.
Aber die Last der Fakten wiegt schwer. Wer ist noch 1989 in einen Dissidenten-Gesprächskreis gegangen und hat davon berichtet? Jeder, aber auch jeder ahnte, es ist bald vorbei, es ist nicht abzusehen, was passiert. Da stärkt man doch keinem alten Regime den Rücken. Es sei denn, man ist erpressbar oder naiv oder, oder…
Ich hatte 1988 eine ehemalige Kollegin, die dick in der Partei war, gefragt, ob es Sinn mache, jetzt, gerade jetzt in die SED einzutreten, um für die Verbesserung der politischen Lage zu kämpfen. Sie sah mich lange an und meinte dann nur knapp: „Lass es!“

In meiner Seminargruppe von 15 Leuten waren zwei sehr leicht zu identifizierende IM, unsere Aufpasser sozusagen. Eine Frau und ein Mann. Sie passten von ihrem ganzen Hintergrund nicht in die Mischung von Kindern von intellektueller Schickeria, Nomenklatura und Alibiproletariern. Sie schwiegen sich über ihren Hintergrund aus, wirkten bei weitem nicht so verspielt und renitent wie wir und bestimmte Gespräche führte man nicht in ihrer Gegenwart. Wer ansonsten vielleicht noch dabei war, weiß ich nicht, ich habe mir meine Akte nie angesehen.
Einer meiner besten Profs war dabei. Ein ungeheuer kluger, aber weicher und lebensängstlicher Mensch, einer, der nicht Nein sagen konnte.

Nach dem ersten Schock vor drei Tagen recherchierte ich heute noch einmal. Denn ich hatte mir den Kopf zermartert, warum das 20 Jahre nach dem Mauerfall (der Link, den mir das Kind geschickt hatte, stammte von 2010) plötzlich Thema wird. Jeder, der nicht ganz vernagelt ist, deckt seine Stasi-Verstrickung auf, bevor sie andere aufdecken. (Nun gut, Günther Grass und Erwin Strittmatter haben die Waffen-SS-Episode in ihrem Leben auch sehr erfolgreich verdrängt.)

Er beteiligte sich gemeinsam mit Schülern, Eltern und Opfern an einer Aufarbeitung seiner Taten in einer Art zeitgeschichtlichem Projekt an der Schule. Das ist mit Respekt anzuerkennen.

Heißt es. Also doch nicht verdrängt. Frontal angegangen. Gut so.
Ich frage mich ohnehin, wann dann auch mal Schluss ist. Totschlag verjährt nach 20 Jahren. Kann man tatsächlich niemandem Lernfähigkeit zugestehen? Kann man urteilen, wenn man nie unter bestimmten Umständen gelebt hat?
Es gibt Dinge in meinem Leben, über die werde ich erst nach dem Tod anderer Menschen schreiben. Vorher geht das nicht. Zwei Geschichten, in denen es um Tun und Schuld geht, um den Glauben Gutes zu tun und um das Aufhäufen von Schuld. Aber das ist sehr viel später dran.*

Kinder, in meinem Kopf geht gerade alles durcheinander.

PS. Er ist in seinem Rektorenjob bestätigt worden, man hatte die Stelle noch einmal neu ausgeschrieben.

*ich könnte mir den Opferstatus sogar schriftlich geben lassen derenthalben.

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