Vier Tage in Polen

Der Graf hatte diese Woche frei und wir planten schon lange eine kurze Auszeit in einem netten Refugium auf dem Land. Wie immer mit den Grundbedingungen: Doppelbett, WiFi, Badewanne.  Aber vorher musste er sich aber erst mal zu seinem großen Ärger mit Kranksein beschäftigen. Deshalb fuhren wir erst am Mittwoch los. Wir hatten eine Suite in einem kleinen Herrenhaus in Großpolen herausgepickt, am nördlichen Rand von Poznan.
Mir war der Dwór Wierzenica ob seines kargen Klassizismus aufgefallen. Ausnahmsweise kein fetter Portikus, der sonst in Polen an jede Hütte gebaut wird, als Symbol von Autarkie und Status, und wenn die Säulen aus Rohren oder Bäumen gemacht sind…
Das Gebäude ist großes regionales Bauernhaus, das durch eine Art zweistöckige Diele geteilt wird, die nur durch Mauerkanten ein Säulenportal andeutet. Eine Mischung aus Wurzelsuche und Himmelstürmen, das interessierte mich.

Als wir im Dunkeln ankamen war netterweise die Zufahrtsstraße dick mit Sand gestreut, denn das Haus liegt auf einem kleinen Hügel. Wir wurden als einzige Gäste nett empfangen und es war wie immer in diesen stadtnahen Schlößchen in der Nebensaison. Man nutzt sie in der warmen Jahreszeit als Partylocation für Hochzeiten und im Winter ist da niemand außer den Besitzern oder ein, zwei Helfern. Wobei ich in dieser irre schönen und modernen Küche gern selbst gekocht hätte, eine Karpfenzucht war in Laufnähe.
Unsere Zimmer hatten hohe Decken, schöne, wenn auch etwas hilflos gestellte antike Möbel und ein Riesenfenster mit meterbreitem Fensterbrett mit Blick auf eine moorige Niederung und einen Waldhang an ihrem Ende.
Dwór Wierzenica
Als wir Bescheid gaben, am ersten Abend nichts essen zu wollen, aber an den zwei darauf folgenden Abenden (das Haus wirbt auf Booking schließlich mit frischer, regionaler Küche, man könne aus einem Angebot wählen), gab es leicht erstaunt hochgezogene Brauen. Öhm ja, man hätte Piroggen mit Fleisch oder Obst da. Nun muss man wissen, dass Pierogi in Polen Fast Food sind, die gibt es an jeder regionalen Imbissbude. Das war so, als hätte man uns Currywurst mit Pommes offeriert.
Wir hatten aber keine Lust, mehr als 10 km in ein vernünftiges Restaurant zum Essen zu fahren, vor allem weil es abends auf den Straßen glatt wurde, deshalb nickten wir das ab und tauchten in Badewanne und Bett ab. Nachts gab es wunderbaren Vollmond über Schnee und kahlen Bäumen und dazu heulende Hunde.

Der nächste Tag war strahlend klar. Wir gingen nach dem Frühstück (selbstgemachte Erdbeermarmelade!) nach draußen, um die Umgebung zu erkunden. Ich habe ja bei solchen Reisen immer Wanderschuhe und dicke Socken mit. Also tobte ich glücklich wie ein kleiner Hund über die gefrorenen Feuchtwiesen, der Graf hatschte mit den Stadtschuhen hinterher. Später dann schritt der Graf glücklich mit mir eine glänzend weiße Straße (Marathonläufer eben) entlang und ich eierte mit leisem „Meh, langweilig!“ nebenher.
Im Nebenort deckten wir uns mit wichtigen Lebensmitteln ein, als da wären Bier, Chips, Schmelzkäse – in Ermangelung von Würsten – und Schokolade. Es gibt übrigens Erdnußflips mit Karamellgeschmack. Ganz perverse Dinger.
Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns Gutes zu tun, zu stricken, Pixel zu schubsen, was man so macht. Das WLAN war im Zimmer ohnehin erbärmlich bis nicht vorhanden, am stärksten war es in der Wanne, wo der Graf dann auch so manche Stunde zubrachte. Den angekündigten Flachbildfernseher gab es gar nicht, aber den vermissten wir auch nicht.

Das Abendbrot waren dann tatsächlich ein Teller Piroggen aus dem Frost, Tee und eine kurze, nette Konversation mit dem Hausherrn, einem Mittdreißiger aus der IT-Branche, Sohn eines Poznaner Professors, wie uns Google verriet.

Den nächsten Tag, grau und trüb, verbrachten wir in unseren Räumen. Ich strickte meinen estnischen Spitzenschal zu Ende, der Graf arbeitete an einem eBook und so verging die Zeit viel zu schnell. Danach wieder Piroggen, die Gattin des Hausherrn war am zweiten Abend auch anwesend und ein Abend in der Badewanne, vom Vollmond durch das Dachfenster beschienen.
Kleiner Exkurs zu den guten alten Zeiten. Wir preisen die klare Luft auf dem Land. Aber der Berliner Stadtmief ist wohlriechend gegen die Wolke teerig-holzig-schwefligen Hausbrands, die über diesem kleinen Dörfchen hing.

Gestern mittag reisten wir ab und machten noch einen kurzen Abstecher nach Poznan. Das Wetter schwankte zwischen Schneeregen und scharfem kaltem Ostwind. Wir machten eine Runde durch die Altstadt. Um den Markt waren sehr teure Boutiquen und Antiquitätenläden mit Unmengen edler Dinge und schränkeweise Silberkannen, sie zeigten, dass man hier Geld und vor allem Repräsentationsbedürfnis hat.
Zwei Straßen weiter sah es schon anders aus. Die Läden schlossen um 14 Uhr und bald würden sie den Weg aller anderen Innenstadtgeschäfte gehen, die wir in polnischen Altstädten sahen Wer nicht in teuren Boutiquen kaufen kann, der fährt an den Stadtrand in die Einkaufszentren.
Um ein Hüngerchen zu stillen, landeten wir im Bistro La Cocotte. Von ein paar jungen Hipstern geführt, gibt es hier sehr gutes Essen.

Dann ging es zurück nach Berlin, mit Zwischenstopps in Slubice für Weißkäse, Würste, Piroggen, Bier und in Frankfurt (Oder) für Kaffee und Kuchen mit den Eltern.

Hier schreibt der Graf und hat jede Menge gute Fotos parat, von denen er  mir eines zur Verfügung stellte.

Aber für ein Fazit zurück nach Polen. Die gesellschaftlichen Schichten verändern sich, das sieht man von Jahr zu Jahr deutlicher. Der Kapitalismus hält Einzug, es bildet sich eine neue besitzende Oberschicht, auch die Mittelschicht baut sich Häuschen und kauft Autos.
In Poznan liegt die Arbeitslosenquote unter 3%. (Im Gegensatz zu den vollkommen abgehangenen ländlichen Gebieten mit einer Arbeitslosenquote von über 20%.) Überall stehen produzierende Betriebe, oft Ableger internationaler Konzerne.
Wer helle im Kopf, gut vernetzt ist und Wirtschafts-Subventionen zu nutzen weiß (denn altes, gewachsenes Kapital hat ja niemand), kann sich etwas schaffen. Das Haus, in dem wir waren, ist das beste Beispiel. Einst war es der Wohnort des polnischen Philosophen Graf August Cieszkowski, ein Mann, der alles an Projektionsfläche polnischer Identität in sich vereint: Katholizismus, polnischer Landadel (Szlachta), gesamteuropäische Kontakte.*
Mit knapp 1 Mio Euro Agrotourismusförderung und Regionalförderung von der EU wurde das baufällige Haus vollkommen entkernt und neu hergerichtet. Was in Booking als Hotel angeboten wird, ist auch eine großzügige Wohnung/Landhaus für die Besitzer, mit steuerlich absetzbarem Hauspersonal. (Das hatten wir im Sommer ein paar Kilometer weiter schon einmal erlebt.) Auch wenn der Hausherr sagte, er wohne nicht hier, es lief in den hinteren Räumen jeden Abend der Fernseher und er war immer da…
In 30 Jahren sind das die Kapitalbesitzer und in 50 Jahren werden ihre Kinder behaupten, das wäre schon immer so gewesen. Das scheint der Lauf der Welt.

 

* Es gibt nicht so viele. Polen war über viele Jahrhunderte ein imaginäres Land, ländlich wirtschaftende Adelsclans hatten einen hohen politischen Einfluss. Polen zerfällt für mich immer wieder in winzige Partikel, wenn ich es ansehen will. Geredet wird aber immer von einer riesigen monolithischen Macht durch die Jahrhunderte. Das ist ein sehr eigenes Phänomen.
(Nebenbei, ich stoße grade auf so wirre Websites.)