Bilderbuchsonntag

An Abend bevor wir zum Helenesee fuhren, gabs Bratkartoffeln, Matjes und grüne Bohnen und ich zauberte aus zwei Hand voll roter Johannisbeeren, die mir roh gegessen zu sauer waren, eine Tarte:
Johannisbeertarte
Der Nachbar schräg über uns feierte, auf dem Balkon stand eine Herde Menschen, die alberte und witzelte und ich wunderte mich, dass dieser ältere Herr so junge Menschen zu sich einlädt (also was heißt jung, das klang so wie bei uns). Als ich diskret rüberlinste, wer da so stand, sah ich: Die waren alle zwischen 40 und 50, unser Alter, etwas jünger vielleicht. Und als ich am nächsten Morgen den Nachbar mal genau ansah – der ist so alt wie ich, Ende 40. Ja, das ist so eine Sache, mit Selbst- und Fremdwahrnehmung…

Der Graf und ich starteten am Sonntag morgens gaaanz langsam, stiegen um 14 Uhr ins Auto und quälten uns über Biesdorf (Dauerstau wegen Straßenbauarbeiten) aus der Stadt raus in Richtung Osten. In Müllrose verließen wir die Autobahn und fuhren in Richtung Schlaubetal, denn da gibt es einen Einstieg in den Wald in Richtung Helenesee. Gab es. Es liegen wieder ordnungsgemäß riesige Feldsteine davor, damit nicht Krethi und Plethi durch den Wald bis ans Wasser fahren.
Nebenbei, es ist als sporadische Besucherin wohl zu merken, dass der Betreiber des Badevergnügens, die Helenesee AG, mittlerweile zu spüren bekommt, dass es mittlerweile in Sachsen ähnliche Seen gibt. Der Hauptstrand ist selbst zu Ferienzeiten nur moderat gefüllt. Klar, wenn Onz-Onz-Techno-Wochende ist, treten sich die Leute tot. Aber nicht wegen des Sees. Die Anwohner haben denen (das heißt, ihren von ihnen gewählten Volksvertretern) diese Verpachtungsaktion, die in den 90ern begann, sehr übelgenommen. Der erste, der hier am Werke war, hat fast den ganzen See mit einem Riesenzaun umgeben und überall Kassenhäuschen aufgestellt. Drinnen war wohl mal einer der größten Campingplätze Deutschlands. Aber s.o., die Sachsen, die früher nur Kiesgruben, dreckige Flüsse und Tonstiche hatten, blieben weg. Und so ist der Freizeitkommerz nicht sehr profitabel, dadurch aber erträglich und die Ureinwohner ignorieren scheinbar das Urlauber-Reservat und weichen an die lauschigen Stellen im Wald aus.

Wir fanden einen Parkplatz (Einzelheiten gibts hier nicht, sorry, das soll hier keine öffentliche Empfehlung sein, wie man in mein persönliches kleines Paradies kommt) und eine sandige Kuhle zum Ablegen der Sachen und begannen zu schwimmen.
Ich kenne den See seit seinem 10. Lebensjahr. Als er noch aussah wie ein gefluteter Tagebau, Braunkohlenstückchen im Sand lagen, seine Ränder wegbrachen, der Wasserspiegel stetig stieg und junge Kiefern überschwemmte, denen man beim Schwimmen ausweichen musste. Dieses klare Wasser hatte ich erst bei kanadischen Bergseen wiedergesehen, durch Sand gefiltertes Grundwasser, dazu Regenwasser, keine weiteren Zuflüsse und lediglich magerer Kiefernwald und keine Intensiv-Landwirtschaft in unmittelbarer Nähe.. Wenn die Mittagsonne schien und der helle Sandboden das Licht reflektierte, hatte es Sichttiefen über 10 Meter. Der See war voller Barsche, Hechte und Plötzen und ab und zu gab es lange Wasserpflanzen. (die hat natürlich mal jemand ausgesetzt)
Mittlerweile hat sich das Biotop belebt und es gibt Faulschlamm und Schilf. Aber das Wasser ist noch immer wunderbar klar.

Wir schwammen drauflos und im Gegensatz zum letzten Schlachtenseeschwumm fiel es mir leicht. Das Wasser war wie Seide, es war weder zu kalt, noch zu warm und mir war die fehlende Sonne sehr angenehm. (der Graf vermisste sie, ihm war zu kalt) Was die Distanz betrifft, war ich eher vorsichtig. Der See und das Umland haben wenig Orientierungspunkte, man verschätzt sich so schnell wie in den Bergen mit den Entfernungen. Wir schwammen eine geschätzte Dreiviertelstunde und drehten dann wieder um. Den Rückweg blieben wir am Ufer, denn die Wolken türmten sich etwas gewittrig auf, fand der Graf.
Ich bekam beim Anblick der Badenden einen meiner seltenen heftigen Ostalgieanfälle. Einfach nur nackte, badende Leute, die Spaß hatten. Kein „Boah, die Titten springen beim Rennen, was ne Schlampe!“, kein „Oh Gott! Sind meine Bauchmuskeln definiert genug?“, kein „Ich bin mit Kleidergröße 40 zu fett, um am Leben teilzunehmen!“, kein „Ein männliches Geschlechtsteil! Wi-der-lich!!“
Verklemmte Geilheit ist ein Westimport.

Nach dem Schwimmen ging es mir immer noch sehr gut. Diesmal blieben Erschöpfung, Angst und Frieren aus. Das „Ich fühle mich einfach gut!“-Gefühl früherer Zeiten kam zu Besuch.
Wir machten auf der Rückfahrt noch eine Stunde Zwischenstop bei meinen Eltern. Ich rief erst kurz vorher an, um einen Riesenbohei und zu große Erwartungen zu vermeiden. (Ist das in anderen Familien auch so? Bei uns ist es üblich, wenn die Verwandten älter werden, sie oft spontan zu besuchen, um zu vermeiden, dass sie Tage vorher Vorbereitungen treffen, einen Stunden vorher erwarten und eine halbe Stunde Verspätung oder ein „Du, ich kann jetzt nicht so viel essen!“ eine Katastrophe darstellen.)
Ich hatte die Johannisbeertarte eingepackt, aber bei den alten Herrschaften war das Abendbrot schon abgeschlossen, um 18:30 Uhr, das war früher bei den beiden nienienie so.
Beim Anruf hatte ich erstmal die Stimmung gescannt. War meine Mutter wieder mal krank? Grantelte mein Vater wieder mal im Keller rum? Die Aura lebensfrohen Optimismus‘ haute ich fast um. Der Graf und ich aßen den Kuchen, wir plauderten und ich war wirklich völlig von den Socken. Da saßen zwei entspannte alte Leute, die ein moderates Abendbrot eingenommen hatten und beteuerten, sie wären völlig satt (in unsrer Familie ist man Streßfresser und -trinker, muss man wissen). Im Garten, wo ich vier Wochen vorher eine kleine Initialzündung gegeben hatte, waren die Arbeiten weiter gediehen. Die Dauerbaustelle war weg. Das Hüttchen war sauber und aufgeräumt (muss man auch wissen: meine Mutter sieht ihr Heil nicht in Housekeeping, dafür hat sie nicht studiert).
Wenn das nicht Zufall war, dann hat sich mit Lottes Heimgang viel zum Guten gewendet. Was Wunder. Ist doch mein Vater nicht mehr dem Dauervorwurf ausgesetzt, der störende Vollpfosten zu sein, egal, was er tut, und meine Mutter ist die Bürde der bedürftig-kranken, besondere und im Maß unerfüllbare Aufmerksamkeit beanspruchenden Mutter los, die sie seit ihren Kinderjahren begleitete.
Wir haben alle lange Ehen und familiären Zusammenhalt als Ideal. Aber zu begreifen, wie viel Energie manche dieser Konstellationen kosten, wie viel verlorene, verdorbene Lebenszeit sie bedeuten, das ist bitter.

Auf der Rückfahrt nach Berlin griff der Liebe Gott mal in die Kiste  für visuelle Spezialeffekte. Gewitterwolken, Schönwetterwolken, einfach-so-Wolken, blauer Himmel und Sonnenuntergang machten dieses Bild:
Augustabend
Der Abend war kurz, ich fiel sehr schnell todmüde ins Bett und auch dem Grafen ging es nicht anders. Er sah sich nicht einmal mehr in der Lage zum Burger- oder Falafel essen das Haus zu verlassen, zu anstrengend.

Charlotte II

Als Heinz mit 52 Jahren starb, war ich 7 und lebte, nach knapp fünfjährigem Aufenthalt bei den anderen Großeltern, erstmals mit meinen Eltern und meinem Bruder zusammen in einer Plattenbauwohnung im Brandenburgischen. Ich hatte das erste Lebensjahr in Magdeborn verbracht, wechselnd zwischen Lotte, ihrer kinderlosen Schwägerin Lisbet und der Dachkammer meiner Mutter, die zwar schon verheiratet war, mit meinem Vater aber mangels Wohnung nicht zusammenlebte.

Wahrscheinlich wußte Lotte eher als meine Mutter selbst von dieser unerwünschten Schwangerschaft, mit ihrer Angewohnheit, die Körperfunktionen aller zu scannen. Später wurde nie offen darüber geredet, aber dass ihre Tochter sich mit 19 Jahren von diesem ungehobelten Upperclass-Bengel ein Kind machen ließ, muss ihr unsäglich peinlich gewesen sein. Während seine Mutter (KKM, man erinnert sich) sofort sagte: „Natürlich wird geheiratet, da gibt es keine Diskussion!“, waren Lotte und Heinz zurückhaltender und meinten: „Du musst nicht, wir kriegen das Kleine schon groß.“ Es fing doch alles gerade erst an. Das Kind war klug und fleißig, sie lernte Schriftsetzerin und wollte später Grafik studieren.
Die erste Begegnung zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn war so wie das spätere Verhältnis der beiden. Mein Vater war die Schulliebe meiner Mutter, sie hatten sich am Leipziger Gymnasium kennengelernt. Lotte bekam das nur am Rande mit, denn sie war wieder in der Heilstätte. Als sie zurückkam, machte sie an dem Tag, an dem der junge Mann zu Besuch kommen sollte, eine Erdbeertorte (mit guter Butter und vielen Eiern im Biskuit!), kochte eine Kanne Bohnenkaffee und schlug Sahne, alles rare Delikatessen in diesem Haushalt.
Aus der Sicht von Lotte lief die Sache so: Sie öffnete die Tür, der Kerl kam rein, sah sie nur kurz an, sagte nicht Guten Tag, stelle sich nicht vor und marschierte durch bis zum Kaffeetisch, an dem schon seine Liebste saß (klar, er kannte sich aus, war ja während Lottes Abwesenheit schon öfter da) und setzte sich hin. Sie tat ihnen allen die Torte auf und fragte ihn das eine oder andere und er kam ins Reden. Und er redete und redete. Nebenher nahm er sich ein Stück Torte nach dem anderen, ohne zu fragen. „Übrigens, tolle Torte!“, sagte er, als noch zwei Stücke übrig waren und griff wieder nach dem Tortenheber. Lotte meinte frostig: „Die lassen wir meinem Mann übrig.“ Da fiel bei meinem Vater der Groschen.
Mein Vater wiederum schildert die Sache so: Er besuchte seine Freundin auf Kaffee und Kuchen und eine unbekannte Frau öffnete. Das fand er normal, es waren immer irgendwelche Nachbarinnen oder Verwandten da, die während der Abwesenheit der kranken Mutter nach dem Rechten sahen. Er wurde ausgefragt, wunderte sich, warum diese Frau so neugierig war, er erzählte und die Torte schmeckte einfach super, er wunderte sich nur, warum die Gusti (meine Mutter) so still war.
Für Lotte war er für den Rest des Lebens der Typ, der einfach die Erdbeertorte aufgefressen hatte. Für ihn war sie Olle, die nichts sagte, sich lieber ärgerte und diese Geschichte bei jeder Gelegenheit wieder hervorzog. Es ist ein tiefer Graben zwischen Menschen, die sich nehmen, was sie mögen und denen, die erwarten, dass ihnen gegeben wird.

Mit dem Tod von Heinz war Lottes Leben wieder einmal auf Null gestellt. Seit über 20 Jahren gedieh aus ihrer Sicht nichts richtig. Auf ein paar Monate gute Zeit folgten lange schlechte Zeiten wie eine Strafe. Es sollte doch nun endlich einmal anfangen und schon war alles, aber auch alles vorbei. Es hatte keinen Sinn mehr.
Sie muss damals in einem sehr kritischen Zustand gewesen sein, sie tobte, wütete und trauerte in ungeheurer Lautstärke. Abwechselnd drohte sie, die Betriebsärztin, die den Krebsfall nicht erkannt hatte, umzubringen, mal wollte sie die Krankenhausärzte erschlagen, aber das Fazit war: „Ich bring mich um!“
Die frühen 70er in der DDR waren keine Zeiten für psychische Befindlichkeiten. Wer Probleme hatte, bekam Schlafkuren und hatte fürderhin den Makel, nicht ganz dicht zu sein. Individuelle Emotionen hatten ohnehin einen geringen Stellenwert in der sozialistischen Gesellschaft, konnte man doch jederzeit vom kollektiven Wohlgefühl profitieren.
Die ganze Situation in dieser Arbeitersiedlung in dem Dorf in Randleipzig war für Lotte scheinbar nicht einfach. Auch wenn in den Häusern 4 Familien pro Aufgang wohnten, die Lebensweise war dörflich, der Familienzusammenhalt groß und die soziale Kontrolle eng. Es war üblich, dass Verwandte gleich um die Ecke wohnten. Ein Großteil des Lebens spielte sich draußen ab. Man hing die Wäsche auf den öffentlichen Wäscheplatz und sah sofort, wer sie am weißesten wusch und welche Laken Löcher hatten. Man putzte am Samstag vor der Haustür alle Schuhe der Familie und wenn nicht, war man ein Ferkel. Man überwachte das Fensterputzen und die Ausgaben bei den Einkäufen. Der Tratsch im Viertel wußte sofort von zuviel Alkohol, heimlichen Abtreibungen, Affären, Prämienzahlungen, Beförderungen und ehelichen Zerwürfnissen.
Irgendwas muss da in der Luft gelegen haben. Häme vielleicht. Die mit ihrem Mann auf den sie so stolz war, daß er nicht rauchte, nicht soff, nicht fremdging und keine schweinischen Witze erzählte – das hat sie nun davon. Der Mann mit der kranken Frau, der sich totgearbeitet hatte. Der gescheiterte Aufstiegsversuch einer Familie. Ich weiß es nicht, als Kind hat man für so etwas keine Antennen. Ich weiß nur, dass Lotte für die eine oder andere Dame der Umgebung nur Hass übrig hatte.
Dazu kam ein ernstes existentielles Problem. Lotte hatte nie einen Beruf gelernt und hatte, bis auf einen Nebenbei-Job in einer Postkartenfabrik, als sie gesünder war, nie gearbeitet. Die Ärzte hatten ihr davon abgeraten und auch Heinz wollte lieber, dass sie zu Hause blieb und sich dem Haushalt widmete. Nun musste sie für sich allein sorgen, mit Ende 40, denn wer noch nicht Rentner und arbeitsfähig war, musste arbeiten gehen. Sie war zwar schwerbeschädigt, aber nicht invalid erklärt und die Perspektive, von 270 Mark Invaliden- und später Altersgrundrente zu leben, war nicht verlockend.
Für eine Frau mit ihrer Sozialisierung war klar, dass nun die Familie dran war, Verantwortung für sie und ihr Leben zu übernehmen. Eine Frau brauchte keinen Führerschein, fällte keine Entscheidungen, aber sorgte dafür dass das Essen rechtzeitig auf dem Tisch stand. Eine Witwe konnte die Kinder unterstützen und für die Enkelkinder sorgen. So war das in ihrer Welt. Auch wenn sie ihren Schwiegersohn nicht leiden konnte.
Diese Kinder waren aber gerade fertig mit dem Studium, seit einem Jahr erst mit gemeinsamem Hausstand, Berufsanfänger und wohnten 250 Kilometer entfernt. In deren Welt gingen Frauen arbeiten, hatten einen Führerschein und entschieden selbst über ihr Leben.
Es muss kurz vor der Beisetzung von Heinz ein riesiges Drama gegeben haben, von dem wir Kinder nichts mitbekamen. Es lohnte nicht, ihn in Magdeborn zu begraben, das Dorf wurde weggebaggert, in ein paar Jahren stand der Umzug für alle an. Sie wollte dort nicht bleiben. Wer fing sie auf?
Meine Eltern hatten mit dieser Anforderung wahrscheinlich nicht gerechnet. Sie waren 27 Jahre alt, hatten anspruchsvolle Berufe, zwei Kinder und waren mit ihrer nicht gerade rund laufenden Ehe beschäftigt. Sie besorgten ihr eine Arbeit in dem Großbetrieb, in dem sie auch arbeiteten und eine Wohnung (zu ihrer Erleichterung nicht im gleichen Wohnblock). Gegen weitere Erwartungen grenzten sie sich mit tauben Ohren ab. Man lebte im kühlen Preußen und in der sozialistischen Menschengemeinschaft und nicht in Sachsen auf dem Dorf.
Alles das, was Lotte eigentlich als Großfamilienkultur normal fand und wie es im sächsischen Zweig der Verwandtschaft noch immer gelebt wird: Gemeinsame Urlaube, Sonntagsessen mit anschließendem Ausflug, eng gezahnte gegenseitige Hilfe in Haus, Keller und Garten, ohne darum bitten zu müssen, jederzeit Zutritt zur Wohnung der anderen, wurde von meinen Eltern freundlich aber bestimmt mit Grenzen versehen.

Lotte begann im Großbetrieb in der Qualitätskontrolle zu arbeiten, im Drei-Schichtdienst. Eine harte Umstellung. In dem Haus, in dem sie wohnte, hatte ein älteres schlesisches Renterpaar dörfliche Verhältnisse installiert, neuerdings nannte sich das „Hausgemeinschaft“. Aber sie wurde mit niemandem richtig warm, alle Leute, die sich für sie interessierten, waren blöd, nervig, uninteressant, fand sie. Eine Nachbarin, die lange um ihre Sympathie warb und es tatsächlich schaffte, sie zu knacken, verstarb kurz darauf an einem Krankenhauskeim, den sie sich bei einer Routine-OP zugezogen hatte.
Danach ließ sie sich auf niemanden mehr ein. Auf Männer schon gar nicht. Dabei war sie keine unattraktive Person, wenn auch nicht hergerichtet (das war ja frivol). Blond, tiefblaue Augen, helle Haut, schöne Beine. Laut, kantig, verkrampft und grantig allerdings, diese Frau musste erstmal erobert werden.
Aber sie war sich sicher: Niemand konnte sein wie ihr Heinz. Auch wenn sie Jahre später sagte, sie hätte es gut gefunden, wenn die Kinder ihr wieder einen Mann gesucht hätten.

Wir Enkel übernachteten alle 14 Tage am Samstag bei ihr und und am Sonntag kamen meine Eltern zum Mittagessen und holten uns ab. Ein gutes Arrangement. Die Eltern hatten einen Abend Ruhe vor uns, Lotte hatte Gesellschaft und bekam ihren Familientreff, wenn der auch nicht mit einem Ausflug ins Grüne endete, wie bei der alten Dame im Erdgeschoss.
Aber es war anstrengend. 70% der Konversation waren Klagen. Über ihr Unvermögen, das Leben zu bewältigen, ihre Einsamkeit, ihren Wunsch, bald zu sterben, die Undankbarkeit der Welt und den Beinahe-Tod der Woche (fast an einem Bonbon erstickt, mit der Axt in den Daumen gehackt, den Gashahn offengelassen, gestürzt, sich an der Brust gestoßen und jetzt sicher bald Brustkrebs etc.pp.). Wenn ich daran denke, um es aufzuschreiben, fange ich an zu flattern. Es muss mich als Kind sehr belastet haben, anders kann ich mir das nicht erklären. Und keiner nahm es mit Humor, machte einen Witz, schuf ironische Distanz. Alle hockten schuldbewusst und mit leisen Aggressionen herum und warteten, dass es vorbei ist. Ich fühlte mich sowieso schon für alles schuldig: Die Dauerstreitereien meiner Eltern, meinen Ungehorsam und meine Hässlichkeit, das verschimmelte Brot und die saure Milch. Und dann gab es noch meine leidende Großmutter, der ich nie genug Respekt, Liebe und Aufmerksamkeit schenkte.
Es gab in ihrem Leben nichts Positives mehr zu berichten und selbst wenn es unbestreitbar etwas gab, eine Auszeichnung, eine Prämie, etwas Schönes und Neues, wurde es mit einem abfälligen Satz in den grauen Schmutzkübel getaucht, in dem schon alles andere schwamm.

Es gab Gelegenheiten, bei denen ich gut mit ihr auskam. Beim gemeinsamen Arbeiten zum Beispiel. In der Waschküche, beim Kochen. Sie hat mir (ergänzt von den Unterweisungen ihrer Schwägerin in den Ferien) Kochen, Bügeln und Nähen beigebracht. Auch Sticken, Stricken, Häkeln und Spitzen machen habe ich bei ihr gelernt. Das konnte sie alles, wenn sie auch nie den Spaß hatte, etwas ausnehmend schön oder meisterhaft zu machen. (Das wäre ja etwas Positives.)
Mit den Jahren lernte ich, dem Sog zu widerstehen und auf Distanz zu gehen. Das ist schwierig, wenn dir jemand uneigennützig Hilfe anbietet und du aber später merkst, dass du diese Rechnungen niemals wirst bezahlen können. Dass du aber auch nicht ablehnen kannst, denn das ist ja der noch größere Affront.
Ich weiß nicht, ob es einfach war, mich zu triggern, ob die Klinikaufenthalte sie traumatisiert hatten und zu diesem Verhalten brachten oder ob sie von Anfang an eine klassische emotionale Vampirin war.
Meine innere Stütze war, mir zu sagen: „Ich bin einfach ganz anders, ich gehöre nicht dazu. Dieses Verhalten ist mir fremd und hat nichts mit mir zu tun.“

Lotte arbeitete für die Rücklagen noch fünf Jahre über die Rente hinaus, damit es später einigermaßen reichte. Im Schichtdienst. Die letzten Jahre nicht mehr in der Qualitätssicherung, sondern auf einem der DDR-typischen Wahnsinnsjobs, die es nirgendwo anders gab: Sie war Garderobiere für Reinstraumbereiche. Was hieß, sie hatte mit ihren Kolleginnen zweimal, zu Schichtanfang und -ende richtig zu tun (Gleitzeit gab es nicht) und den Rest der Zeit strickte sie für ein Handgeld Pullover.
Ein Jahr bevor das Kind zur Welt kam, ihre Urenkelin, setzte sie sich zur Ruhe. Sie half mir im Haushalt und mit dem Kind, vor allem als ich vier Wochen nach ihrer Geburt sehr krank wurde. (ich hatte einfach alles, Bronchitis, Gallenentzündung, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Blutarmut…) Wenn jemand krank war und Unterstützung brauchte, blühte sie auf. Auch wenn sie vorher (mit 67) verkündet hatte, sie sei jetzt eine hinfällige alte Frau und könne sich auf gar keinen Fall um ein Baby kümmern. Noch jahrelang holte sie das kleine Mädchen vom Kindergarten ab, kaufte ihm ein Schlumpfeis und beide waren happy. Meine Eltern hatten sich in diesen Jahren einen Garten angeschafft, auch da scharwerkte sie als zeternde Unkrautzupf- und Erntemaschine durch den Garten, wenn man sie zu nehmen wußte, war das ziemlich ok. Sie machte das eisern, bis sie 80 war, die Eltern machen nun schon mit Ende 60 schlapp und brauchen Unterstützung im Garten.

Und dann kam wieder alles ganz anders. Die Mauer fiel. Meine Eltern verloren ihre Jobs und waren mit Mitte 40 zu alt, vielleicht auch zu ängstlich, sich ihre alte soziale Position in einem anderen Bundesland neu zu erarbeiten, auch weil man Lotte nicht allein in Brandenburg zurücklassen wollte. Sie hangelten sich so durch, wie viele im Osten.
Die Rente von Lotte wurde neu berechnet und nun stand sie mit Bergbau- und Witwenzuschlägen ziemlich solide da. Besser sogar als die einst privilegerte KKM, der sie ihr Lebensglück immer neidete. Es wäre an der Zeit gewesen, daß sie mit anderen 70jährigen Damen ein paar Pauschalresorts auf Teneriffa unsicher machte, aber mit der Arbeiterwohlfahrt im Bus an die Ostsee, das war eher ihr Ding.
Nun begann die interfamiliäre Transferaktion „ich unterstütze meine Tochter, damit sie immer für mich da ist“. Ich war längst in Berlin und aus dem Epizentrum verschwunden und bekam es nur am Rande mit, wenn die Tischkonversation bei Familienfeiern von Lotte mit solchen Sätzen wie „Du kannst doch gar nicht mehr arbeiten gehen, du bist viel zu krank und außerdem musst du dich um deine Mutter kümmern!“ (zu ihrer Tochter) oder „Ich zahl der jeden Monat xxx Mark und das Auto hab ich ihr auch geschenkt und sogar Taschengeld kriegt sie!“ (über ihre daneben sitzende Tochter), dominiert wurde. Das war der Moment, in dem ich aus dem Zimmer stürmte, weil ich die Bloßstellung nicht mehr aushielt. Mit mir hätte man solche Sprüche nicht machen können. Ich habe erst sehr spät eine Methode gefunden, tatsächlich mit Humor auf so etwas reagieren zu können.

Aber Mutter und Tochter arrangierten sich und der Schwiegersohn wurde auch irgendwie ausbalanciert, meistens jedenfalls. Über 15 Jahre währte das Projekt „Ich bin alt, komm bloß nicht auf die Idee, mir was zum Geburtstag zu schenken, ich brauche sowieso nichts und morgen bin ich hoffentlich tot!“ Das Kind, ihr Urenkelmädchen, schaffte es, Grumpy Granny immer wieder mit ihrem Charme zu becircen und so rückten wir zum 85. Geburtstag mit 85 Rosen an und die alte Dame war selig.
Sieben weitere Jahre währten diese Rituale. Seit Lottes groß gefeiertem 90. nur noch in Form von Postkarten, weil sie keine großen Anlässe mehr mochte. Sie war zu einem hutzligen Weiblein zusammengeschnurrt, das im Heim die Pfleger und das Essen beschimpfte. Der es aber eigentlich dort ziemlich gut ging, die die Haare so schön wie nie hatte und eine Pflegerin, die schöne Fotos von ihr machte.
Zu Weihnachten sahen wir uns das letzte Mal und da fragte ich sie über alles das aus, was in Teil 1 über ihre Jugend zu lesen ist. Wenn das Kind genauso früh wie wir alle eine Familie gegründet hätte, dann wären wir 5 Generationen Frauen gewesen.
Nun ist sie gegangen und ich bin sicher, sie hat allen da oben erst einmal allen richtig laut die Meinung gesagt.

4 Generationen

22. April 2011

Charlotte I

Sie wurde 1920 in sehr einfachen Verhältnissen in Lichtentanne unweit von Zwickau, auf dem Vorwerk Tannhof (einem alten Rittergut) geboren.
Ihr Vater war Schlosser. Ein zum Jähzorn neigender kleiner Mann, ein Bilderbuchproletarier, der schon mal den gedeckten Tisch umschmiß, wenn das Mittagessen bei seiner Rückkunft vom Sonntagsfrühschoppen nicht fertig war und es so einrichtete, dass er große Geschäft bei der Arbeit verrichtete, denn dann bekam er es bezahlt.*
Ihre Mutter machte alles, was anstand. Sie war Weißnäherin in Heimarbeit (in den 50ern machte sie die rundgesteppten Atlas-BHs) und hatte eine Putzstelle. Eine ihrer Schwestern hatte nämlich einen Gastwirt im Ort geheiratet. Einiges über ihren Verhältnissen, aber es wollte ihn wohl keine andere, weil er nicht so ganz gesund war und es einen dominanten Mutterteufel im Haus gab.
Dort putzte Lottes Mutter und half aus und im großen Gasthof wohnte die junge Familie auch. Die äußeren Umstände waren wechselhaft: Inflation (alle meine Urgroßeltern hatten ihren Hausstand in Inflationszeiten begründet), Konsolidierung, Wirtschaftskrise. Es gab erst 16 Jahre später noch einen Sohn, vorher schlief meine Oma mit ihrer Mutter in einem Bett.
Der Ton unter den Leuten war roh und laut. Kneipenprügeleien zwischen Kommunisten und Nazis, dazwischen die Sozis mit ihren Sparvereinen, die ihre Ruhe und ein kleines Glück haben wollten. Frauen, die funktionieren mußten und mit tausend Tricks verhinderten, zu viele Kinder zu bekommen. Wer es sich leisten konnte, legte sich mit einer theatralischen Frauen-Krankheit dauerhaft ins Bett und ließ die anderen machen. Nur, daß sie in dieser Familie immer zu den anderen gehörten, die machen mussten, um nicht zu verhungern.
Zuflucht und Erholung gab es im Arbeiter-Sportverein, ein ganzes Album ist voll mit Fotos der blonden, langbeinigen jungen Lotte und ihren Freundinnen in weißen Anzügen bei Turnfesten.
Nachdem die Nazis an die Macht kamen, ging es den armen Leuten besser. (Hab ich grade Autobahn gesagt? Mea Culpa!) Der freie Fall hatte aufgehört, nun gab es Arbeit, bescheidenen Wohlstand und Strukturen. Oft mehr als es denen, die sie sich gewünscht hatten, lieb war. Auf diesen Verrückten aus München und sein Gefolge hätte man in meiner Verwandtschaft sehr gern verzichtet. Aber man war es gewöhnt, dass es immer einen gab, der sagte, was getan werden musste. Widerstand war kein Überlebenskonzept.

In den Schilderungen meiner Verwandten gab es ein extremes Kopf-an-Kopf-Rennen der radikalen Ideologien. Diese Zahlen zeigen das auch ganz gut. Irgendwann hatten die Nazis die besseren Unterstützer und schafften es, die höherklassigen Unzufriedenen des rechten Spektrums zu sammeln und das zwölfjährige Debakel nahm seinen Lauf. Wenn Stalin nicht so paranoid auf die Disziplinierung/Ausrottung der eigenen Leute fixiert gewesen wäre, hätte das anders ausgehen können. Ob besser, wage ich zu bezweifeln.
Die Sozialdemokraten waren eher old school, kungelten mit dem Kapital, bauten an ihren kleinen Angestellten-Aufstiegskarrieren und wollten ihre Ruhe haben.
Die Nazis und die Kommunisten mit ihren militanten Auswüchsen SA und Rotfront-Kämpferbund waren sich radikalisierende Jugendkulturen mit älteren elitären Vordenkern. Da waren weite, industrialisierte Landstriche voll mit Leuten, die von ihrer unsicheren Arbeiterexistenz die Schnauze randvoll hatten. Dort waren die Versprechungen besserer Zeiten gern gehört.

Lotte war ging schon früh mit Heinz (auf diesem Foto ganz rechts), sie waren lange verlobt. Heinz, der Sohn eines Bergmanns aus dem Zwickauer Steinkohlenrevier, der so begabt und klug war, daß er Elektriker wurde mit Option auf mehr.
Ein sanfter Mann, der wahrscheinlich die charakterlich etwas eckige Charlotte aus dieser ruppigen, lauten Familie als Schutzschild und Korrektiv brauchte. Ein Mann, der sie in seiner Sensibilität wahrscheinlich sicher und entspannt machte.
Vor der Hochzeit kam noch viel dazwischen. Erst der Arbeitsdienst für ihn, dann musste er an die Front (Westfront, als Bodenpersonal bei den Fliegern, Glück gehabt) und auch sie ging irgendwohin zum Arbeitsdienst. Anfang der 40er heirateten sie. Das Hakenkreuz auf der Uniform hatte Oma später auf dem Hochzeitsfoto im Album mit Bleistift geschwärzt. Überhaupt gab es dort viele übermalte Hakenkreuze. Die beste Freundin heiratete „schlicht in Weiß, nur mit dem Parteiabzeichen auf der Brust“.
Sie ließen sich in Magdeborn bei Leipzig nieder, in der neugebauten Arbeitersiedlung des Werks Espenhain. Wenn der Krieg vorbei war, würde es dort Arbeit geben.
Im Dezember 1943 kam meine Mutter zur Welt. Komische Koinzidenz. Ich kenne viele in diesem Zeitraum geborene Kriegskinder. Es muss zwischen der Kapitulation von Stalingrad und dem Ausrufen des totalen Kriegs viele Fronturlauber gegeben haben und dazu den Gedanken, dass etwas bleiben muss, wenn sie nicht zurückkommen.
Meine Mutter war das einzige Kind und wie es zunächst aussah, wollte sie nicht lange bleiben. Kurze Zeit nach ihrer Geburt wurde sie so krank, dass man doch besser eine Nottaufe ansetzte.
Heinz war nicht lange in Gefangenschaft und was er mitbrachte, waren nicht Horroralpträume aus weißrussischen Sümpfen, sondern gemäßigte Erlebnisse eines Zuges in die Fremde: aus Frankreich, Griechenland und wenn ich ich recht erinnere, dem Kaukasus.
Es gab nicht viel zu Essen, man hungerte. Man half sich mit dem Schrebergarten und hielt dort Kaninchen und Hühner. Manchmal ging man zum Bauern, arbeiten. Nur waren dort im Leipziger Süden viele Arbeiterfamilien und wenige Bauernhöfe.
Charlotte, die eigentlich nie sehr kränklich war, bekam offene Lungentuberkulose. In dieser Zeit zwar keine unbedingt tödliche Diagnose mehr, aber eine, die mit Rückfällen, der Gefahr langen Siechtums und – wegen der Ansteckungsgefahr – strenger Isolation einher ging. Heinz war lebend zurückgekehrt und Lotte verschwand monatelang in Heilstätten (das waren Paralleluniversen für Geistes- und Lungenkranke, in Tschadraß, wo sie war, sogar auf einem Fleck). Das Kind (meine Mutter) pendelte zwischen Oma, Nachbarin und Tante, während der Mann ohne Ende arbeitete. Manchmal kehrte Lotte zurück, gedunsen, fett gefüttert, weiß wie eine Leiche, eine fremde Frau in fremden Kleidern. Der erste Sonnenstrahl, der sie berührte, ließ die Verkapselungen wieder aufbrechen und sie kam wieder in Quarantäne. Auf dass ihr Kind sie nicht mehr erkannte, wenn sie zurückkam.
Um Heinz, ein attraktiver Mann, der Karriere in Espenhain machte, schwirrten derweil die Kriegswitwen und warteten auf ihre Chance. Lotte hat bis an ihr eigenes Ende eine Todesanzeige aus den 70ern aufbewahrt. Die einer Frau, von der ihr zugetragen wurde, dass sie ihren Heinz mal gefragt hatte, ob der sich das wirklich antun wolle, mit dieser kranken Frau, die nicht mehr lange leben würde. Sie sei gesund und warte nur auf ihn. Lotte hat sie um mehr als 30 Jahre überlebt. Jedes Jahr holte sie die Anzeige hervor. Ihre Art, auf einem Grab zu tanzen.
Es muss irgendwas mit ihr passiert sein in den langen Zeiten in der Parallelwelt, in der es sich um Körperzustände, Okkupation durch Erreger, Dysfunktionen, Sterben oder Überleben drehte. Die Frau, die ich kennenlernte, hatte mit der, die ich auf den alten Fotos sah und die sich selbst in ihrem früheren Leben schilderte, wenig zu tun.
Modern würde man von Traumatisierung sprechen, von Konditionierung auf sekundären Krankheitsgewinn.
Sie war nie wieder richtig gesund. Und doch waren die Krankheiten, die ihr passierten, Allerweltskrankheiten. Eine Eierstockzyste, Gallensteine wegen der Buttermastkur, entzündete Krampfadern. – Jeder Eingriff versetzte die Familie wochenlang in Sonderzustände. Nicht, dass sie sich hängen ließ, im Gegenteil. Ihr Überlebenskampf fand nun auf einer großen Bühne statt. Meine Mutter lernte früh, ihr zur Seite zu stehen, im Krankenhaus hielt sie Hof. Gallensteine wurden hergezeigt wie bei anderen Brillianten. Behandlungen und Symptome wurden bei Kaffee und Kuchen detailliert erörtert und im Zweifelsfall das Doktorbuch zu Rate gezogen. Jeder andere in ihrer Umgebung wurde ebenso Opfer dieses sonderbaren Körperinteresses, das überhaupt keine Privatsphäre mehr kennt. So lernte ich sie kennen. Als „ist krank“ oder „forscht bei mir nach Krankheiten“.
Als Lotte endlich als halbwegs geheilt galt und ihr Heinz seinen Ingenieursabschluß neben der Arbeit fertig hatte, schien alles besser zu werden. Da wurde Heinz krank. Die Arbeit im Kraftwerk und das Studium nebenher, die häufigen Notdienste und Katastropheneinsätze, der selten komplette Haushalt hatten ihm, der nie Nein sagen konnte, schwer zugesetzt. Mit Ende 40 hatte er, der nicht rauchte, nicht trank und kein Übergewicht hatte, einen Herzinfarkt. Auf dem Weg in den Urlaub. Nur wenige Jahre später, die beiden hatten sich gerade einen Campinghänger gekauft und wollten jetzt das Leben genießen, starb er an als Hämorrhoiden verkannten Darmkrebs. (Alle seine Ingenieurs-Kollegen im Braunkohleveredelungswerk starben an Krebs.) Die Monate seines Siechtums und sein Tod verletzten Lotte nochmals schwer. Sie war Ende 40 und Witwe.
* Komisch, was von Menschen immer wieder erzählt wird und in den Erinnerungen anderer hängenbleibt.

Fünf Jahre

und einen Tag ist es her, dass meine Großmutter gestorben ist. Seitdem hat die Familie und mein Herz keinen Kapitän mehr. Mit höherem Rang: Familienadmiral habe ich sie immer genannt. Sie kommandierte uns hartköpfige, schweigsame Dickschiffe durch die Zeit.
Als ihr baldiger Tod Gewissheit wurde, begann bei mir der freie Fall. Der Gedanke, die Zuflucht in dem kleinen Gästezimmer in ihrem Haus nicht mehr als Option zu haben (auch wenn ich nie dort hin gegangen wäre), riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich weiß nicht, was es war, in meinem Gefühl war sie diejenige, die etwas in sich vereinte, was ich sehr schätze und teile und bei meinen Eltern nicht fand: Lebenslust, Genussfähigkeit, Angstfreiheit, Haltung und klaglose Akzeptanz von Dingen, die nicht zu ändern sind.
Seitdem hat sich mein Leben um und um gewendet.
Im Sommer 2008 saß ich wie versteinert an meinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Alles andere lief irgendwie nebenbei, ich funktionierte und fühlte nichts mehr, keinen Schmerz, keinen Ärger, keine Erschöpfung und keine Freude. Ich vergaß alles, wenn überhaupt etwas bei mir ankam. Irgendeine Notfall-Einheit in mir bewegte mich wie eine Schauspielerin durch mein Leben. Ich spielte abwechselnd die nette und toughe Freundin von …, die erfolgreiche Selbständige, die attraktive und sportliche Frau … name it. Außerhalb dieser Scharade war ich ein schockerstarrtes gealtertes Kind, das sich hinter dem Schrank verkrochen hatte. Als Mutter trat ich in einer unrühmlichen Nebenrolle auf, nicht als verständig Zuhörende, sondern als die, die nur den Satz sagt: „Wenn du dein Studium schmeißt, suchst du dir einen Job, ist doch wohl klar oder wovon willst du die Miete bezahlen?“
Die darauf folgenden Jahre sind bekannt. Mentaler Voll-Last-Betrieb, Breakdown, Dekompensation und seit drei Jahren Aufbau mit Rückschlägen und Ankunft in völlig neuen Gefilden.

Und ich sehe immer mehr aus wie sie.