Vigil 45

Bei Twitter stolperte ich heute über diesen Text, der sich damit beschäftigt, dass Instagram den entspannten Urlaub kaputtmacht, weil Menschen ständig nach dem besten Fotomotiv suchen, um allen mitzuteilen, was sie sehen.
Wer sich noch an japanische Touristengruppen erinnern kann, die Europa ausschließlich durch den Sucher ihrer Kamera besichtigt haben, weiß, dass das Problem nicht neu ist. Nur, heute sieht es jeder, früher vergammelten die Fotos oder Dias in irgendwelchen Kellerecken.

Richtig gute Fotos machen, ist harte Arbeit, auch wenn die Kamera mittlerweile einem einen großen Teil abnimmt. Das Wesen und das Licht eines Ortes zu entdecken, macht man nicht mal eben so. Und wenn Profis einen berühmte Ort merkfähig fotografiert haben, warum sollte man das gleiche Foto noch einmal machen wollen?

Ich meide seit langen Jahren Orte, die auf Postkarten zu sehen sind. Denn es ist hochwahrscheinlich, dass sich genau an diesem Platz, den jeder kennt und in echt sehen will, die Leute tot treten. Und viele Leute und ich, das geht ja bekanntermaßen nicht so recht zusammen.
Überhaupt ist es reichlich absurd, dass alle zu Ort X hinlaufen, der legendär sein soll, während Ort Y so ähnlich aussieht und es keinen interessiert. – Mal ganz davon abgesehen, ist doch das Abenteuer, irgendwo langzulaufen, herumzustöbern etwas zu entdecken, ganz tief in einem drin. Mit dem Nachbau von Reiseprospektfotos überträgt man dieses Gefühl kaum nach außen. Zumindest ist mir das nie gelungen. Die schönsten Orte sah ich ohne Kamera.
Und wenn etwas tatsächlich einmalig ist, nutze ich die Zeit, wenn niemand da ist: Granada und die Alhambra in einer Mondnacht, das Elbpanorama der Schrammsteine vor 9 Uhr morgens und Kap Arkona prinzipiell in der Nebensaison.

Vigil 44

Die zweite große Razzia seit Anfang der Woche, einmal gegen Familien-Gangs und dann gegen das Rotlichtmillieu. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass da ein Innensenator, der von seiner Partei zum Bürgermeisterkandidaten aufgestellt wurde, effektvoll öffentlich punkten will.
Als wir das heute diskutierten, ging es unter anderem darum, ob Clan-Kriminalität, die nicht wie die Mafia die Verwaltung infiltriert, eigentlich die Bevölkerung schädige bzw. betrifft (mal abgesehen davon, wenn einer der Jungs mal wieder bedröhnt mit dem Auto unterwegs ist und jemanden umfährt). – Oder ob das eine ansonsten moderner organisierte Gesellschaft aussitzen könne, bis die Großfamilienstrukturen in der Moderne innerhalb einiger Generationen auseinanderbröseln.
Sozialbetrug und Steuererhinterziehung fallen wahrscheinlich nicht in dem Maße ins Gewicht, dass es die öffentlichen Finanzen nachhaltig schädigt. Drogenkriminalität bleibt innerhalb der Blase von Konsumenten und Dealern. Schutzgelderpressung betrifft meist andere Familienverbände/Strukturen, die ihre Dinge ebenfalls lieber unter sich regeln. Betrug und großangelegter Diebstahl betrifft Unternehmen, die das mit Versicherungen abfangen.
Ich sehe das nicht so gelassen und bin eher Anhängerin der Broken-Windows-Theorie. Was für ein Vorbild sind die Söhne solcher Clans für junge Leute aus einfachen Verhältnissen? Menschen, die sich mit Mühe durch eine Ausbildung quälen, für wenig Geld arbeiten oder vom Amt schikaniert werden, bei ein paar Mal Schwarzfahren im Knast landen können und schneller in Privatinsolvenz sind, als sie ihren kleinen kreditfinanzierten Luxus genießen können. Dagegen diese Typen mit ihren aufgepumpten Körpern, schnellen Autos und Teilzeitbegleiterinnen. (Mir sagte mal jemand ganz empathisch über einen von denen: „Hör mal, der war mit 19 Millionär. Der kann mit 30 doch nicht arbeiten gehen, wenn es mal schlechter läuft!“ Überhaupt ist arbeiten in der Szene ziemlich bäh. Man lässt arbeiten.)
Wer das toleriert, zeigt Leuten, die sich noch nicht richtig gefunden haben, dass sich die Mühe, ein gutes, faires Leben zu führen, nicht lohnt. Es gibt noch eine Menge anderer Argumente, warum Toleranz zwar funktionieren könnte, aber wiederum Kollateralschäden hinterläßt.

Egal, es ging zuerst im die Frage, was organisierte Kriminalität die Berliner Bürgerin anficht, die eher Probleme  mit Diebinnen und Gewalttäterinnen bekommen könnte und sich sicher im Straßenverkehr bewegen möchte (vor allem mit dem Fahrrad). Aber mit 200 Leuten irgendwo einreiten und ein paar Verdächtige verhaften gibt natürlich die bessere Pressemeldung.
Ich bin gespannt, was als nächstes dran ist.

Vigil 42

Vor einigen Wochen hatte ich mit Spannung Siri Hustvedts „Gleißende Welt“ begonnen. Ich kam ungefähr bis Seite 100.
Hm ja, ich motivierte mich ein paar Mal, weiterzulesen, verlängerte die Leihe in der Bibliothek um vier Wochen und gab dann im letzten Drittel auf. Das passiert mir eigentlich nie, es sei denn, ich habe mich übel vergriffen (letztens bei Robert Ludlum, ein später „Bourne“, nach der zwanzigsten Leiche legte ich das Buch fluchend weg). Aber bei Siri Hustvedt wußte ich, was mich erwartet.
Vielleicht war es der Umstand, dass sie die Hauptfigur über ihr umfangreiches Schriftwerk und andere Menschen beschrieb. Das Buch kreiste um ein vorwurfsvolles Vakuum – warum die Heldin keine Anerkennung als Künstlerin bekommt. Alles das, was sie tut, die Scharaden, die Täuschungen, sind mir zu ausgedacht, zu sehr schriftstellerisches Planspiel.
Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass Männer in ihrem Schaffen bei weitem ernster genommen werden. Dass es hier und da ein Fräuleinwunder gibt, fällt weniger ins Gewicht, da zeitlich begrenzt auf eine kurze Lebensphase. Aber wie diese Beweisführung, dass von einer Frau geschaffene Kunst, von einem Mann präsentiert, plötzlich wichtig wird, aufgezogen und geschildert ist, so verbittert, verkopft und resigniert, mag ich das nicht lesen.
Ich hatte ständig im Sinn, dass das die Ex von Paul Auster schreibt, den ich immer für überschätzt hielt und sie für unterschätzt, die lange Jahre in seinem Schatten stand und sich auch körperlich schmal machte. Und ich verstand nicht, welche Klage auf hohem Niveau die Hauptfigur führen kann. Als schwerreiche Kunsthändlerswitwe könnte sie es richtig krachen lassen, statt dessen stirbt sie an Bedeutungsmangelerscheinungen dahin. (Ja gut, da ist eine dramaturgische Steigerung eingebaut, ein Weichei und ein netter Kumpel sind ihre ersten beiden Künstlerdarsteller und am dritten, der wesentlich cleverer und härter ist, rennt sie vor die Wand und wird selbst zum Spielzeug. Aber es ist un-in-teressant!)

Da schreibt Siri Hustvedt das erste Buch, das keine Frauengeschichte ist oder einen männlichen Helden hat, der genauso ausufernd über Beziehungen redet wie eine Frau und es ist in trockener Papiertiger.

Aber vielleicht ist es genau das. Hätte es ein Mann geschrieben, würde ich es vielleicht ernster nehmen.

Vigil 41

Es hat sehr lange gedauert, aber ich bin nun in der Lage, mich von Kleidern zu trennen, in die ich nie im Leben mehr passen werde.
Eine Zeitlang habe ich gejammert. Einige Designerstücke, die dabei waren (nicht auffällig und luxuriös, aber schön), schmerzten mich, weil ich glaubte, nie wieder etwas von dieser Qualität tragen zu können. Ich lagerte sie zusammen mit dem einen oder anderen zugelaufenen Vintage-Stück in Unterbettkommoden und schaute sie einmal im Jahr an.
Mittlerweile weiß ich, ich kann genauso gute Kleider schneidern. Ich kann nun Schnitte besser anpassen und auch mit des Kindes Overlockmaschine umgehen und ich habe keine Angst mehr vor vollkommen versauten Stücken, weil ich Probeteile anfertige. Mit etwas Zuschnittökonomie sind auch gute Stoffe kein Problem.
Vor der Konfektionsindustrie (auch der gehobenen), habe ich mittlerweile so ziemlich den Respekt verloren. Das Einzige, was mich schmerzt, ist die viele Zeit, die ich aufwenden muss, um diese spezialisierte Arbeit auszuführen. Denn ich bin keine effiziente Expertin.
Früher habe ich Zeit durch Geld ersetzt und so lange probiert und geschaut, bis mir etwas passte und gefiel (also spielte auch Zeit wieder eine Rolle, ich bin mehrmals im Quartal Kleider kaufen gegangen). Heute lasse ich mich im Internet inspirieren und kann mir Looks selbst zusammenbauen. Und sie haben die Qualität und die Passform, die ich will. Das ist gut.

Die ersten Sachen stehen bei ebay, weitere werden folgen.