Sonntagsmäander in der Schafskälte

Das war eine schwierige Woche. Die eine Kollegin war schon seit letzter Woche mit Magen-Darm ausgefallen und als ich am Montag ins Büro kam, fehlte auch Kollegin Nr. 2 mit Hexenschuß, dafür saß die neueingestellte Assistenz da und harrte ihrer Einarbeitung.
Eine Viertelstunde Panik, dann hatte ich mich wieder im Griff. Der Chef arbeitete wieder aus dem Urlaub mit und eine andere Kollegin aus dem Backoffice blieb erstmal dabei und wies die Assistenz ein. Die ist Gott sei Dank eine sehr fitte und ausgeschlafene junge Frau, so konnte sie mich bei dem, was dann kam, unterstützen. Es war die Hölle. Ich zählte am Abend zusammen – 100 Telefonate allein über meine Leitung, weitere 30, die die Assistentin angenommen hatte und den Inhalt an mich weiterleitete, dazu ca. 100 Mails und 10 Sprachnachrichten, denn die vom Wochenende waren auch dabei. Jedes Telefonat bedingt Notizen, Priorisierung, komplexere Informationsverarbeitung, Entscheidungen oder Erstellung von Dokumenten oder Texten, die per Mail rausgehen. Und oft ist es dröger, überflüssiger Kleinscheiß zu Haufen, die Dienstleister trotzdem ernst nehmen müssen, weil Service ihr Job ist.
Natürlich erinnerte sich mein Inneres an meine fitten wilden Zeiten der Selbständigkeit, wo ich es als Herausforderung annahm, solche wilden kommunikativen Wellen abzureiten. Aber das ist vorbei, ich habe nicht mehr die Kraft, daran Spaß zu finden. Ich war Abends einfach nur noch platt und kaum noch ansprechbar. – Vielleicht fehlt auch der Kick der Selbständigkeit. Wenn du rausgehst und weißt, du hast an dem Tag Summe X verdient, fühlt es sich anders an.
Am nächsten Tag besserte sich die Situation, die Kollegin mit dem Hexenschuß saß mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder am Platz und die andere Kollegin kam einen Tag später und sah bei weitem noch nicht gesund aus. Ich habe mir für Montag Urlaub genommen, um mich von der Woche zu erholen.
Es ist Hauptsaison. Ich weiß ja aus der Medienbranche, wo ich auch Sommersaison hatte, dass nach vier harten Monaten der schlimmste Ansturm wieder vorbei ist. Dazwischen liegen aber zwei Jahresurlaube, die eine Kollegin hat ein schulpflichtiges Kind, ich mache auch in den Schulferien Urlaub weil der Graf nicht anders kann (für mich eigentlich unvorstellbar, weil ich weiß, wie die anderen in den Seilen hängen werden), und ein Riesenberg Arbeit.

Es ist absurd, ich spüre, dass meine Kräfte von Woche zu Woche zunehmen und gleichzeitig vom Arbeitsansturm sofort wieder aufgesogen werden. Ergebnis ist derzeit immer ein Defizit, das ich ausgleiche, indem ich abends und am Wochenende komatös rumhänge.
Ich teile es mir gerade auf, damit ich es überblicken kann. Ich habe einen Tag X nächstes Jahr im Herbst, da werde ich entscheiden, ob und wie ich weitermachen kann, bis dahin heißt es durchhalten. Und zwischendrin muss ich mir kleine Inseln bauen, indem ich hier und da einen Tag Urlaub ans Wochenende ranhänge.

Der Graf muss da leider durch, dass grade ich kein gesellschaftsfähiger Mensch bin und mich jede Frage nach Tagesplanung nur in Panik und Angst versetzt. Primavera auch, die anrief und ihren Besuch bei uns fürs nächste Wochenende ankündigte, zusammen mit dem Derzeitigen, den wir noch nicht kennen. Das ist erfreulich, weniger erfreulich war, dass sie den Aufenthalt für den mir unbekannten Mann gleich noch für den Rest der Woche verlängern wollte, weil er in Berlin Verpflichtungen hat. Da half kein dezenter Wink mit dem Zaunpfahl, von wegen „Ich bin so unkommunikativ! Ich kann gerade nicht socialisen! Wir stehen immer so früh auf!“ Ich musste peinlicherweise die klare Ansage „Nein, das geht in der Woche auf gar keinen Fall!“ machen, obwohl der arme Mensch neben ihr stand.
Ich möchte am liebsten meine kleinen Dinge tun oder auch nicht, in meinem Tempo, ohne mich mit jemandem abstimmen oder auf jemand zu achten zu müssen. Und wenn ich was hinkriege, wie dieses Quilttop halb zusammenzunähen, freut mich das sehr.
Quilttop
So, den Rest des Tages werde ich hier friedlich vor mich hinvegetieren. und ab und zu mal eine Reihe an einem Spitzentuch stricken oder eine Wachstuch-Hülle für die Nähmaschine machen. Aber nichts, was ich muss, was abgearbeitet werden muss oder so.

Heute war der Mäander also eher ein Basta-Punkt.

PS. Telefonieren. Geht im Privatbereich gerade gar nicht. Vor allem nach dem Freundinnen-Telefonat gestern, wo ich merkte, dass ich gerade nicht in der Lage bin, auf das, was mir da mitunter übergeholfen wird, adäquat zu reagieren. Nein, ich bin gerade keine gute Zuhörerin und kann auch nicht elegant parieren, wenn mir was zu viel wird. Zu Hause jedenfalls.

Sonntagsmäander unter Gewitterwolken

Eine gute Woche, getragen vom Schwung des letzten Wochenendes, wo nette Menschen in Glams Himmelsquartier den Sommer begrüßten. Mir war erst nach der Party klar, wie sehr ich mich letztes Jahr bei dem Versuch, wieder einen anderen Platz im Arbeitsleben zu finden, von allen zurückgezogen hatte (und jetzt ist Socialising ja fast komplett perdu). Ich wollte nicht darüber reden und ich schämte mich dafür, dass ich durch so ein tiefes Tal ging. Hätte ich nicht darüber geredet und Smalltalk gemacht, hätte das Thema doch wie ein Elefant im Raum gestanden.

Ich kränkelte in dieser Woche trotz blendender Stimmung, war sehr erschöpft und hatte abends zwei- oder dreimal Fieber, keine Ahnung warum. Für einen Menschen, der nie Fieber bekommt, bemerkenswert. Mein Immunsystem verprügelte innerlich scheinbar irgend was.
Am Donnerstag meldete sich dann die Kollegin mit Magen-Darm krank, der Chef war auch im Urlaub und so langsam beginnt die Hochsaison. Ich hatte Panik. Was, wenn ich auch krank werde? Oder noch schlimmer, wenn die andere Kollegin sich angesteckt hat, die hier immer noch die erfahrenste ist? Ich checkte kurz, wie die Entlastung organisiert werden könnte und wie ich ggf. von zu Hause weiterarbeiten könnte, dann war ich beruhigt. – Und dann übernahm der Chef vom Urlaub aus das Arbeitspensum der Kollegin.
Habe ich schon mal gesagt, wie happy ich bin, in so einem Umfeld zu arbeiten?

Kurz übers Wetter: Die Stadt kocht immer dann hoch, wenn die Temperatur steigt, was hier gut nachzulesen ist. Ich liebe diese Wochen vor Mittsommer, den Lindenduft, die Nachthelle, die Wärme. (Ich habe ja immer noch die Mitt(e)sommernachtstraum-Geschichte im Portfolio, seit 15 Jahren. Da war Berlin noch gar nicht global hip.)

Themaawechsel. Letzte Woche bin ich wieder auf diesen Text über eine Freundin gestoßen. Ich hatte mir vor sieben Jahren im Blog Verwirrung und Ärger von der Seele geschrieben. Jetzt lese ich ihn noch einmal neu. Diese Frau war in den 80ern eine sehr laute und präsente feministische Aktivistin. Wie das Leben jemand verändern kann.

Seit die Kaltmamsell am Donnerstag ihren anrührenden und offenen Text über ihre Arbeitssuche über 40 veröffentlichte, rotiert es in meinem Kopf. Ich habe eine ähnliche Geschichte hinter mich gebracht und sitze seit vielen Jahren im Job mitten in den Bewerbungs- und Auswahlprozessen.

Darüber hinaus – ich war nie das Sunny Girl, dem die Türen offenstanden. Ich kenne das Gefühl, in der Arbeitssuche auf einen fahrenden Zug aufspringen zu müssen, wo alle kommod drinnen sitzen und man selbst hechelt hinterher. In guten Fällen bekommt man nachlässig signalisiert, das sei nicht der richtige Zug oder springt zu kurz, um sich festhalten zu können oder springt richtig, aber die Tür geht nicht auf, obwohl einen von innen Menschen anblicken.
Mit jeder Bewerbung, die man in die Black Box des Personalentscheidungsprozesses gibt, verliert man die Kontrolle. Man ist dem ausgeliefert, was andere über einen urteilen, sagen und denken. Dazu kommen firmeninterne Prozesse, von denen man seltenst weiß und natürlich die Konkurrenten, die sich bewerben. Nicht angenehm, überhaupt nicht und wenn es sich zu lange hinzieht und zu viele Ablehnungen kommen, wird es zudem extrem demoralisierend und persönlich verletzend.

Einschub: Was jetzt kommt, ist ein zu langer und roher Text, den ich nicht ansatzweise überarbeiten kann, weil mir dazu die Zeit und die Kraft fehlen. Tut mir leid. Aber auch dafür sind Blogs da.

Manchmal ist es gut, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, sich in die Situation des Anbieters von Arbeit zu versetzen. (Was Frau Novemberregen hier sehr interessant und klar aufschreibt.)
Man hat eine Stelle zu vergeben, versucht das entsprechend in Worte zu fassen Wer Stellenanzeigen verfasst, hat hat manchmal keine Ahnung davon oder ist weit weg von der Fachabteilung. Dazu kommen noch eine Menge Selbstdarstellungskonventionen von Firmen und heraus kommt in 60% der Fälle unlesbares Gedöns aus Worthülsen, das nicht annähernd verrät, worum es eigentlich geht. (Oder aber nur dem, der die Codes entschlüsseln kann.)
Ist die Stellenanzeige draußen, wird der Empfänger (nicht jede Firma hat eine Personalabteilung) von allen Seiten bestürmt von Bewerbern. Entweder per Mail in unterschiedlicher Qualität – mein größter Mailadressenfail der letzten Zeit war „stinki78@blabla.de“ bei einer Stelle, in der es unter anderem um penible Hygiene ging, zu große PDF-Anhänge sind gang und gäbe, dazu schwierig benannt, verwalte mal stressarm 50 PDFs mit dem Titel „Bewerbung Firma Sowieso“.
Es gibt auch noch Postbewerbungen, die dann Tage später erst ankommen, von A nach B getragen oder gescannt werden müssen, wenn noch jemand anders draufschauen möchte und die ein riesiges schlechtes Gewissen erzeugen, wenn man es nicht schafft, sie zurückzusenden. Manche Leute kommen sogar persönlich vorbei, um ihre Bewerbung abzugeben und sich schon mal ein bisschen umzuschauen. (In 90% der Fälle, Ausnahmen bestätigen die Regel, führt das nicht zu einer Einstellung, das sind meist distanzlose Nervensägen.)
In Branchen oder auf Stellen wo nicht viel Spezialistenwissen erforderlich und auch Quereinsteigen möglich ist, sind das in Berlin 200-300 Bewerbungen auf eine Stelle, wenn die Bezahlung gut und der Job krisensicher ist, bis zu 800.
Ist die Branche oder die Stelle dazu noch halbwegs attraktiv und hat keine allzu speziellen Codes und Rituale oder diese sind allgemein bekannt (irgendwas mit Werbung, Marketing oder Assistenz vom Großkopferten oder was mit Internet, Kultur, Kommunikation, Medien und so), interessieren sie sich alle:
die Leute mit Berufsausbildung, die den nächsten Schritt gehen wollen
die Studienabsolventen aus den Geisteswissenschaften
die demütig Gewordenen, die das Streben nach Karriere aufgegeben haben
die Seiteneinsteiger mit abgebrochenen Wissenschaftskarrieren
die Berufsrückkehrer nach der Familienpause
die eingefahrenen Leute, die einen Tapetenwechsel brauchen
die ewigen Spielkinder, die sich alle Jahre einen Ruck geben und nun ernsthaft mal mit Brot-Arbeit anfangen wollen oder müssen
manchmal auch schlichtweg Neugierige und Faszinierte und dazu die armen Seelen, die ihre Bewerbungen wegen des Amts, das ihnen im Nacken sitzt, breit streuen.
Der Anteil derer, die etwas ähnliches schon gemacht haben und vom Mitbewerber oder aus der Nachbarbranche kommen, ist meist gering (man ist oft miteinander in Kontakt, da könnte man auch jemand abwerben oder signalisieren, dass man eine Bewerbung auf die Stelle wünscht) und dort gilt es zu differenzieren.
Will sich jemand weiterentwickeln? Dann gleicht man ab, ob man tatsächlich eine Weiterentwicklung anbieten kann, denn sonst ist die Enttäuschung vorprogrammiert.
Will jemand mehr verdienen? Das geht selten auf der gleichen Anforderungsstufe.
Macht jemand einen Schritt zurück oder wechselt häufig, ohne sich weiterzuentwickeln, dann genau schauen, warum. Personaler wissen um befristete Verträge, Familienverpflichtungen, Personalabbau und Firmenpleiten, darum geht es nicht.
Leute, die immer wieder in ähnlichen Zusammenhängen scheitern, geraten meist in Anforderungen, fachliche Bereiche und Teams, in die sie nicht passen, obwohl oberflächlich alles auf das Gegenteil hindeutet.
Manchmal gibt es auch charakterliche Eigenheiten oder persönliche Gründe wie chronische Krankheiten oder Sucht. – Da ist zu entscheiden, inwieweit das soziale Gefüge einer Firma auch schwierige Menschen oder vorprogrammierte Ausfälle abfangen kann.

Wenn Sie bis hierher weitergelesen haben, werden Sie sich fragen „Was soll das? Ich will verdammt noch mal einen Job, von dem ich passabel leben kann und den ich halbwegs gern mache.“
Verständlich. Aber es ist Mathematik. Von den 200 Bewerbern wird 199 die Kränkung einer Absage zugemutet, bei denen, die auch gepasst hätten, fällt das schwer und manche behält man gern im Auge, falls es noch einmal oder wieder Bedarf gibt.
Wenn Sie einen Beruf haben, der generalistisch orientiert ist, haben Sie extreme Konkurrenz. Denn letztlich kann das jeder, der gut und schnell lesen, schreiben, gut organisieren und eine verbreitete Fremdsprache sprechen kann und dazu gute Umgangsformen und ein gesellschaftlich akzeptiertes Standing hat.
Das klingt hart. Ist es auch. Ich bin Theaterwissenschaftlerin. Ich weiß, wie es ist, mit einem Pulk Germanisten, Anglisten, Romanisten, Journalisten, Sozial-, Medien-, Literatur-und Kulturwissenschaftlern um einen Job zu konkurrieren. Uns eint eines: Wir könnten weder konstruieren, noch programmieren und wenn doch, sind wir meist in dem Gebiet Autodidakten.

Die Entscheidunghierarchie für eine Stelle ist uns allen immanent, weil wir sie selbst für eine Menge Entscheidungen nutzen. Wir interessieren uns für Menschen:

  1. aus der Branche, passend auf die Stelle, mit bereicherndem Wissen und wichtigen Interna der Mitbewerber
  2. aus dem gleichen Stall oder mit gleicher Erfahrung
  3. die nicht ganz passen, die man aber kennt
  4. die keine praktische Erfahrung, aber großes Entwicklungspotential haben und hoch belastbar, ehrgeizig und anpassungsfähig sind (idR Berufsanfänger)
  5. wo man skeptisch wäre, die aber von vertrauenswürdiger Seite empfohlen wurden
  6. die unkompliziert, nett und attraktiv sind, sich gut verkaufen können oder schnelle Problemlösungen versprechen
  7. die aus anderer Richtung kommen, aber ähnliches gemacht haben und im Kopf flexibel sind
  8. die man passend und interessant findet, die aber überqualifiziert / zu lange raus sind
  9. die unsichere Berufsanfänger im mittleren Alter ohne richtigen Plan sind
  10. die halbwegs passen, aber eine Menge sichtbare Baustellen im Privatleben haben
  11. die ziemlich wahrscheinlich in den nächsten zwei Jahren Kinder bekommen werden oder vielleicht schon schwanger sind – also meist lange weg sind, wenn sie eingearbeitet sind
  12. die  krank und/oder wenig belastbar sind
  13. die im Habitus für die Stelle zu dominant sind oder sich überschätzen
  14. die neurotisch, kindisch, unterwürfig, unsympathisch, nörglerisch, egozentrisch oder zu wählerisch erscheinen
  15. die kein Durchhaltevermögen haben und keine erkennbare Arbeitsbiografie

Fazit: Wenn in den Stufen 1-6 Bewerber dabei sind, gehen die anderen leer aus.
Wenn dann noch ganz Viele mitzureden haben: Personalabteilung, Fachabteilung, Etatabteilung, Betriebsrat, Chef, Kollegen, Vorstand, Frauenbeautragter, Behindertenbeauftragte und eine Kündigung fast nicht möglich ist, wenn jemand die Probezeit überstanden hat, wird es komplett gaga und undurchschaubar.

Ein bisschen anders sieht es aus, wenn man sich in Branchen mit speziellen Anforderungen bewegt. Wo die Menschen, die die Berufe ausübenn 5-6 Jahre hart studieren, sich anschließend nochmals mehrere Jahre spezialisieren und Erfahrungen sammeln müssen, bevor sie ihr Berufsziel ansteuern können.
Da ist leider viel vom Markt abhängig. Erinnert sich noch jemand an die frühen 90er, als Maschinenbauingenieure vom Studium in die Arbeitslosigkeit oder in andere Branchen gingen? Wer so einen Beruf hat, ist entweder zu 100% drin und begehrt und gesucht oder zu 100% draußen, mit vielen anderen.
Im Moment arbeite ich für einen Markt, wo bestimmte Fachkräfte dringend gesucht werden. Ich erlebe Situationen, wo ich Menschen überreden muss, die Arbeit zu machen, weil sie sonst keiner macht. Statushohe, sehr gut bezahlte Arbeit. (Sie wissen ja, ich vermittele Fachkräfte für die Strom- und Elektrobranche.)
Aber auch hier erlebe ich – sozial wesentlich weicher gebettet, mit weniger harter Auslese – dass Menschen in ihr Arbeitsumfeld passen müssen. Es ist alles einfacher, wenn die Wahl auf jemanden fällt, der zu dem Rudel, das da schon am Werk ist, passt.  Von Ausbildung, Fertigkeiten und Methoden, in Charakter und Auftreten, in Sozialkompetenz, Verantwortungsbewusstsein und Fehlereinsicht. (Stecke Wölfe und Schafe zusammen und es knallt…)
Da es sich um Kurzzeitjobs handelt, kann manches mit Anpassungsfähigkeit kompensiert werden, wären es Langzeitjobs ginge es wieder um Passung. Das Nachsehen haben die Menschen, die zu exotisch* sind, zuviel Eigendrehung haben oder sich permanent falsch einschätzen und sich deshalb auf die falschen Stellen bewerben – oder aber auf die von Arbeitgeberseite das Falsche projiziert wird. Alle anderen bekommt man in einem wachsenden Markt schon nach und nach integriert, wenn sie nicht zu früh aufgeben.

* exotisch meint hier nicht unbedingt kulturell anders – das ist meist bereichernd, (bis auf Streßpunkte wie die Kollision weibliche Vorgesetzte und untergebener Mann aus streng patriarchalen Kulturen) – sondern Wissenschaftler, die sich in praktischer Arbeit versuchen, multipel begabte Lebenskünstler, die die Berufe wechseln wie andere die Hemden oder zu stark in Orchideenfächern Spezialisierte.

Um eine Sache mogele ich mich bisher herum. Um das mit dem Alter. (Das Faß Diversity mache ich nicht auf, das ist mir zu groß, der Text ist ohnehin schon zu lang.)
Als ich vor einem Vierteljahr mit der Arbeit begann, benutzte ich auch kurz das Wort Altersdiskriminierung, als ich sah, dass ab dem Rentenalter mit der Vermittlung Schluss war und dass ab Ende 50 genauer geschaut wurde, wie streßresistent jemand noch ist und ob das Wissen noch up to date ist und erst wenn diese Fragen mit Ja beantwortet wurden, noch mal in geprüften Einzelfällen eine persönliche Empfehlung ausgesprochen wurde.
Ich verstand das erst, als ich die ersten Gespräche führte, wo mir fast 70jährige sagten, sie sähen aus wie 40 und seien auch genauso fit und Endfünfziger vorsichtig versuchten, herauszubekommen, ob nicht Sachen verlangt wurden, die sie nicht mehr gelernt hatten (einer wollte mit Frau anreisen, weil die das mit dem Computer konnte).
Dazu kommt das Konkurrenzding – da stehen sich oft zwei Platzhirsche gegenüber, einer in leitender Funktion und einer am niedrigeren Punkt der Hierarchie. Das sorgt für Reiberei.
Noch schlimmer ist, wenn der Vorgesetzte jünger ist und einen Menschen führen muss, der unterschwellig für ihn eine dominante Elternfigur ist. Das ist nicht geübt. In unseren Köpfen ist die Chefin die Alte und dann gibt es noch ein paar stille Gestalten, die seit Jahren zum Inventar gehören.
Außerdem: Die heutige Arbeitsdichte unterhalb von leitenden Funktionen, die Arbeit sanktionslos delegieren können, ist so mörderisch, das kann man einem Endfünfziger (nicht nur in der Elektrobranche) in der Regel nicht mehr zumuten. Und wenn er es trotzdem auf sich nimmt, kann es Probleme geben.
Das ist der Grund, weshalb ich älteren Kraftwerksingenieuren lieber empfehle, einen Windpark zu beaufsichtigen, statt ein Atomkraftwerk und manchmal dafür auch zu schmeichelhafter Überredung greife.
Machen wir uns nichts vor, wir haben uns alle in unseren Glanzzeiten abgespeichert und die Erkenntnis, dass wir schrullig werden, kränkeln und nachlassen oder aber Schwächen nicht mehr mit Power kompensieren können, sickert nur langsam in uns.
Selbsterkenntnis und das Erkennen und Akzeptieren eigener Grenzen im Altersprozess ist nicht unbedingt etwas, das zu dynamisch-brutaler Arbeitswelt passt.

Exkurs: In der Filmbranche ging das teilweise besser. Zumindest in den Buddy-Netzwerken wurden sehr alte oder schwer kranke Menschen integriert. Ich erinnere mich an einen Regisseur, der nach einem Schlaganfall kaum noch sprechen konnte, dem der Assistent bei der Arbeit jede Regieanweisung von den Lippen ablas. Oder den 75jährigen, der noch Krimiserien drehte. Zwei Schauspielerinnen drehten noch mit fortgeschrittener Krebserkrankung ihre Serie weiter. – Dem gegenüber steht die brutale Diskriminierung von allem nicht ins Buddy-Netzwerk gehörenden, nicht Attraktiven.

In der Firma, in der ich jetzt arbeite, gibt es viele ältere Frauen, ich bin die zweitälteste, wenn ich das richtig sehe. Mein Alter war hier nie Thema. Trotzdem sehe ich es als Thema an. Wir sind drei oder vier ältere Menschen, die sehr arbeitserfahren sind, aber schon mal einen Schlag wegbekommen haben. Wir fallen auch mal aus oder kommen an die Grenze der Kraft, das lässt sich auch mit Erfahrung schwer kompensieren. Dazu gibt es noch einige Berufs-Wiedereinsteigerinnen, die sich erst einmal wieder orientieren und einfuchsen müssen, die sind belastbarer, weil sie nicht so ausgepowert sind, brauchen aber einige Zeit, um in Arbeitstempo und Anwendungen reinzukommen.

Jetzt stoppe ich im Text. Ohne gefälliges Ende. Vielleicht schreibe ich demnächst noch mal etwas dazu und setze das Thema fort. Denn unsere Bedürfnisse in Hinblick auf Arbeit und die Realität der Arbeitswelt klaffen Meilen auseinander. Da muss sich etwas ändern.

Veröffentlicht unter Leben

Sonntagsmäander am Rande des Sommers

Frühjahr und Sommer sind für mich die Zeiten, in denen mein Leben stattfindet. Herbst ist Trauer über verronnene Zeit und Winter ist Überleben ins nächste Frühjahr. Nun steht endlich der Sommer vor der Tür.
Ich habe den Schrank voller Sommerkleider und ziehe täglich etwas anderes an. Nackte Füße in Sandalen und das notwendigst Schickliche an Kleidung lassen meinen Körper atmen. (Ich werde nie verstehen, warum manche Frauen im Sommer Stiefel tragen.) Die Welt um mich herum ist zumindest bei 22-25  Grad so, dass ich Wetter nicht als Wetter wahrnehme, sondern in der Luft schwimme wie in einem Aquarium. Und wenn mich der Pollenterror so gut in Ruhe lässt wie in diesem kühlen Frühjahr, um so besser.

Das letzte Wochenende nutzten wir zur Flucht. Der Graf stand vor einem einschneidenden Lebensereignis, er wurde ein Jahr älter und diesmal mit einer Null davor. Nichts, was er ausgiebig feiern wollte, er musste sich wohl erst einmal an den neuen Aggregatszustand gewöhnen.
Wir fuhren wieder zu dem Ort, am Fuße des Riesengebirges, wo wir die schönsten und entspanntesten Zeiten verbracht hatten, nach Schloss Wernersdorf, und ließen es uns gut gehen.
Das Haus war moderat belegt, man konnte sich gut aus dem Weg gehen und so langsam komplettiert sich auch der Garten und die Umgebung hinter dem Schloss, wo eine schöne Teichlandschaft ist.
Die Speisekarte hat sich von Gourmet-Convinence weg zu schlichteren, auch regionalen Gerichten verändert, die Bezug auf die Saison nehmen. Das mag ich und das freute mich sehr. Klar habe ich eine Luxusposition, wenn ich sage, verschnipptes Essen auf aufgeräumten Tellern kann ich jeden Tag haben, dazu muss ich nicht in Urlaub fahren. Aber selbst in Berlin bevorzuge ich handwerklich gut gemachtes Mutti-Futter mit guten, regionalen Zutaten.
Im Barocksaal fand am Wochenende eine Kommunionfeier statt, man musizierte und sang selbst und die kleinen Mädels in ihrem weißen Ornat tobten über die Wiese zum Spielplatz. (Die Kleider waren anders als ich sie kannte, die Mädchen sahen nicht aus wie Kinderbräute sondern wie Nonnen.)
Es kommen scheinbar zunehmend wohlhabende Polen als Gäste. Was mir voriges Jahr bereits auffiel, wie gut die Kinder erzogen waren. Neugierige, offene, freundliche und achtsame kleine Menschen. Die Erwachsenen sind höflich, gut angezogen (die Polin von Welt kommt natürlich mit 14-cm-Absätzen zum Frühstück) und rücksichtsvoll. Das ist immer eine gute Erholung, wenn man aus dem Ort der mit großen Schwenkbereich rotierenden Egomaschinen kommt.
Ich komme hier innerhalb von 24 Stunden in tiefe Entspannung. Nur mit Schwimmen, Baden, auf der Bergblick-Terrasse sitzen, Mittagsschläfchen und moderaten Gängen durch die Wälder (es gab grade Tannensprossen zu knabbern, die Walderdbeeren blühten noch).
wald
Dem Grafen ging es ähnlich und so verbrachten wir unsere Tage als mentales  und körperliches Knäuel, auf das immer mal ein Glas Champagner gekippt wurde.
Zwei Träume blieben übrig, ein kleiner und ein großer. Der kleine und leicht zu realisierende ist, mit Freunden hierher zurückzukehren. Im Spätsommer, wenn die Ernte in den Wäldern wartet. Man könnte in die Vorberge ziehen und Pilze und Beeren sammeln, während auf dem großen Grill Pulled Pork und Spare Ribs garen und am Schluss noch kurze Zeit ein Stück Reh(?), ein Karpfen oder Forellen und Kartoffeln in der Schale dazugelegt werden. Die Pilze würden gebraten und mit Fleisch, Fisch und hausgebackenem Brot gegessen, dazu gäbe es Kuchen von der besten Bäckerin der umgebenden Dörfer und am nächsten Tag würde aus den Beeren Marmelade gekocht. Kinder könnten mitgebracht werden und hätten Spaß auf dem Spielplatz.
Der große Traum ist wirklich groß. Es gibt einen kleinen Ort in den Bergen, da ließe es sich gut leben. (Aber da ich nun 35 Jahre vom ländlichen Leben rede und es nie realisiert habe, gehört das wohl in der Bereich Traum und bleibt dort.)

Da fällt mir noch etwas anderes ein. In Polen gibt es eine sehr Fast Food Kette mit Namen Smazalnia Ryb (=leckerer Fisch). Scheinbar ein Franchise-System. Das sind Holzhäuser, hinter denen ein großer Fischteich ist. Außen ist ein Räucherofen, innen eine Küche und ein großer Gastraum. Es gibt geräucherten und gebratenen Süßwasserfisch aus dem Teich – Karpfen, Aal, Wels, Barsch, manchmal auch Forelle (deren Aufzucht scheint zu aufwändig) aber auch Lachs und Seefische, dazu Krautsalat, Gurkensalat, Kartoffelsalat oder Pommes und diverse Sößchen. Eine super Idee, weil eigentlich alles frisch und ohne große Transportwege angeboten werden kann. Der Test im letzten Jahr war nicht sooo dolle. Zwei unmotivierte Studentinnen schmissen noch mal die Fritteuse an, sotten einen grätigen Fisch mit miesem Öl zu fetter Pampe und klatschten kühlschrank-kalte Salate dazu. Muß man nicht noch mal testen, aber die Idee ist Spitze. Es bleibt auf bessere Ausführung zu warten. (Vielleicht wandere ich ja auch aus und mache eine Fischbude im Schlesischen auf.)

Auf dem Rückweg machte wir einen kurzen Stopp in Görlitz und wandelten auf Pfaden der oberlausitzische Akademie der Wissenschaften. Man muss nicht nur den Barock-Zyklus lesen, um zu wissen, wie es da zugegangen sein muss.

Zurück ins Netz und die Aufreger meiner Timeline. Im Gegensatz zum Grafen, der das Westfalenblatt aus eigenem Erleben kennt, finde ich es nicht prickelnd, wenn eine konservative Kolumnistin weggemobbt wird. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Meinungen jenseits der Deutungshoheit einer selbsterklärten Elite in Zeitungen nicht zugelassen waren. Daher taugten diese Zeitungen prima zum nasse Schuhe ausstopfen, kein Mensch wollte dieses Gedöns lesen, das doch von einer ganz anderen (Wunsch-)Welt kündete als der existierenden.
Natürlich werde ich dann sofort gefragt, wie denn meine Meinung ist. Ob ich es vielleicht abwegig fände, wenn Menschen gleichen Geschlechts heiraten und Familien gründen. Das ist komisch, denn darum geht es gar nicht. Ich habe dazu seit Jahrzehnten eine progressive Meinung, wobei die Ehe als Legitimation für Zusammenleben mit der Subventionierung Ehegattensplitting etwas sehr westdeutsches ist.
Es geht dabei nicht um das, was ich denke, sondern ich finde es wichtig, dass auch Meinungen*, die aus dem letzten Jahrhundert kommen und für viele nur noch peinlich-hinterwäldlerisch sind, ihre Öffentlichkeit haben. Schließlich besteht Deutschland nicht nur aus Großstädten, sondern die konservativ-kleinbürgerlichen Traditionalisten (personifizieren wir sie nun als deutscher Michel, Biedermann oder Mecki) sind die Basis dieses Landes. Auch wenn uns, die wir uns nur zu gern als progressiv definieren, das nicht gefällt.
Ich halte es nicht für gut, wenn diese Leute irgendwann „Lügenpresse“ skandieren, weil ihre Werte in der öffentlichen Kommunikation nicht mehr vorkommen. Die Ressentiments gegen gleichgeschlechtliche Ehen mit allen rechtlichen Konsequenzen sind mir zwar fremd, aber europaweit riesengroß. Aber die Zeit wird über sie hinweggehen. Es macht weder Sinn, sich böse und verletzend darüber lustig zu machen und sich trotzdem als moralisch überlegen zu fühlen, noch nutzt es etwas, solche Meinungen aus der Presse auszuradieren und so zu tun, als wären sie nicht da. Sie fallen dann nur in den Schatten und haben eine üble Eigendynamik.

Gleiches gilt für Menschen, die in noch anderen Zeitungen schreiben, was wiederum Leuten mit großer Reichweite und angemaßter Deutungshoheit nicht passt. Seien die in Verschiss geratenen Zielscheiben nun nassforsche Jungmaid mit Adelsnamen oder von Beruf Sohn aus besserem Hause (den ich seit Jahren mit Amüsement lese, weil er so wenig Mainstream ist, auch wenn ich mich manchmal tierisch über ihn aufrege).** Ich bin doch verdammtnochmal froh, dass in Zeitungen Dinge stehen dürfen, über die mal die oder mal die Gruppierung sich erregt. Und denke an Tucholsky und von Ossietzky und all die Leute, die in der DDR Zeitungen mit Stempel und Linolschnittmesser gemacht haben, weil der Zugang zu Druck- und Hektografiermaschinen unter Kontrolle stand.
Eine funktionierende Demokratie hält Reibung zwischen unterschiedlichen Meinungen aus. Und der kindliche Wunsch, dass diejenigen verschwinden mögen, die nicht das sagen, was man selbst denkt und erwartet, steht Erwachsenen schlecht zu Gesicht.

Und gleichzeitig frage ich mich, ob das überhaupt noch relevant ist. Es ist erstaunlich, wie viel Bedeutung die Netzkommunikation Texten beimisst, die auf Papier stehen – oder noch besser – Online-Anhängsel von Print-Publikationen sind. So als würde der Streitwert oder die Relevanz einer Meinung steigen, sobald sie unter dem Dach eines Verlages geäußert wird. Heut noch, wo jeder ins Internet schreiben kann. Erstaunlich.

Noch ein wenig Literatur (ja, heute mänandert es schwer rumpelnd Granit auf Gußeisen):

Vier Tagereisen von Paris in einem Schlammloch, das meiner Familie gehört (…) lebt etwas zwischen Mensch und Vieh. ich hoffe, es in diesem Leben nicht zu sehen, oder in einem anderen Leben, wenn es ein andres Leben gibt. Der bloße Gedanke an seinen Geruch treibt mir den Schweiß aus allen Poren. (…) Aber manchmal träume ich, dass es aus meinen Spiegeln tritt auf seinen Füßen aus Stallmist und ganz ohne Gesichter, aber seine Hände sehe ich genau, Klauen und Hufe, wenn es mir die Seide von den Schenkeln reißt und wirft sich auf mich wie Erdschollen auf den Sarg, und vielleicht ist seine Gewalt der Schlüssel, der mein Herz aufschließt.
Heiner Müller, „Quartett“

Die Angst derer, die sich für großstädtische Elite hielten, vor den anderen.

Und da ich gerade dabei bin, noch mal Heiner Müller, der Schluss des Monologes vom Mann in Fahrstuhl aus „Der Auftrag“

Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.***

Großes Kino, oder? Heiner Müller ist dieses Jahr 10 Jahre tot und er hat mich geprägt wie kein anderer Dramatiker. Ich saß atemlos auf der Probebühne in der Probe zu „Der Auftrag“ und dachte immer: „Au weia, das darf man doch garnicht sagen!“
(Die Premiere fand, wenn ich mich recht erinnere, auch nicht statt. Zumindest nicht in Originalbesetzung. Einer der Schauspieler wurde in Berlin verhaftet, wegen staatsfeindlicher Zusammenrottung. Er bekam einen Blitzprozeß, ging für anderthalb Jahre nach Bautzen und wurde abgeschoben. Eine Bekannte war sehr sicher, dass er wohl die falsche Frau im Bett hatte und jemand sich gerächt hatte. Der Mann hatte im Westen noch eine ziemlich gute Karriere. Auf Fragen nach diesem Ereignis antwortet er nicht.)

Nachtrag, da wir bei Aufregern waren. Ich habe scheinbar Anfang der 90er in Westberlin noch den letzten Rest dessen, das jetzt Pädophilie-Skandal heißt, am Rande mitbekommen.
Eine Mitschülerin vom Kind sang einmal, als ich die beiden von der Schule in den Hort begleitete, ein Lied, das davon handelte, wohin ein Mensch anderen Menschen seinen Penis stecken könnte. Da waren Details dabei, die ich grade mal mit 13 kannte, aber sicher nicht mit 6 Jahren. Ich fragte sie, woher sie das Lied hätte und sie sagte, das hätte ihnen ein Erzieher letztes Jahr im Kinderladen beigebracht. Ich fand das etwas beunruhigend und sprach die Mutter darauf an, die wiederum abwiegelte: Das sei ein hardcore Kinderladen in Kreuzberg gewesen, da hätten sie solche Lieder gelernt. Alles ok., das sei halt dort so.
Ich zuckte die Schultern und dachte mir ok., das ist scheinbar diese sexuelle Revolution im Westen mit ihren ganz wilden Auswüchsen und überlegte noch eine Weile, wie ich den Kontakt und seine Inhalte zwischen den Kindern kontrollieren könnte. Aber dann hatte sich das auch erledigt, das Mädchen wurde ein Jahr zurückgestellt.

 

*womit ich meine „ich finde es nicht gut“ und nicht „man sollte teeren, federn, wo ist die nächste Laterne?“, weil Meinung ist im Idealfall eine Ich-Botschaft und keine Forderung andere betreffend
**in meiner Timeline entwickelten sich scharfe Diskussionen unter gestandenen Herren. woanders wären die wohl mit „aufs Maul“ ausgetragen worden
***Auch eine Art, sich mit Othering zu beschäftigen.

Veröffentlicht unter Leben

WMDEDGT Juni 2015

Frau Brüllen möchte wieder wissen, was ich getan habe. Nun denn.

Heute klingelte mein Wecker erst um 10 Minuten vor 7 und irgendwie kam ich schon früh in meiner Morgenroutine aus dem Tritt. Der erste ernstzunehmende Berliner Sommertag war schuld. Beine rasieren und Kleid bügeln waren eigentlich nicht geplant. Dann kam wie immer kurz vorm losradeln die Biokiste und ich packte schnell noch alles Gemüse in den Kühlschrank.
Mit 5 Minuten Verspätung traf ich im Büro ein, vorher gab es noch auf dem Weg eine Schrecksekunde. Eine junge Frau wäre mit ihrem Rad fast vor die Straßenbahn gerast. Alle Fußgängerampeln waren grün, nur eben nicht die an der Straßenbahntrasse an der Mitte der Straße, das übersieht man leicht. Aber der Bahnfahrer konnte noch bremsen und ich schreie auf dem Rad immer furchtbar laut reflexartig „Ach-tung!!!“ wenn es gefährlich wird. (Das erschreckt zwar diverse ausländische Touristen, weil sie das Wort wahrscheinlich nur aus Nazi-Filmen kennen, aber man regiert darauf.)

Der Arbeitstag war halbanstrengend, weil Brückentag im katholischen Deutschland und außerdem in dieser Woche erst mein dritter Arbeitstag. Der Chef wurde in den Urlaub verabschiedet. Er plant dort, nur 4 Stunden am Tag zu arbeiten. Das kommt mir alles so verdammt bekannt vor.
So langsam lerne ich auch die kleinen Büroaufregerli kennen. Offen stehende Klotüren zum Beispiel. Dass ständig jemand meine Kaffeetasse benutzt. Oder das Unvermögen von irgendwelchen Spacken, den Besteckkorb einer Miele-Spülmaschine korrekt einzuräumen.
Ich machte pünktlich Schluss. Wichtig ist, das Telefon rechtzeitig auszuschalten. Sonst kommt womöglich noch einer der üblen 5-vor-Anrufe, wo irgendjemand der Zeit hat, mal ein paar langwierige Grundsatzerklärungen von sich gibt, die Null geschäftsrelevant sind, nicht unter 20 min dauern und ganz schwer mit der Begründung „Sie! Ich hab jetzt Feierabend, Sie!“ abzuwürgen sind.

Auf dem Nachhauseweg fuhr ich noch bei Karls Erdbeerhäuschen vorbei, doch da war leider schon alles ausverkauft und geschlossen. Als ich angekommen war, warf ich schnell meine Sachen ab, ging zu Süße Sünde und aß im Weinbergspark auf der Bank sitzend Schokoladensorbet und Sahneeis.
Der Abend vergeht mit dem Grafen recht schnell – mit Resten von Sekt und Erdbeeren, Leberwurstbrot und viel Ruhe. Ganz eigentlich ist das ein Abend, an dem man noch rausgehen müsste, unten vor dem Fenster tobt das Leben. Aber ich weiß, nach einem Glas Wein im Rebkeller fiele mir der Kopf vor Müdigkeit auf die Tischplatte.

So werde ich noch etwas rumkramen, das Kleid sichten, das ich morgen zu Glams Party tragen will, Wäsche aufhängen und bald schlafen gehen, denn selbst zum Stricken bin ich zu müde.

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