Archiv für den Monat: Mai 2014
Von Brosamen leben
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass wir alle furchtbar hungern müssen. Es gibt nur zwei warme Mahlzeiten am Tag und am Wochenende ist es besonders schlimm. Da finden im Convento jede Menge Parties statt: Kindergeburtstag, Kommunion, religiöse Sessions und praktischerweise kocht man für uns nicht noch mal extra. Böse Menschen sagen, dass wir die Reste von großem Getafel essen. Solange das so aussieht und schmeckt wie heute, ist das vollkommen ok.
Es gab nämlich heute Mittag Lasagne und als zweiten Gang kleine frittierte Flussfischlein und Scampi, dazu Salat. Am Abend standen Antipasti auf dem Tisch: Gegrilltes Gemüse, mit Auberginen umhüllter Ricotta, Berge von Artischockenherzen und kleine Fleischbällchen, dann gab es Braten – Schweinefilet und Lammkeule mit gebackenem Risotto Milanese, in dem Spargelspitzen steckten. Dann musste die Küche noch jede Menge Semifreddo loswerden und auch den guten Syrah und den Nero D’Avola, nicht nur den normalen Tischwein.
Ach und dann mussten wir vor lauter Hunger im Klostergarten einen Mispelbaum plündern. Eine kleine, nicht mehr ganz junge drahtige Griechin kletterte einfach hinauf und ernetete gut 3 Kilo.
Schlimm ist das, wirklich schlimm.
In der letzten Nacht saß ich auf der Dachterrasse, wo sich der Blick über Palermo noch einmal weitet und ein fetter gelber Mond ging auf.
Es gibt aber auch weniger gute Dinge: heute hatte ich tatsächlich mal wieder eine klassische Data-Overload Situation und musste die Session verlassen. Ich habe dann zwei Stunden geschlafen, dann war es wieder ok.
Was mich mittlerweile richtig ärgert (nicht nur in dieser Runde), wenn ich erkläre, was mit mir los ist, warum ich Ausfälle habe – dass ich noch mit den Folgen eines schweren Burnouts zu tun habe, kommen Sprüche, da könnte ich kotzen.
„Ach was, nur einen Burnout? Den hab ich jede Woche!“
„Mir geht es noch viel schlechter!“
„Du musstest einfach nur schlafen, müde sind wir alle!“
Also so im Stil von „reiß dich mal zusammen“. Ich werde dann so was von aggressiv. Ich wünsche niemandem, durch so eine Hölle gehen und das halbe Leben aufgeben zu müssen. Ich suche noch nach dem richtigen Spruch für eine solche Gelegenheit.
Die Unterweisungen heute waren wieder rührend 60ies. Von Boal und dem Theater der Unterdrückten hatte ich schon vor dem Theaterwissenschaftsstudium gehört. Ich erinnere mich an eine wunderbare Mitmachinszenierung im Oderkaff-Theater, die tatsächlich mal von Freunden von mir durch Mitmachen gesprengt wurde – und der Rest war Publikumsbeschimpfung von der Bühne herab.
Und auch hier merke ich wieder: Die Strukturen haben sich massiv verändert. Den fetten Kapitalisten mit Zigarre und Zylinder mit seinen Schergen und den Antreiber mit der Peitsche gibt es so nicht mehr und Unterdrückung findet im wesentlichen in den Köpfen statt, in allen Spielarten von Selbstoptimierung, Selbstdisziplin und innerer Konditionierung – das ist outgesourct. Zumindest in meiner Umgebung.
Nün ja, kann ich da wiederum nur sagen.
So, nun gibt es noch ein Foto. Miz Kitty, komplett mental zerlegt:
HJC·SVNT·LEONES
Die letzten Tage waren rasend. Erstmal das normale Programm, das für hiesige Verhältnisse sehr straff und dicht organisiert ist, so dass eher das intereuropäische Publikum sagte: „Stop mal, halt mal! Nicht so viel!“
Aber es gab auch 1 1/2 freie Tage. Wir fuhren am Mittwoch nachmittag nach Palermo und tauchten mit einem Guide in die Stadt ein. Der gute Mann ist entweder der Ghostwriter von Umberto Eco oder diese Stadt und dieses Land sind tatsächlich so voll von Geschichten, dass ich nun weiß, warum Eco so schreibt.
(Wie es so ist in der Kirchen ehrwürdger Nacht – es war zu dunkel für Fotos, man verzeihe mir das.)
Wir waren gut eine Stunde in der Casa Professa und ich stand wirklich mit offenem Maul vor den prächtigen Marmorreliefs, staunte und hörte dem Guide, der eher ein Griot war, zu.
Der andere Teil war Sightseeing der besseren Art. Durch wilde Viertel ging es, in denen sich jeder seine eigene Leitung legt und man am liebsten mit Leitern in die Wohnungen steigen würde, wäre das nicht verboten.
Dann kam ein Tag am Meer.
Und auch hier in Cefalù gab es jede Menge altes Gemäuer und statt der Jesuiten bauten die Normannen die Kirche.
Die Südländer weigerten sich striktemang, ins Wasser zu gehen, die Nordländer sprangen hinein. Ich flanierte entspannt über den Strand und durch die Gässchen, wäre aber etwas entspannter gewesen, wenn ich dies hätte allein tun können. Eine versprengte Dame aus Bulgarien wollte nicht allein sein, fand die anderen nicht und begleitete mich. Für mich Solistin war das nicht unanstrengend, aber man muss die Dinge nehmen wie sie kommen.
Mittlerweile weiß ich, dass ich mein furchtbares Englisch niemandem mehr antun sollte. Wenn ich zurückkomme, werde ich mich mal hinsetzen und Vokabeln und Deklinationen lernen. Weiß jemand einen guten Alleinlernen-Audio-Sprachkurs?
Die Macht der Mätresse
Eines der heutigen Themen war, das Handeln und die Situationen anderer Menschen nachvollziehen zu können. Natürlich nicht mit Reden, sondern mit einer kleinen, trickreichen Spielsituation, die visualisierte, wie weit oben oder unten Menschen in Europa in ihrer Gesellschaft positioniert sind in Sachen Sorgenfreiheit, Ressourcenbeteiligung, Rede- und Bewegungsfreiheit. Natürlich ist das nicht frei von Projektionen und Klischees in den Köpfen der Beteiligten.
Das phänomenale, wieder nicht so ganz erwünschte Ergebnis war, dass neben dem korrupten südosteuropäischen Staatsbeamten die mit Kindern gesegnete Mätresse eines reichen Mannes in einem sehr patriarchalen Land die glücklichste und an fast allem Beteiligte war. Um das zu verifizieren, wie viel Projektion in dem Köpfen das Phänomen erzeugt hat, fragten wir einen Teilnehmer, der sich dort auskennt. Und der konnte das bestätigen: Die Zweitfrau (wie er sagte) eines reichen Mannes, vor allem wenn sie Kinder hat, ist ziemlich sorgen- und unannehmlichkeitenfrei, wenn sie das Geld zusammenhält und für das Alter vorsorgt. Bis auf den Umstand, dass sie bei anderen nicht in hohem gesellschaftlichen Ansehen steht und verborgen lebt.
Überhaupt bin ich sehr glücklich über viele Beobachtungen, die ich mache. Es räumt so angenehm mit unreflektierten Vorstellungen auf. Dieses Lamento „alles wird immer schlechter! Früher war alles besser!“ Mit scheint mit dem intereuropäischen Blick, daß die alten Sozialstaaten wie Deutschland und Schweden auf so hohem (Versorgungs-)Niveau in der Mindestbedarfssicherung gelebt haben, dass es davon scheinbar nur noch abwärts gehen konnte. (Ob ich das, was mit dem deutschen Arbeitsmarkt in den letzten Jahren passiert ist, gut finden kann, weiß ich noch nicht.)
Dass in den Süd- und Osteuropäischen Staaten die Mischung zwischen Aufbruch und Frustration herrscht, die wir Ostdeutschen auch kennen. Dass es den Leuten besser geht, sie dafür aber auch einen Preis zahlen. Dass ernährungsbewusste Letten lieber russische Produkte kaufen, statt allgegenwärtigem deutschem Industrieessen.
Und ich spreche endlich schamlos englisch. Ich habe zwar nicht sehr viel mehr gelernt, weil gar keine Zeit bleibt für neue Vokabeln. Aber ich habe meine Blockaden über Bord geworfen.
Auch wenn es sehr anstrengend ist, denn bisher gab es jeden Tag 9 Stunden Programm, ich bin froh über diese Entscheidung, hier zu sein.
(Natürlich auch wegen des Essens. Heute gab es Mittags und Abends als Plato Segundo umwerfend guten Fisch mit Gemüse und Salat. In den letzten zwei Tagen wurden abends das Essen verspachtelt und die Schnäpse getrunken, die die Teilnehmer aus der Heimat mitgebracht hatten. Sehr witzig, dass es Unmengen von Würsten gab, die fast gleich schmeckten, aber von jedem als regionale Spezialität gepriesen wurden. Dazu gabs dann RakiAquavitKräuterschnaps.)