Der Tag gestern hatte mir echt die Schuhe ausgezogen. Aber jetzt geht es weiter im Text, das blonde Biest steht auch wieder am Himmel und strahlt über die aufziehende Winterkälte hinweg. Es hätte alles schlimmer kommen können.
Was macht man mit der Ankündigung, dass das wichtigste Lebenszeichen eines Freundes, das man täglich liest, wohl bald nicht mehr kommen wird? Dagegen reden? Oder diesen Wunsch respektieren? Letzteres muss ich wohl, so traurig es mich macht.
Eine komische letzte Woche war das. Dieser Alice-Schwarzer-Post war eigentlich Teil eines schriftlichen Sonntagsgeplauders. Irgendwann dachte ich. Nö, lass den mal so stehen, weniger ist mehr, mal sehen, was passiert. Es passierte. Ich glaube, ich hatte noch nie so viele Zugriffe auf einen so trockenen Text und so viele Verlinkungen.* Aha. Leute, die Internet-PR machen, lernen das wahrscheinlich schon in der ersten Schulstunde, dass man Informationen in zielgruppengerechte Häppchen zerlegt.
Weitergedacht – Mit mir hätte so ein Verlautbarungs-Schreiben dann aber gar nichts mehr zu tun. Kitty Komas Diary, das ist Leben, Lieben, Mimimi, Kulturkritik und immer mal ein Waldorf & Stetler-haftes Statement, zu dem, was mir so auffällt. Also halte ich es wie der bayrische Dandy, hier gibts auch weiterhin keine optimierten Produkte, sondern das pralle Leben.
Schon weil diese Weltvereinfachung dem allgemeinen Trend Vorschub leisten würde, mit -ismen beschriftete Schubladen zu füllen und was nicht passt, passend zu machen und das hasse ich wie die Pest. Das Leben chaotisch und absurd und wer es papieren dürre machen muss, um sich ihm besser aussetzen zu können, ist eine arme Sau. Mit Verlaub.
Ein schöner Link zum Thema Schematisierung der Welt zum Zweck der Einpassung in ideenbeschwerte Begrifflichkeiten ist dieser. Menschen haben sich den Spaß gemacht, eine Ego-Inszenierungs-Kultur, nämlich das unter #selfie verhashtagte Handy-Selbstporträt ad absurdum zu führen, indem sie den Wortspiel-Hashtag #shelfie dagegensetzten und ihre Bücherregale fotografierten. Zeitgleich sammelte jemand selfies von ganz merkbefreien (seltenst deutschen) Touristen, die der Welt zeigten: „Hey, icke! Bin grad in Auschwitz! Vernichtunglager! Wisster Bescheid!“ oder so.
Ergebnis dieser Kollision: Subsummierung der Bücherschrankfotos unter den Begriff Klassismus. Und Klassismus ist grade ein ganz großes Buzzword.**
(Ich habe eher das Gefühl, dass dieses Klassismusgewaber rhetorisches Symptom einer in Klassen und Schichten kaum noch durchlässigen Gesellschaft ist. Die Botschaft lautet für mich: „Bleib mal da, wo du bist, ist doch auch schick!“ Es gibt keine Unterschiede, sondern nur noch Diversity – eine andere Art, sich etwas schön zu reden. Wer sich verändern will, muss erstmal merken, dass es Unterschiede und eine andere, womöglich für ihn besser funktionierende Existenz gibt, die er gegen Widerstand erreichen kann. Denn in der Regel begrüßt einen keiner in der kommoderen Existenz mit Handschlag und macht freundlich seinen Platz frei.)
Ich setze dem selfie-shelfie-Diskurs mal andere -ismen dagegen: Karnevalismus. Was das ist? Das war der indoktrinale heiße Scheiß in den Zeiten des Stalinismus. Gegen die Vereinfachung der Welt per (Sprach-)diktatur unter Josef Stalin, in einer Zeit, in der man zum Lachen und unverstellt Reden lieber in den Keller ging, um nicht im Lager zu landen, schrieb der Literaturwissenschaftler Bachtin den Essay Творчество Франсуа Рабле и народная культура средневековья и Ренессанса (Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur). – Ich lege allen Buzzwordbenutzer_innen ans Herz, diese Arbeit zu lesen.
Rohe Zusammenfassung, auf das Thema bezogen: Jede Kultur hat ihre Gegenkultur und das äußert sich in absurden Details. Shelfie ist die gegenkulturelle Reaktion auf selfie und ich fürchte – auch wenn das den Fotografierenden sicher nicht bewußt ist – die selfiesatseriousplaces gehören zur gegenkulturellen Reaktion auf unsere Erinnerungs- und Mahnmalkultur. Das eine geht nicht ohne das andere. Auf Beerdigungsfeiern werden die saftigsten Witze gerissen.
In der Langfassung: Bachtin schrieb damals etwas Bahnbrechendes auf. Die Kultur des Impulsiven, Triebhaften, Niederen und Banalen ist die andere Seite der Medaille der Herrschafts-/Hochkultur, in der diese Impulse kontrolliert und sublimiert sind. Die beiden Seiten sind untrennbar miteinander verbunden und kluge Herrschaftssysteme wussten das als druckstabilisierendes Prinzip zu benutzen. Die Sklaven-Herren-Verkehrung während der Saturnalien, ebenso das exzessive, lüsterne, brutale Treiben des Karnevals in katholischen Landstrichen oder die vollen Schnaps- und Schweinefleischtheken in den Zeiten des schmallippigen Kleinbürgersozialismus hatten diese Funktion.
Diktatoren wie Stalin, die größenwahnsinnig nicht einmal ein Ventil ertrugen, hatten Besserungslager für die Menschen, die die Denk-, Rede- und Handlungsverbote ihrer Ideologie übertraten. Ein Grund, warum Bachtin über Rabelais, das Mittelalter und die Renaissance schrieb – offen über die Gegenwart zu schreiben, hätte ihn das Leben gekostet. Hat ihm aber nichts genutzt. Die besten Jahre seines Lebens hat er wegen ungebührlicher Gedanken und ihrer Äußerung als Buchhalter in Sibirien verbracht.
Die harmlosen Verfechter_innen von Sprach- und Denkdiktatur sind die Wortgouvernanten, die zu allem, was herausplatzt und passiert, gegenzischen: Das sagt man nicht! / Das macht man nicht! die haben in dem Spiel von Sudel und Moral, von Erhabenem und Witz ihre Funktion, aber vor den anderen, die sich weiters bemächtigen und nur unser Bestes wollen, bewahre uns Gott.
Themenwechsel. Ich arbeite gerade an einem Kleid, das sehr schön wird. Das einzige Problem ist wohl mal wieder der Schnitt vs. meine Physis. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, mich so darüber zu ärgern, dass ich lieber 10 Kilo abnehme, als weiter diese Anpassungen zu machen. Die ernüchternde Erkenntnis lautet: Für Schnitte für Dicke bin ich nicht dick genug. Ich habe weder runde Schultern, noch einen runden Rücken, meine Brüste sind nicht groß und tief genug und ich bin nicht halslos. Ich habe vor allem Bauch, Hüfte und Oberarm, wie alle meine Omas und Tanten in diesem Alter hatten. Deshalb darf ich aus einem fast zusammengenähten Kleid zentimeterweise Brust, Rücken und Schulter rausnehmen und dafür die Taille hochsetzen und rauslassen. Über den viel zu weiten Halsauschnitt decken wir mal den Mantel der Liebe und des Schweigens, der lässt sich konstruktionsbedingt nicht ändern.
Nehme ich wieder einen Schnitt für normale, ist der so schon von der Linienführung so, daß es endlos blöde aussieht. Es ist zum Haareraufen…
*Witzigerweise außer blogf, die das entweder verpennt haben oder denen der Text zu wenig auf ihrer politischen Linie lag.
**Wie man aber am Wikipedia-Artikel und seinen Editierungshinweisen sieht, scheinbar kaum erklärbar.