Familienfrieden

Es war eine gute Beerdigung. Vor der Urne stand eines der wenigen Fotos, auf denen Oma Lotte lächelte. (Das hatte sie seit der Jungmädchenzeit nicht mehr getan, auf Fotos gelächelt.) Meine Mutter hielt eine sehr schöne Rede. Eine grau getigerte Katze folgte für eine Weile unserem kleinen Trauerzug, sie schaute wissend herüber. Es hat sich vollendet.

Ich wunderte mich, dass Pfleger aus dem Heim gekommen waren. Meine Mutter meinte: „Aber die mochten sie doch so sehr, sie war doch so lieb!“ Erst schob ich das auf massiv einsetzende Verklärung ihrerseits. War doch meiner Mutter Lottes Schimpfen und Wüten gegenüber dem Pflegepersonal sehr peinlich gewesen. Dann fragte ich noch einmal nach.
Charlotte musste in den Wochen vor ihrem Tod eine starke Veränderung durchgemacht haben. Woran das lag, kann ich nur spekulieren.

Vielleicht an den Wohnbedingungen? Seit sie verheiratet war, wohnte sie in modernen, Wohnungen für Kleinfamilien und Alleinlebende. Das Siedlungshaus der 30er, der 60er, der Plattenbau. Sie alle waren klein, praktisch geschnitten, hell und hatten große Fenster und niedrige Räume. Als sie hinfälliger wurde, zog sie in ein Haus mit betreuten Wohnungen. Für unsere Generation ein Traum. Ein denkmalgeschütztes Bürgerhaus aus dem frühen 18. Jahrhundert, sehr schön wieder hergerichtet, zwei Steinwürfe von der Wohnung meiner Eltern entfernt gelegen. Sie bewohnte dort ein zwei Zimmer mit Blick auf den Anger, mit hohen Decken und kleinem Balkon. Es gab einen sehr schönen Remisenhof und im Erdgeschoß einen Gemeinschaftsraum. Kurz nach dem Umzug wurde sie schwer depressiv. Sie weigerte sich, an Gemeinschaftsunternehmungen teilzunehmen und ging nicht vor die Tür. Ein paar Jahre später konnte sie nachts nicht mehr allein bleiben und zog ein paar Häuser weiter. Das ganze Viertel wurde in der gleichen Epoche gebaut. Diesmal wohnte sie mit Blick auf den Remisenhof in einem hübschen kleinen, aber im Winter ziemlich düsteren Zimmer. Sie saß oft stundenlang im Dunkeln – man müsse schließlich Strom sparen.
Die Einrichtung war als WG konzipiert, mit Gemeinschaftsklos und -bädern und einer Küche auf jedem Stockwerk. Die Insassen waren dafür aber zu hinfällig. Deshalb nutzte niemand die Küche zum Kochen, die Mahlzeiten wurden in den Gemeinschaftsraum angeliefert. Es gab einen sehr komfortablen Betreuungsschlüssel, eigentlich war immer etwas los: Basteln, Backen, Singen, Zeitung lesen, Vorlesen, das Personal war sehr liebevoll und kreativ. Aber Lotte weigerte sich mit Händen und Füßen, in diese Gemeinschaft zu gehen und wurde bitter böse und wütend.
Da die WG nicht kostendeckend geführt werden konnte und aufgelöst wurde, musste sie kurz vor ihrem Tod noch einmal umziehen. In ein Pflegeheim in einem Plattenbau mit großen Fenstern und hellen kleinen Zimmern mit Bad, krankenhausähnlich. Plötzlich veränderte sie sich. Sie wurde freundlich, offen und fast gesellig. Was sie in den letzten Jahren nie getan hatte, holte sie in den wenigen Tagen, die ihr bleiben, nach – sie nahm sich ihren Rollator und war im Haus unterwegs. Sprach mit dem Personal, erzählte Geschichten, ging zur Sportstunde. So wie sie es früher so oft im Krankenhaus getan hatte, wo sie die nie klagende, starke, pflegeleichte Patentin war.

Was ich daraus folgere? Man kann alte Bäume zwar verpflanzen, sollte ihnen aber von der Umgebung her nicht zuviel Veränderung zumuten. Geübte Lebensformen gehen immer. Wer sein Leben lang allein, in der Kleinfamilie oder als Paar gelebt hat, versteht keine WG. Das können nur Althippies und Schweizer Mägde und Knechte (danach kann man bei Spiegel online googlen). Das scheint auch Lebensräume zu betreffen. Wer sein Leben lang im eigenen Haus mit Garten oder in der großen Altbauwohnung gelebt hat, geht im Plattenbau ein wie ein Primelpott und – siehe hier – umgekehrt. Wer modernes Wohnen gelebt hat, geht nicht mehr hinter meterdicke historische Mauern.

Es gibt noch eine zweite Interpretation: Schicksalsergebenheit. Für mich war klar, sich zu wehren und Widerstand zu leisten, gehörte zu ihren Leben. Sie hat sich 20 Jahre gegen eine schwere Krankheit gewehrt. Irgendwann sagte ich auch mal zu meiner Mutter, als sie sich wieder über einen Ausbruch beklagte: „Solange sie das tut, ist sie noch fit. Wenn sie friedlich wird, hat sie sich ergeben.“ Scheinbar war es so.