Von Lolitas und Lektoren

Wir hatten die Leipziger Autorenrunde auf der Buchmesse schon länger zugesagt, waren aber unsicher, ob wir dort wirklich richtig sind. Aber der Graf buchte am Freitag abend kurz entschlossen zwei Zugtickets, um den Sprung hinüber zu machen und wir sagten dafür eine 1001 Nacht Kostümparty ab, um wiederum auf einem Kostümfest zu landen, aber darüber später.
Der morgendliche ICE hatte die handelsübliche Stunde Verspätung, dafür konnten wir mit dem nächsten ICE, der auf unser Zugpersonal wartete, gleich zur Messe durchfahren. Wir, das war ab dem Bahnhof eine Parade von mehreren tausend Leuten, darunter Rotkäppchen, Samurais und Lolitas. Gut, Nabokovs Buch ist schließlich auch Weltliteratur.
GlashausIn den Messehallen waren wir zunächst komplett verloren. Mehrzweckfläche 3 hieß es und ich war so optimistisch, das gleich zu finden, dass ich auf die Leitsysteme vor Ort vertraute und den Plan nicht ausgedruckt hatte. Wir orteten sie auf der Karte am anderen Ende unserer Position und machten uns auf den Weg. Zwischendurch machten wir noch kleine Guerilla-Werbeaktionen für Stories & Places. Der Graf hatte am Abend zuvor noch kleine Visitenkarten-Lesezeichen gemacht, die wir großzügig in Bücher verteilten, so sie nicht an einem Verlagsstand bewacht wurden.
Als wir am vermuteten Platz der Autorenrunde angekommen waren, erzählte dort eine junge Verlagsangestellte einem Haufen Selftpublishern, was Twitter und Blogs sind. Zum Beispiel, dass man den Blog unbedingt mit Fotos aufhübschen solle, sonst wäre er nicht interessant. Außerdem könne man bei Twitter Gruppen beitreten (wtf!). Tweet schrieb sie in ihrer Powerpoint-Präsentation übrigens mit d, wie den englischen Wollstoff. Kein Kommentar. Wir tauschten einen Blick und suchten das Weite. Kopfschüttelnd waren wir uns einig: Das kann es nicht gewesen sein.
Wir stürzten uns wieder in die Menge. Noch mehr Menschen in Kostümen oder neudeutsch Cosplayer, mittlerweile auch Mädchen mit Krinolinen und Jungs mit blaugemalten Gesichtern. Es fand ein Wettbewerb des besten Mangakostüms statt und sie kamen dafür sogar aus Berlin. Ich finde es übrigens eine super Idee, auf diese Art junge Menschen dazu zu bringen, auf die Buchmesse zu gehen. Wer hätte früher mit 17 gesagt: Ich fahr am Wochenende nach Leipzig auf die Buchmesse? Das ist Klassen besser, als diese Kampagne, die mir eher Angst macht.
Mit den bunt gekleideten Kiddies walzten die anderen Messebesucher mit uns durch die Gänge: Die üblichen Schrifstellergroupies, die sich seit Generationen aus postklimakterischen Studienrätinnen rekrutieren, waren dabei und natürlich Leipziger Ureinwohner, allesamt Tragetaschen des Eulenspiegel mit einem ostalgischen Ulbricht-Witz-Cartoon in der Hand. Sie belagerten auch die Lesung eines blonden Mannes, der den unperfekten Charme von DDR-Produkten beschwor. „Elasan Babypuder!“, sagte er. Die Menge lachte. Wir machten, dass wir weiter kamen.

Dann, die Menschenmenge hatte sich inzwischen in einen undurchdringlichen Strom verwandelt, fragte der Graf besser mal nach dem Weg. Ok., unser Ziel lag ganz am Anfang unserer Tour, also zurück.
So stiegen wir nach kurzer Orientierungspause in die Rundtischgespräche ein. Eine klasse Idee, nicht die dröge „Einer redet seinen Stiefel, alle gähnen“-Sache, sondern wechselnde kleine Auditorien. Das ermöglichte an die Anliegen und Intentionen der Teilnehmer angepaßte Vorträge und eine intensive Diskussion, außerdem noch gute Synergieeffekte, weil sich die Teilnehmer noch gegenseitig etwas beibringen konnten.
Ich habe selten so viele Anregungen zu so mannigfachen Themenkreisen bekommen, konnte dazu meine Schwerpunkte aus einer umfassenden Liste aussuchen und habe dazu interessante Menschen getroffen. Bitte mehr von solchen Veranstaltungen! Und ein großer Dank an Leander Wattig, den Organisator, der das ganze unaufgeregt und souverän leitete, für tolle Sprecher und differenzierte Inhalte gesorgt hatte und eine konzentrierte, aufgeschlossene Atmosphäre schuf.
Ich interessierte mich für Poetry Slam und Lesebühnen, es gab ein Wiedersehen mit Andy Strauß, der vor einer reichlichen Woche um ein Haar den Best of Poetry Slam in der Berliner Volksbühne gewonnen hatte. Da kam so ein Typ auf die Bühne, eine Mischung aus Jonathan Meese und Helge Schneider und was er las, war der absolute Burner. Ich war in der Jury und von seinen Texten sehr angetan. Und nun, im Gespräch in Leipzig merkte ich: der Typ ist intelligent, kompromisslos und kreativ. Gute Mischung. Meine Fragen zu Slam Poetry waren nach der Dreiviertelstunde geklärt. Gut so, denn am Montag werde ich mit jemandem zusammen sitzen, die in dieser Richtung arbeiten will und die um Vorbereitungshilfe für die Auftritte gebeten hat.
Danach ging es mit Johannes M. Ackner um Hörbücher. Auch das war erhellend. Ich hatte ja eine ganze Weile mit einer Schauspielerin in dieser Richtung inhaltlich gearbeitet, aber auch keinen Hehl daraus gemacht, daß ich vom Vertrieb der Hörbücher wenig bis keine Ahnung habe. Die Infos waren eher dämpfend. So das Hörbuch nicht Anhang eines Bestsellers ist (und da sind dann die üblichen Big Player am Werk), sollte man es wie einen Podcast behandeln, den man aus Spass oder Promotiongründen macht.
Letzte Station waren Oliver Schütte im Auftrag der Bastei-Lübbe-Academy (nettes Spin-Off-Unternehmen zur bezahlten Nachwuchsbeobachtung, das sich hier gleich noch selbst darstellte). Schütte kenne ich ja schon aus meinen Fernsehzeiten und habe viel von ihm gelesen und gehört. Er erzählte für mich nichts bahnbrechend Neues, ich bin ja schließlich selbst Dramaturgin. Aber der Versuch, Genre-Erzählstrukturen auch im Trivialroman zu professionalisieren (beim Fernsehen in Deutschland passierte das ja schon vor 15 Jahren), finde ich gut. Vielleicht mach ich doch irgendwann den Schritt zur Barbara-Cartland-Karriere. Mein erklärtes Ziel war es immer, für Bahnhofsbuchhandlungen zu schreiben. Nur blöd, dass es bald keine Bahnhofsbuchhandlungen mehr geben wird…
Danach gab es noch einen kleinen Umtrunk, wir trafen einen Berliner Bekannten und plauderten etwas, bis dieser seine Freundin im Presszentrum abholte und auf dem Weg nach draussen: Cosplayer.
Nicht vom Rand springen! Heidi
Himmel und Hölle Karrieretag Buch + Medien

Ganz ehrlich: Die einzigen Bücher, die ich gesehen habe, waren gestalterische Preisträger. Alle anderen Titel, überhaupt das physische Buch, hat mich nicht sonderlich interessiert. Der Literaturbetrieb hat für mich zur Zeit etwas morbid-überhitztes und die Papierpakete kann ich auch als Textdatei aus dem Netz laden. (Ausnahmen: Herzensbücher)
Es wird interessant, wie Verlage in Zeiten des etablierten eBooks (also t+3Jahre) ihre Produkte präsentieren werden. Was Verlage überhaupt noch tun werden. (Btw. Der einzige Mensch, der im Auditorium der Autorenrunde das eBook laut sinnierend für eine vorübergehende Erscheinung hielt, war ein Lektor kurz vor der Rente. Der darf das.)
Vielleicht feiern wir ein Fest der Geschichtenerzähler. Gestern habe ich beim Gang über die Messe noch eine Linotype-Maschine bewundert. Ein wunderbares, mechanisches Gerät, präzise wie ein Uhrwerk. Doch es könnte sein, dass wir aus der Gutenberg-Galaxis in einen neues orales Kulturuniversum eintreten.

Ende

Ende

PS: Hier schreibt der Graf über den Tag.

Female Leadership

Die Digital Media Women Berlin machten gestern eine Veranstaltung zum Thema Frauen in Führungspositionen. Gitta Blatt als HR-Chefin des Berliner Online-Spiele-Entwickelers Wooga und Sheila Marcelo, Gründerin und Chefin von Care, einem Service, der Familiendienstleistungen vermittelt, traten als Keynote-Speakerinnen auf.
Wie das so ist mit Keynotes, das sind ja auch Statements auf Reisen. Gitta Blatt referierte zunächst über die üblichen Statistiken – Frauenanteile an Universitäten, in Berufen, in Führungspositionen – und stellte dann wooga als Hipster-Büllerbü vor, mit vielen Bildern junger, glücklicher werktätiger Menschen, beim gemeinsamen Arbeiten und Pizzaessen. Schön, aber auch Ausdruck eines Arbeitnehmermarktes, denn gerade in dieser Branche schlägt der Fachkräftemangel voll rein und man muss etwas bieten. Unter anderem auch eine Kinderbetreuungsgarantie (die allerdings mit einem unsicheren Lächeln begleitet wurde, keine Ahnung warum, ob die Frage war, ob es nicht reicht oder ob es nicht genutzt wird, ich wäre für einen Hinweis dankbar, das habe ich nicht ganz verstanden), wenn die jungen werktätige Menschen sich zur Fortpflanzung entschliessen.
Sheila Marcelo hat genau letzteres zu ihrem Geschäft gemacht: Kinderbetreuung, Haushaltshilfe, Altenbetreuung, sie bietet wenig qualifizierten Menschen einen Job, der hochqualifizierten Menschen (vor allem Frauen!) den Rücken freihält. Nur darüber sprach sie nicht. Sie sprach über sich, ihre Herkunft, ihren Lebensweg und ihre Ideen. Man hätte im etwas schrappeligen Café des Betahauses eine Nadel fallen hören können, so gebannt war das Auditorium. Folien mit bunten Bildchen waren Nebensache.
Was für eine Person! Unprätentiös, charmant, aber mit der Klarheit eines beinharten Willens. Es ging um Ziele und Ansprüche an sich und andere, um Respekt gegenüber anderen, um hohe Performance und die Aufgabe, immer etwas weiter und zäher zu sein als die Mitarbeiter.
In dieser Präsenz kenne ich eigentlich nur eine Frau in Deutschland, die  so etwas ähnlich rüberbringen kann, das ist Sina Trinkwalder.
Halt. Sheila Marcelo hat das Geschlecht kaum zum Thema gemacht. Befragt, was der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Führungsstil wäre, sagt sie (ich zitiere aus dem Kopf): It’s not important, be just a leader.
Da kommt dann der Moment, wo ich mich frage, ob ein Teil unseres Gender Gaps nicht auch die lähmende Der denkt, ich bin nur ein Mädchen-Projektion ist. Es ist für mich nie wichtig gewesen, aber es muss in vielen tief drinstecken, das beobachte ich immer wieder.
Wo ist das verloren gegangen? Hat es das nie gegeben? Es gibt ohnehin nicht viele Führungskräfte, klar, oben auf der Pyramide stehen nur wenige, aber es gibt Matriarchinnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen, Familienunternehmerinnen: Grete Schickedanz, Beate Uhse, Marie Curie, Alice Schwarzer, Angela Merkel und (ja, ich nerve mit meinem Vorbild) Gräfin Dönhoff.
Hat es vielleicht damit zu tun, dass der überwiegende, auf diesen Teil des Berufslebens nicht vorbereitete Teil Frauen früher gar nicht in die Nähe einer Führungs- und Exzellenzposition kam und somit auch nicht scheitern konnte? Wo bleiben die Vorbilder? Ich höre immer nur „Ja, aber nicht wie die!“
Ich kann es nicht differenzieren, denn in meiner Jugend war es egal. Wenn eine Frau unter ihrem Potential geblieben ist, dann hat sie es freiwillig getan und das waren wenige, denn es gab im Grunde keinen Mehrwert, das zu tun. Gibt es jetzt einen?
Fragen über Fragen.

Das Fazit dieses Abends? Denk nicht so viel darüber nach, ob du Frau oder Mann bist. Handele als Mensch. Tur etwas für dich, deine Familie, deine Umwelt und die Gesellschaft.

Die Leichen in unseren Kellern. Ein Lamento.

Vor drei Tagen schickte das Kind die Nachricht, dass der Lehrer, der ihre Klasse zum Abi geführt hat, IM war. Hinter den Link mit den Fakten hatte sie Emoticons mit großen, entsetzten Kulleraugen gesetzt.
Ein Schock. Für sie und auch für mich. Alle, aber der doch nicht, dieser renitente Typ, der niemandem nach dem Munde redete und lieber Ärger riskierte, als klein beizugeben. Der Typ mit der langen Matte und prinzipiell ohne Anzug. Der zusammen mit seiner Klasse durchboxte, daß die Schüler ihren Abi-Ball selbst organisieren konnten. Dann gab es eben zwei Abi-Bälle, den langweiligen der Schule und den schönen, den die Schüler organisiert hatten. Trotz des Verbotes ihres Chefs waren viele Lehrer gekommen. Das Kind hielt eine Laudatio auf ihn, denn sie alle waren ihm dankbar, daß er ihnen beigebracht hatte, sich gemeinsam zu stärken und durchzuhalten.
Das hatte Konsequenzen für ihn. Erstmal alle Streichungen von Gratifikationen, dann Rücknahme der angekündigten Gehaltserhöhung. Ein halbes Jahr später war er weg. Er wurde Rektor einer anderen Privatschule.

Bei mir setzte die Nachricht eine Kettenreaktion in Gang. Erstmal Tränen. Selten ist das bei mir. Irgendwie so ein allumfassendes: Ach Scheiße! Warum bloß?
Dann dem Kind reflexartig erklären: Da muss man differenzieren, nicht alle IM haben Leute ans Messer geliefert. Manche haben dem Druck nachgegeben und nur Schrott berichtet, manche glaubten tatsächlich, etwas ändern zu können.
Aber die Last der Fakten wiegt schwer. Wer ist noch 1989 in einen Dissidenten-Gesprächskreis gegangen und hat davon berichtet? Jeder, aber auch jeder ahnte, es ist bald vorbei, es ist nicht abzusehen, was passiert. Da stärkt man doch keinem alten Regime den Rücken. Es sei denn, man ist erpressbar oder naiv oder, oder…
Ich hatte 1988 eine ehemalige Kollegin, die dick in der Partei war, gefragt, ob es Sinn mache, jetzt, gerade jetzt in die SED einzutreten, um für die Verbesserung der politischen Lage zu kämpfen. Sie sah mich lange an und meinte dann nur knapp: „Lass es!“

In meiner Seminargruppe von 15 Leuten waren zwei sehr leicht zu identifizierende IM, unsere Aufpasser sozusagen. Eine Frau und ein Mann. Sie passten von ihrem ganzen Hintergrund nicht in die Mischung von Kindern von intellektueller Schickeria, Nomenklatura und Alibiproletariern. Sie schwiegen sich über ihren Hintergrund aus, wirkten bei weitem nicht so verspielt und renitent wie wir und bestimmte Gespräche führte man nicht in ihrer Gegenwart. Wer ansonsten vielleicht noch dabei war, weiß ich nicht, ich habe mir meine Akte nie angesehen.
Einer meiner besten Profs war dabei. Ein ungeheuer kluger, aber weicher und lebensängstlicher Mensch, einer, der nicht Nein sagen konnte.

Nach dem ersten Schock vor drei Tagen recherchierte ich heute noch einmal. Denn ich hatte mir den Kopf zermartert, warum das 20 Jahre nach dem Mauerfall (der Link, den mir das Kind geschickt hatte, stammte von 2010) plötzlich Thema wird. Jeder, der nicht ganz vernagelt ist, deckt seine Stasi-Verstrickung auf, bevor sie andere aufdecken. (Nun gut, Günther Grass und Erwin Strittmatter haben die Waffen-SS-Episode in ihrem Leben auch sehr erfolgreich verdrängt.)

Er beteiligte sich gemeinsam mit Schülern, Eltern und Opfern an einer Aufarbeitung seiner Taten in einer Art zeitgeschichtlichem Projekt an der Schule. Das ist mit Respekt anzuerkennen.

Heißt es. Also doch nicht verdrängt. Frontal angegangen. Gut so.
Ich frage mich ohnehin, wann dann auch mal Schluss ist. Totschlag verjährt nach 20 Jahren. Kann man tatsächlich niemandem Lernfähigkeit zugestehen? Kann man urteilen, wenn man nie unter bestimmten Umständen gelebt hat?
Es gibt Dinge in meinem Leben, über die werde ich erst nach dem Tod anderer Menschen schreiben. Vorher geht das nicht. Zwei Geschichten, in denen es um Tun und Schuld geht, um den Glauben Gutes zu tun und um das Aufhäufen von Schuld. Aber das ist sehr viel später dran.*

Kinder, in meinem Kopf geht gerade alles durcheinander.

PS. Er ist in seinem Rektorenjob bestätigt worden, man hatte die Stelle noch einmal neu ausgeschrieben.

*ich könnte mir den Opferstatus sogar schriftlich geben lassen derenthalben.

Veröffentlicht unter Exkurs

Was werden wir morgen essen?

In meiner Kindheit hatte ich viele Bücher aus der Regenbogen-Reihe, das waren Wissenschaftsthemen für Kinder bearbeitet. Eines hieß „Auch Pflanzen haben Hunger“ und beschäftigte sich eigentlich mit Chemie in der Landwirtschaft. Die grundlegende Botschaft dieses Buches war aber: Was man im 19. Jahrhundert getan hat, um alle Menschen in Zukunft satt zu bekommen.
Sie wissen sicher, worauf ich hinaus will. Auf die Wahrscheinlichkeit von 7,5-75 g Pferd in einer Lasagne. Ich schicke voraus: Das ist der Versuch einer Analyse. Keine emotionale Brandrede für oder gegen etwas.
Aber erstmal bewege ich mich in einer anderen Zeit, nämlich im 18. und 19. Jahrhundert. Das, was ich jetzt ausführe, ist ein grober Abriss, den ich noch aus den Zeiten im Kopf habe, als ich Landwirtschaft studieren wollte. Das Thema ist nämlich hochkomplex.
Während bei Mißernten vor dem 17. Jahrhundert einzelne Landstriche und Dörfer, je nach Versorgungslage, dezimiert wurden, hungerten nun Städte voller Menschen, die auf die Versorgung einer großen landwirtschaftliche Einzugsregion angewiesen waren. Je konzentrierter die Stadtbevölkerung wurde, je dichter ein Land überhaupt besiedelt war, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Mißernten und Transport- und Lagerverlusten von Nahrungsmitteln und damit verbundenen Hungersnöten richtig krachte in einem Land. Zumindest, wenn die Wut und die Angst noch nicht von der Schwäche übermannt waren. Hunger läßt jeglichen Common Sense zusammenbrechen und ersetzt Gesetze, kulturelle und gesellschaftliche Spielregeln durch blanken Darwinismus. Sobald es große Gruppen von Menschen gibt, die nicht mehr als Selbstversorger leben können, weil sich die Produktion spezialisiert hat, ist es eine gesellschaftliche Notwendigkeit, deren Versorgung sicherzustellen.
Deshalb gab es von allen Regierungen unterstützte Forschung, um Ernteverluste durch Schädlinge und Lagerverluste einzudämmen und darüber hinaus den Ertrag der Felder zu erhöhen und nahrhafte und extrem preiswerte Nahrungsmittel zu finden.
Die Rumfordsche Suppe ist so ein Forschungsergebnis. Sie soll – je nach Bestandteilen – gruselig geschmeckt, aber satt gemacht haben. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein Franzose, der die (Selbst-)Versuchsreihe unternahm, Kuhfladen als Pastetenfüllung einzusetzen, was aber nicht von Erfolg gekrönt war.
Kartoffeln und jede Menge leistungsfähiger Getreidesorten machten das Rennen und lieferten neue Nahrungsmittel. (Zur Erinnerung: in Europa aß man vorher, je nach Region und wenn man wenn man nicht gerade König war, Korn-, Knöterich- und Hülsenfruchtbreie und dazu Frucht und Gemüse der Saison, wenig hartes, haltbares Brot, mitunter, aber selten, Fleisch und Fisch, getrocknet, gesalzen und gepökelt, Weißbrot, Braten und Kuchen waren Festessen) Die Menschen ernährten sich nun, in verbesserter Landwirtschaft, von gedüngten Feldern, hauptsächlich von Kartoffeln und Brot.
Darüber hinaus wurde die Konservierung perfektioniert, weg vom stark geschmacksverändernden und störanfälligen Trocknen, Pökeln, Räuchern und Salzen. Mit dem Pasteuerisieren wurde es möglich, komplette Gerichte in Dosen aufzubewahren. Diese waren ohne Verderb zu transportieren und zeitsparend zu erhitzen.
Weiter im Thema: Wenn eine Mutter aus irgendeinem Grund nicht stillen konnte und kein Geld für eine Amme da war und keine Kuh oder Ziege in Reichweite, starb das Kind. So einfach war das. Milchpulver reduzierte die Säuglingssterblichkeit. Das war der Urspung der Firma Nestlé.
Im 20. Jahrhundert kam, auf Grund der gestiegenen Felderträge, die nun auch zum großen Teil als Futter verwendet werden konnten und wegen der besseren Kühlmöglichkeiten die intensivierte Viehhaltung dazu. Es wurden spezielle ertragreiche Rassen gezüchtet, diese gegen Krankheiten geschützt und der Traum, daß auch arme Menschen Fleisch essen können, verwirklichte sich. Ja, Fleisch auf dem Tisch von Armen und Milch für die Kinder war neben einem ausreichenden Dach über dem Kopf ein demokratischer Traum. Nicht umsonst sind diese Elemente immer wieder Bestandteil politischer Kampagnen gewesen.
Denken wir das mal grob weiter: Bessere Ernährung mittels gleichbleibender Ressourcen, niedrigere Säuglingssterblichkeit, mehr Bevölkerung, die ernährt werden muss. Das ist wie mit dem Hamstern oder den Feldmäusen in fetten Jahren.

Die ethisch-zivilisatorischen Ansprüche unserer modernen Industriegesellschaft sind jung.
Hungersnöte von afrikanischem Ausmaß? Reichen 1 Million Tote und 2 Millionen Auswanderer (also Wirtschafts-Flüchtlinge) in Irland während An Gorta Mór?
Kinderarbeit in der Textilindustrie? Vor 150 Jahren in Deutschland gang und gäbe. Kinderhandel? Bis in die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Deutschland auf dem Land üblich.
Arbeiter, die in Fabriken schlafen? Ratet mal, wo „Made in Germany“ herkam. Krankmachende Arbeitsbedingungen, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten… Was wir heute in Richtung Indien und China anprangern (das Zeug aber trotzdem kaufen), war für unsere Urgroßväter und -mütter Realität.

Die in den 60ern geborenen Kinder sind die erste Generation, die in Deutschland ohne die Erfahrung von Hunger auf- und in den Nahrungsüberfluss hineinwächst. Die Generation, zu der auch ich gehöre. Trotzdem wurde ich von Menschen sozialisiert, in denen die Angst vor Hunger und Mangelversorgung noch tief steckte. Für meine Mutter gab es nichts tolleres als Kondensmilch und ein paar Stücke Würfelzucker. Meine Omas, je nach Typ, betrieben entweder absurde Vorratswirtschaft (Ich dachte, eigentlich ich hätte von den drei fünfzig Jahre alten Weck-Gläsern Butterschmalz und den zehn Stück Butter im Kühlschrank, die wir bei der Haushaltsauflösung von KKM fanden, schon mal geschrieben.) oder halfen mir mit für mich absurden Tips: „Iß Kartoffeln, das ist billig!“ „Hebe alte Rinden auf, da kannst du mit sauer gewordener Milch Brotsuppe machen!“ etc.
Ich lachte nur darüber und hatte tatsächlich nur dreimal im Leben das Problem, kein Geld für Essen zu haben, so dass ich ernsthaft schauen musste, wie ich bis zum nächsten Monatsersten hinkomme. Gehungert habe ich nie, sondern billige Sattmacher vom letzten Geld gekauft.
Wir waren allesamt, die wir uns kennen, wahrscheinlich nie in der Situation, außer wenn wir auf Diät oder beim Fasten waren, vor Hunger nicht einschlafen zu können oder unsere hungrigen Kinder trösten zu müssen.

Nach dem 2. Weltkrieg hat sich die Familienstruktur allmählich tiefgreifend geändert. Die an einem Ort zusammenlebende Großfamilie zersplitterte, die Frauen machten nicht mehr so viel schwere Hausarbeit, auch hier zogen Maschinen ein.
Ich habe irgendwann mal auf Arte eine Reportage über die Ernährung einer Sardischen Familie gesehen. Das hat mich tief beeindruckt, weil mir nie klar war, wie eine ländliche Produktionsfamilie kooperierte. Ein Sohn hatte ein kleines Fischerboot und damit Fisch und Meeresfrüchte, der nächste Schafe und Bienen, also steuerte er Käse, Fleisch und Honig bei. Mutter und Vater bewirtschafteten einen Garten und etwas Weinberg, für Wein und Gemüse war also auch gesorgt. Die Nonna kochte. Brauchte man nur etwas Reis und Mehl und das Essen war der Himmel auf Erden. Große Töpfe, viele Portionen und Esser, eine auf das Zubereiten von Essen spezialisierte Person. Toll. Wenn man aber schaut, wie archaisch die Sarden auch heute noch leben, hat das seinen Preis. Eine iPhone ist da meist nicht drin.
Zurück zur deutschen Großfamilie. Vom konservativen Roll Back im Westen nach dem Krieg bis zu modernen Single- und Alleinerziehenden-Haushalten passierte eine riesige Veränderung. Meine Mutter und die beiden Ex-Schwiegermütter waren Vertreterinnen der Frauengeneration in Ost und West, die lieber arbeiten ging, statt Heimchen am Herd zu spielen. Sie waren stolz darauf, nicht kochen zu können oder hatten sich auf schnelle kleine Gerichte spezialisiert. Man ging am Wochenende essen und machte in der Woche Fertiggerichte warm. Darüber hinaus: Die hohe Verarbeitungsstufe von Zutaten garantierte, daß keine Frau, wenn sie es nicht wollte, über Gebühr in der Küche stand.

Seit den 50er Jahren entwickelte sich neben anderen Industrien eine Landwirtschafts- und Lebensmittelindustrie. Das Ziel, mittels Intensivierung höhere Ergebnisse zu erhalten, war mehr als erfüllt. In Europa und Amerika muß kein Mensch mehr hungern, es sei denn, er stellt sich richtig blöde an. Da in Europa und Nord-Amerika die Bevölkerung nicht mehr wächst, sind auch Grenzen im Absatz erreicht.
Das Ziel, Absatzmärkte in Asien und vor allem Afrika zu erschließen, ist nicht so ganz aufgegangen. Afrika hat ganz andere Probleme und ist zu archaisch, um hochveredelte Nahrungsmittel gegen Geld zu kaufen und damit umzugehen. Wer kein Wasser hat, kann kein Milchpulver anrühren. Teile von Asien gehen traditionell anders an Nahrung heran, da sie schon immer wenig Raum für Ackerbau und viele Menschen hatten. China kann ein Markt der Zukunft sein, sagt man doch den Chinesen nach, sie würden alles essen (das ist nur leicht ironisch gemeint).
Problem der Nahrungsmittelindustrie ist, wie immer im Kapitalismus, die Technologien und Fabriken sind einmal da. Also muss Bedarf geweckt oder erhalten werden, auch wenn die Zahl der Interessenten nicht mehr wächst. Denn Wachstum ist noch immer alles.

Ich kann sehr bodenständig kochen, meine Oma und meine Urgroßtante haben mir einfache Arme-Leute-Küche beigebracht. Die großen Braten und raffinierten Gerichte habe ich erst später gelernt. Aus meiner Geschmackserfahrung, die ich sicher mit vielen teile, kann ich sagen, einfaches, selbst gemachtes Essen schmeckt erst einmal viel schlichter und langweiliger als Industrienahrung. Denn diese ist in Geschmack, Farben, Mundgefühl und Texturen hochgradig an unsere reflexhaften Geschmackslüste angepasst, da ist ganz viel süss, würzig, salzig, kau-ig, knusprig. Laff oder gar sauer und bitter kommen nicht mehr vor bzw. werden überdeckt.
(Edit. Das fiel mir vorhin noch ein, als ich in einer endlosen Besprechung saß:)
Das Problem der preiswerten und nahrhaften Produkte war im 19. Jahrhundert oft, daß sie nicht schmeckten (die Rumfordsche Suppe war berüchtigt dafür) und/oder hart, faserig, labberig, geschmacklos waren. Man ging parallel daran, Hilfsmittel zu entwickeln, die billige Produkte schmackhaft und besser kaubar machen sollten, damit Menschen ausreichend davon aßen. Alles wurde süßer, Margarine schmeckte nach Butter, Würzextrakte, wie Maggi entstanden, die schlaffe Nudelsuppen nach Fleisch schmecken ließen, etc.
Ein Teller Gemüsesuppe und eine Salami-Tiefkühlpizza zum gleichen Preis sind ein Unterschied wie Rauf-Rein-Raus-Sex und Porno, machen wir uns nichts vor.

So, langsam habe ich mich zur Pferdelasagne vorgearbeitet.
Wer seine Prioritäten so setzt, daß er nur 10% seine Einkommens für Nahrung ausgibt, genauso viel, wie für Freizeit und Unterhaltung, muss die Konsequenzen dafür tragen. Die billigen Nahrungsmittel entbinden uns vom Führen eines Haushaltsbuches, vom vorausschauenden Wirtschaften und Selberkochen. Diese Form von Fähigkeit und Bildung konnten wir gleichgeschlechtlich verkümmern lassen. Wir können uns von der Hand in den Mund leisten.
Das konfrontiert uns aber damit, dass wir die Augen vor den Tatsachen verschließen, beschissen werden und uns bescheissen lassen. Denn der gesunde Menschenverstand sagt jedem, dass in einer 2 Euro-Lasagne kein vernünftiges Fleisch enthalten sein kann. Und ganz ehrlich, obwohl ich Pferd nicht esse, das ist wohl nicht das Schlimmste. Huhn oder Rind mit Federn, Schnabel, Därmen, Krallen und Hufen und Haaren durchgedreht und zu Surrogatfleisch geformt, das ist widerlicher. Dann esse ich lieber Tofu.
Die Argumentation, daß sich nur die untere Mittelschicht wertvolle Nahrung leisten könne, kann ich so nicht teilen. Es ist in den meisten Fällen keine Frage des Geldes. Man kann sich von wenig Geld gut ernähren, wenn man es denn gelernt hat und bereit ist, Nahrungsmittel nicht nur nach dem Lustprinzip zu wählen.

Man muss also nicht mehr viel tun, um richtig satt zu werden.
Seit einigen Jahren fällt mir auf, daß eine Seuche über Amerika und Europa hergefallen ist: Man muss nur mal Straßen-Fotos aus den 70ern anschauen und mit heute vergleichen. Der Anteil der wirklich krankhaft fetten Menschen und vor allem Kinder ist höher als früher. Ich meine damit nicht das eine lustige dicke Kind in der Gruppe, das immer Hunger hat und ich meine auch nicht dicke Nerds und Landpomeranzen, Matronen oder angespeckte Ehemänner bzw. Leute, die es tatsächlich „an den Drüsen“ haben. Sondern ich meine Menschen mit metabolischem Syndrom, die sich schlecht oder recht mit wirklich extremem Übergewicht durch die Welt schleppen, nicht mehr Weiblein noch Männlein sind und eigentlich nur durch die moderne Medizin eine akzeptable Überlebensrate haben, die ihnen mit künstlichen Knien, Rollstühlen, Magenverkleinerungen, Insulin und fehlschlagenden Diäten hilft und kräftig daran verdient.

Irgendwas ist in unserem Essen, das etwas mit uns Menschen macht. Und irgendwas ist in unserem Verhalten, es in den meisten Fällen zu akzeptieren, den einfachen Weg zu gehen. Aber keiner zwingt uns, diesen Dreck zu kaufen und zu essen. Was folgern wir daraus?