Critical Westness

Vor drei Tagen versuche ich einer Frau zu erklären, wie ihr Vater den Admiralspalast in Berlin findet.
Da die beiden auf dem Schlauch standen und die Friedrichstraße lang ist, versuchte ich es vorsichtig mit einer Erklärung, die in 50% bei Älteren funktioniert: „Die alten Ostberliner kennen den Admiralspalast noch als Metropol-Theater.“
Das empörte die Tochter zutiefst: „Wir sind bestimmt keine alten Ostberliner! Wir wohnen im Prenzlauer Berg!“
Meine Reaktion war wortlose tiefe Fremdscham angesichts solcher innerdeutscher kolonialistischer Dämlichkeit. Die Lady konnte echt froh sein, dass meine Kettensäge gerade in der Durchsicht ist.

Ganz eigentlich ist das ein Text für den Kiezneurotiker. Aber auch ich habe – wie der Graf dazu bemerkte – meine ganz dünnen Stellen. Und eine davon befindet sich genau da, wo die großen Massas und Missuses, die hier qua Wirtschaftswundererbschaften in ganze Stadtbezirke eingeritten sind, nun irgendwas mit Medien machen, Dawanda-Shops betreiben und sich für was besseres halten. Das ist so, das ist auch nicht zu ändern, aber davon krieg ich so’n Hals!

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Zweifel und Distanz

Manchmal bemerke ich meine Distanziertheit zu dem, was anderen Menschen über alles wichtig ist (nennen wir es Zeitgeist), überhaupt nicht. Dann lese oder sehe ich Jahre später etwas und denke: Hm, auch wenn du gleich nebenan warst, du warst im Paralleluniversum, du hast anderes getan, dir war anderes wichtig. Die Zeitgeist-Strömungs-Formationstänze meiner Mitmenschen hatte ich durchaus bemerkt, aber eher mit Schulterzucken und dem Gedanken: Komisch, das so was so wichtig ist, dass alle im Chor singen wollen. (Und es ist egal, worum es inhaltlich geht, ob Business-Dynamiker, politisch Korrekte, Religiöse, Verweigerer oder Kleingärtner. Es geht um das Abgeben des Hirns an die Masse.) Manchmal ist mir der Gleichschritt-Marsch, das Nachplappern von Buzzwords unangenehm nah, zu nah, als daß ich Distanz wahren könnte.
Trotzdem gäbe ich viel darum, wenn ich mich so in eine Gruppe fallen lassen könnte. Das gibt Schutz, Stärke, Identität und immer ein Thema. Die eigene Lust und Schuld? Die eigenen Ziele und Lebensbaustellen? Egal, es geht ums große Ganze. Nicht mehr denken müssen (oder Denken nur im Konsens simulieren), nachsprechen, was die Meinungsführerschaft gerade schrie, die anderen Mitläufer noch übertreffen an Konsequenz und Bemerken von Makeln und Fehlern des unerleuchteten Teils der Gesellschaft. Das spart eine Menge Zweifel und Irrtümer. Vielleicht im nächsten Leben, wenn ich denn als Sardine oder Amsel wieder geboren werde.
Denn es geht nicht, mir tut so ein Verhalten fast körperlich weh. Wenn ich zur Zeit manchmal auf Twitter oder in Blogs lese, was Leute von sich geben, die ich einmal wegen ihrer differenzierten Weltsicht und Wachheit schätzen gelernt hatte, winde ich mich vor Fremdscham. Ich denke: Merken die das nicht? Jungpioniere beim Fahnenappell waren unangepasster. Sie sind das geworden, was sie haßten.
Wo war der Moment, wo sie sich in Meinungs-Blockwarte verwandelten? Was hat sie motiviert? Die Sehnsucht, endlich nicht mehr schwach und angreifbar zu sein? Endlich nicht mehr allein stehen und angezweifelt werden? Das Schlimme ist, dass sie mit den gleichen Mitteln agieren, wie die, von denen sie sich abheben wollen: Intoleranz, einspuriges Denken*, aggressive Dominanz, Parolen statt Diskurse. Stammtisch, nur ohne Bier und Kippen. Vielleicht ist das dieses Ankommen. Endlich mal recht haben. Ich weiß es nicht. Es ist arm, sehr arm.

Ich suche wieder. Distanzierte Zweifler (oder analytische Denker oder arrogante Ärsche, je nach Blickwinkel) erkennen einander über die Menge hinweg.

Edit: Auch wenn das ein Text zum spiegeln ist. Ausgelöst wurde er dadurch, daß ich heute Nacht zu viele Texte über die New Economy gelesen habe. MIr fiel auf, dass ich damals genauso daneben stand und dachte: Merken die das nicht oder was bringt das denen gerade?

*Einfach mal genau hinschauen: Derailing – also einen Argumentationsstrang aus der Schiene heben – passiert nur, wenn Argumente einspurig und unveränderbar laufen. Einspurige Argumente sind tröstlich, aber gefährlich.

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Montags

Der graue, feuchte Tag begann nicht uncool. Am Wochenende eingetrudelte Mails sammeln, ordnen und beantworten, ein bisschen was in das Internetz schreiben – übrigens ist der Artikel Meine Fernbeziehung zum Netz-Feminismus von Isabella Donnerhall sehr, sehr lesenswert. Es gibt noch eine Welt jenseits des Schulhofs.

Koninzidenz des Wochendes: Ich stolperte dreimal über den Begriff Drama-Dreieck. Interessante Sache. Hat gerade mit vielem, das mir begegnet, zu tun.

Dann ein Twitter-Gespräch, das dann leider die Grenzen des Mediums sprengte. Wenn 140 Zeichen fast für die Nennung der Beteiligten draufgehen, wird es schwierig, auch wenn es interessant ist. Aber vielleicht schreibe ich demnächst mal was über den Umgang mit sehr, sehr schwierigen Vorgesetzten, Kunden und Klienten. (Nicht dass ich dafür ein Patentrezept hätte, ich kann mich auch nur annähern.)

Am schnell heraufgezogenen dunklen Winternachmittag färbte ich einen Kaschmirpullover. Ein altes, kamelfarbenes Teil, das HeMan vor Jahren weggeben wollte und kamelfarben steht mir so garnicht, weil es zu gelb ist. Wenn mans richtig anstellt – ohne Temperaturschocks und zuviel Bewegung, kann man sogar Kaschmir auf 80 Grad bringen, ohne Filz zu produzieren. Schwarz sollte er werden, dunkelbraun wurde er, das reicht.

Später trudelte noch eine Workshop-Teilnahme-Empfehlung ein. Früher habe ich einmal im Jahr etwas völlig Neues gemacht. Damit sollte ich wieder beginnen.

Am Abend gingen der Graf und ich ins Kino in die Kulturbrauerei. Natürlich machten wir vorher noch eine Runde über den Lucia-Markt, aber der Graf mag Weihnachtsmärkte so gar nicht, weil sie ihn immer daran erinnern, dass er derzeit lieber auf Mallorca oder einer anderen südlichen Insel wäre. Mir wanderte zumindest ein Tütchen gebrannte Mandeln in die Tasche.

Kino. Irgendwie wirkt sich das mangelnde Angebot wirklich guter Filme auch auf die Arbeitsmoral der (schlecht bezahlten) Kinomitarbeiter aus. Eine Einlasskontrolle fand nicht statt. Wir saßen im Hauptsaal. Der Saal war 3/4 voll, für Montag Abend ziemlich viel. Die halbe Werbung lief ohne Ton (nicht, dass das ein Verlust wäre…), es gab ohnehin kaum Werbung. Das kleine Saal-Licht blieb in den ersten Minuten des Films an und in den letzten Minuten schaltete irgendein Spacken etwas im Vorführraum um oder ein, so dass von hinten immer wieder störende, knallweiße Lichtreflexe übers Publikum gingen.
Ich habe mir ein Herz gegriffen und heute den Kinoleiter angerufen und ihm ein Feedback gegeben, im Blog rumgrummeln reicht wohl kaum.

So, nun aber der Film. Inside Lllewyn Davies. Irgendwie schaffe ich es fast nur noch zu den Coen-Filmen ins große Kino. Auch wenn mir die Sixties-Retro-Optik manchmal fast zu viel war, ich mochte den Film sehr. Ähnlich wie True Grit funktioniert die Geschichte eher über die Bilder, die Synergien der kleinen Episoden untereinander und die Korrespondenz mit dem Bilderreservoir in unseren Köpfen.
Ich versuchte nachher im Gespräch mit dem Grafen die Dramaturgie zu klassifizieren. Episches Kino würde ich es nennen. So eine Anti-Helden-Geschichte hat kaum große dramatische Bögen, der Held verweigert das Drama-machen oder vergeigt es immer wieder. Dafür aber finden viele kleine Dramen in den Episoden statt.
(Vor Jahren fehlten mir mal diese Worte, als ich mit jemandem nach einem Film-dramaturgischen Ansatz für Aller Welt Freund suchte.)
Über die Geschichte wird nur erzählt, dass es keine Geschichte ist: LLewyn Davies bekommt auf die Fresse, hat plötzlich eine Katze auf dem Arm, hat einen Gig den er zu einer Mugge macht, versucht aus dem Folksänger-Job auszusteigen, kann nicht einmal das, fährt nach Chicago, kommt wieder zurück, pöbelt ein paar Leute an, hat einen Auftritt und dann weiß man, weshalb er auf die Fresse kriegt.
Aber das ist alles so… Das Leben ist so. Es hat keine Happy Ends und keine Dramabögen. Alles hängt von allem ab und entweder es läuft oder das Menschlein verhakelt sich immer wieder in den Fallstricken alter Entscheidungen.
Die Fahrt nach Chicago. Eine von diesen völlig entrückten atmosphärischen Schilderungen. In True Grit war es der nächtliche Ritt durch die Prärie unterm Sternenhimmel. Hier ist es die übermüdete Fahrt ins Schneegestöber.
Die Katze. Dass da scheinbar noch keiner drauf gekommen ist. Die ist ein Truman-Capote-Zitat. Holly Golightlys namenloser roter Kater, den sie in strömendem Regen irgendwo in New York aus dem Taxi schmeißt, als sie ihr Leben ändern will und den sie dann, nach Scheitern der lateinamerikanischen Heirat, stundenlang vergeblich mit Paul sucht. (Im Film findet sie ihn, im Roman nicht.)
Die Katze und das Unbehaustsein der New Yorker Boheme, das geht so gar nicht zusammen. Ein wunderbares Symbol für etwas nicht halten können, das Stabilität braucht.
Die Musik, wunderbar. Justin Timerlake so, dass es mir nicht auffiel, dass es Justin Timerlake ist. Das Gespräch mit dem Chicagoer Impresario. So, wie ich es im Beruf dutzende Male miterlebt habe.
Ich mag diesen Film. Und ich werde als nächstes Another Country und Frühstück bei Tiffany noch einmal lesen. Es wird Zeit.

Stars und Sternchen im Abwind

Journelle schreibt in: Liebe Boulevard- und People-Magazine, liebe “Stars”, wir müssen sprechen. von ihrer langsamen Entfremdung von den Print-Boulevard-Medien, weil das Internet vielfältigere und authentische Frauenbilder bietet. Verständlich.
Es geht mir ähnlich, bei mir hat der Prozess schon einige Jahre eher eingesetzt und hatte weniger mit dem Internet zu tun (viele englische Seiten lese ich wegen der Sprachbarriere gar nicht), als damit, dass ich im Job zu sehen bekam, wie das Produkt Magazin funktioniert und vor allem wie die Ware Star bzw. Celebrity entsteht. Ich habe jahrelang Magazine nur unter dem Aspekt gelesen: Ob und wie werden meine Schützlinge präsentiert und wie und mit welchen Mitteln sind die Mitbewerber präsent?
Insofern sind meine Kommentare Ergänzung aus anderem Blickwinkel zu Journelles Text.

A Star is Born – und nun?

„Star“ ist unser Begriff dafür, dass eine Person auf Grund ihrer besonderen Leistungen als hervorgehoben, einzigartig und vorbildhaft empfunden und mit einer besonderen Aura umgeben wird. Bei Celebrities braucht es nicht einmal die Leistung, es reicht die öffentliche Rezeption der Person.
Dass jemand ein Star ist, entsteht in unserem Kopf, in unserem kollektiven Empfinden und wird durch Medien widergespiegelt und/oder initiiert. Medien und Stars/Celebrities sind eng miteinander verbunden, Magazine verkaufen sich mit Stars und Stars verkaufen sich mit Magazinen.
Ich habe viele deutsche und amerikanische Stars/Celebrities bei meiner Arbeit als Agentin erlebt. Mal abgesehen davon, dass die meisten Amerikaner, wenn sie in Deutschland sind, auch wenn sie privat erscheinen, einen ziemlich guten und harten Job machen – wenn du einem Star in Echtheit begegnest, erkennst du ihn in den seltensten Fällen, es sei denn, derjenige/diejenige will das, schaltet den inneren Scheinwerfer an und leuchtet (manche können das auch gar nicht abschalten, weil ihre Marke so eng mit ihrem Äußeren verschmolzen ist oder weil sie schwer narzisstisch sind). Es gibt eher den „die/den hab ich doch schon mal irgendwo gesehen, aber wo?“-Effekt.
Kleine Anekdote am Rande, ein Fernsehkommissar, ziemlich bekannt, wöchentlich im Vorabendprogramm zu sehen, hat an der Autobahnraststätte zuwenig Geld mit, die Verkäuferin sagt: „Zahlen Sie doch einfach ihren Kaffee beim nächsten Mal, Sie halten doch regelmäßig hier!“ Sie hat nicht bemerkt, dass der Mann zum ersten Mal da war, sie dafür aber wöchentlich durch den Fernseher zu Hause besucht.

Wie wird ein Mensch zu einer Person öffentlichen Interesses?

Oder „What’s Your Superpower?“ Einem Schönheitsideal zu entsprechen? Etwas herausragend gut zu können? Reich zu sein? Endlose Kraftreserven zu haben? Unverletzbar zu sein? Schwierigkeiten zu überwinden?
Kann aus Lieschen Müller mit den abgefressenen Fingernägeln ein Star werden, wenn sie nur recht hübsch und fleißig ist? Jein. Solche kleinen Streber spuckt die Branche meist schnell als ungenießbar wieder aus, denn seelenlose Leistung allein zählt nicht. Attraktivität allein bringt Frauen zwar sehr weit, denn sex sells, aber diese Karriere landet oft unter der Gürtellinie, wenn es nichts anderes an dieser Person gibt oder ist spätestens dann zu Ende, wenn der Körper jenseits der 30 zu altern beginnt. (Machen wir uns nichts vor, dahinter steckt die digitale Reaktion: Für Nachwuchs interessant oder uninteressant.)
Der reiche Karl Krawuttke aus Grevenbroich bringt keine Bunte-Redakteurin zu einer Aufmerksamkeitsreaktion. Muskel-Enrico, bei seinen Trainingsfreunden auch „The Body“ genannt, bringt allenfalls Junggesellinnenabschiede zum Johlen, aber keine riesigen Säle.
Und dann kommt ein Jemand daher, wird noch eine Weile als Geheimtip gehandelt und steht auf einmal im Fokus der Aufmerksamkeit und ist eigentlich ganz normal. Hat eine Lücke zwischen den Vorderzähnen, dünnes Haar, dicke Hüften, Angst bei einem Zweimetersprung, den Stimmumfang einer Katze, ist vielleicht nicht ganz so helle im Kopf… Man stellt diesen Menschen hin, rückt ihn ins rechte Licht und Menschenmengen bekommen weiche Knie. Was ist das?
Charisma!

Charisma ist eine schwierig zu beschreibende Eigenschaft. Früher sagte man, diese Menschen seien von Gott beschenkt, heute bezeichnet man es eher als Ausstrahlung, rückt es fast in die Nähe des aufmerksamkeitsaffinen Narzissmus.
Charisma ist, wenn ein Mensch bigger than life erscheint, durch seine Emotionen Emotionen in uns auslöst und und in seinem Sein und Verhalten unsere Wünsche, Lüste und Träume verkörpert. Manchmal brauchen wir diesen Traumkomplex zum Überleben, manchmal läuft er nur nebenbei als Unterhaltung mit. Aber unsere Spiegelneuronen brauchen scheinbar dieses Futter. Und das bedeutet als allererstes, auch wenns wehtut: Ein Star ist ein charismatischer Mensch ist eine perfekte Projektionsfläche für Viele, mehr nicht.

Zeig mir deine Stars und ich sage dir, wer du bist und wie deine Gesellschaft aussieht

Journelles Ärger über den Gap zwischen ihren Bedürfnissen und der Welt der Printmagazine zeigt mir, daß sie entweder die Projektionsflächen gewechselt hat oder aber eine andere Form, sich zu spiegeln nutzt – in dem sie auf Authentizität und Identifikation setzt. Sie will sich von bigger than life nicht mehr unter Druck bringen lassen.
Denn gibt zwei grundlegend verschiedene Arten, durch die Medien ausgewählte Menschen zu betrachten.

Die eine nutzt die Technik Heroisieren – Stigmatisieren. Das sind die Schlagerstar-, Adeligen- und Königinnengeschichten, die immer wieder die Botschaft mitbringen: In dieser Familie läuft auch nicht alles super, diese reichen, erfolgreichen und schönen Menschen, die alles das haben, was ich nicht habe, sind unglücklicher, kränker und leidender als ich, was heißt, dass ich mit dem, was ich habe, zufrieden sein sollte.
Die Reportage der Traumhochzeit und des Babyglücks bereitet nur die Höhe für den Fall in die Tiefe von Scheidung, Krankheit und Ruin ein paar Monate und Jahre später vor. Das Zielpublikum solcher Geschichten sind Frauen, deren Leben in engen Bahnen läuft, durch Herkunft, Tradition und Einkommen definiert, denen Dinge immer wieder „passieren“ und die glauben, wenig Einfluss darauf zu haben. Die typische Leserin der „Hackfleischmagazine“ (heißen so weil immer Hackfleischrezepte drin stehen) ist nicht sehr gebildet, ortsverwurzelt, familienaffin, sparsam oder arm, passiv, angepasst und lebt in traditioneller Rollenteilung. „Frau im Spiegel“, „Das Goldene Blatt“ und wie sie heißen, das sind die Magazine mit den Stars für die ältere deutsche Provinz.

Die andere Kategorie sind die Magazine, die mit der „Heroes? Nothing is Impossible!“-Technik arbeiten und den Leserinnen suggerieren „Du kannst alles erreichen, wenn du dich nur genug anstrengst – wir zeigen dir hier deine Ziele“.
Ein großer Selbstbedienungsladen an Vorbildern ist das. Celebrities zeigen, dass dünn, langhaarig und hübsch ausngezogen auf Parties rumstehen und ggf. von einem Fußballspieler geheiratet und zur Schmuckdesignerin befördert zu werden, Karriere bedeutet und sind damit Orientierung für all die, die sonst nichts anderes können und wollen.
Die Vorbilder für die, die vom Leben mehr wollen, sind komplexer. Das sind attraktive, gesunde, schlanke, alterslose, sportliche, durch eigene Arbeit wohlhabende, begabte, mit attraktiven Männern und meist mehr als zwei Kindern in nicht enden wollendem romantischen Liebesleben verpartnerte Frauen. Ab und zu gibt es auch die Geschichte eines Zusammenbruchs und anschließenden Rehab-Aufenthaltes, aber das Hauptgewicht der Berichterstattung ist: Sie schafft es!
Seltenst tauchen hier erfolgreiche Unternehmerinnen, Konzernchefinnen, Wissenschaftlerinnen, bildende Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, virtuose Musikerinnen und Politikerinnen auf. Wenn wir dahinter schauen, haben all diese Frauen in den bunten Hochglanzzeitschriften einen einzigen Beruf: Sie sind Darstellerin ihrer selbst, auch wenn sie ab und zu einen Film machen, in dem sie eine überirdisch schöne Heldin darstellen oder auf Konzerttournee gehen. Was wir sehen, ist ein Produkt.
Das vergessen wir gern, wenn wir diesen Frauen nacheifern und uns minderwertig fühlen: Das sind Leistungssportlerinnen auf dem Parcours der Selbstdarstellung, -perfektionierung und -optimierung. Zum Leistungssport braucht es die geeigneten physischen und psychischen Voraussetzungen = „gute Gene“, arbeitstaglanges Training, einiges an Doping = plastic surgery, einen Arzt, der abrufbereit ist, ein weiteres Team für Ernährung und Körperfitness und eine große Portion Risikofreude, was Schäden und Nebenwirkungen angeht, plus dem Bewusstsein, dass das nicht ewig durchzuhalten ist.

Star ist ein Vollzeit-Job

Das, was wir glauben, dass es ein Normalzustand ist, ist 1. eine Präsentation sorgfältig inszenierter und aufbereiteter Augenblicke und 2. eine Charismatikerin bei der Ausübung ihres Berufes. Wir haben aber schon einen Beruf, meine Damen und sind meistens auch keine Charismatikerinnen.
Wenn wir versuchen, auch nur annähernd so attraktiv wie Stars oder Celebrities zu sein – und meistens konzentriert sich das dann auf die Orientierung an wenigen Äußerlichkeiten, die wir beeinflussen können: Körpergewicht, -form, Haare, Outfit, Make up, vergessen wir, dass ein Bizeps noch keine Madonna macht, eine hochoperierte Häschen-Lippe keine Scarlett Johannson und und Anorexie einen nicht augenblicklich zur Gattin und Mutter von drei Kindern von David Beckham befördert.

In Interviews erzählt niemand „nachdem ich vor dem Shooting morgens eine Backpflaume lutschen durfte, machte mir die Diätassistentin noch einen Einlauf, damit mein Bauch schön flach ist, wenn ich anschließend ins Kostüm genäht werde, denn Abführmittel wirken nicht mehr.“ Da erzählt man dann das Ammenmärchen von den vier Litern Wasser am Tag und man esse, was man wolle. Wollen wir die blutigen, verkrüppelten Füße von Ballerinen sehen? Nein, wir wollen das anmutige, schwerelose Schweben.
Wenn Stars und Celebrities nicht arbeiten oder für einen Job trainieren, sind sie meistens wie wir. Sie essen und trinken gern, schlafen viel, setzen Fett an, haben fettige Haare und bekommen einen Hängebauch wo ein Sixpack war, weil sie nicht mehr stundenlang täglich trainieren. Cher hat mal vor Jahren dazu einen saftigen Spruch gemacht, sie sei schließlich Oma und damit die Supersexy-Halbnackt-Kostüme wieder an den richtigen Stellen passen, würde sie ihrem Publikum den Gefallen tun, Monate vorher täglich stundenlang als Workout mit dem Arsch über den Boden zu rutschen.

Sport. Seit wir unseren Körper nicht mehr zum Arbeiten (ver-)brauchen, ist er ein wichtiges Kleidungsstück geworden. Sport, Diät und protestantisches Leistungsdenken mausern sich gerade zum Religionsersatz, wie mir scheint. Wie sonst lassen sich effiziente Triebabfuhr, Triebbeherrschung und Leistungsorientierung perfekt auf den ersten Blick demonstrieren als durch einen durch Sport und Diät perfektionierten Körper?

Was sind die Rollenvorbilder der weiblichen digitalen Elite?

Ich stellte es schon weiter oben fest: Journelle hat das Medium gewechselt, wie sie selbst sagt, sich sich von der Deutungshoheit klassischen Boulevard-Prints verabschiedet, ihre Art zu rezipieren (nämlich nicht mehr durch Redakteure gefiltert, die vorschreiben, was in und was out ist) ist anders und sie ist bei anderen Körperbildern und völlig anderen Lebensentwürfen gelandet. Dort, wo Kompetenz und Sinnlichkeit sich nicht ausschließen, wo es nicht mehr nur darum geht, für die anderen mit viel Aufwand den äußeren Schein zu wahren – das digitale Leben scheint sowieso transparent – hin zu Identifikation, Diversität und authentischer oder authentisch inszenierter Intimität.

Die Print-Verleger behaupten, etwas anderes als die perfekten Menschen in den perfekten Lebensentwürfen (plus die gefallenen Engel in den schicksalsgläubigen Hackfleischblättern) würde sich nicht verkaufen. Das würde ich nicht einmal bezweifeln. Ich denke an das Experiment von TV-Spielfilm, auf dem Cover einmal nicht das Brustbild einer schönen, jungen, blonden Frau vor blauem Hintergrund zu haben – mit desaströsen Verkaufszahlen. Es scheint eine klare Ikonografie und Dramaturgie für Print-Boulevard-Magazine zu geben. Ich bezweifele, dass die Redaktionen aus der Ecke noch mal rauskommen.
Man gewinnt den Eindruck, die Boulevardmedien und ihre Lieferanten, die Stars anderer Medien, haben sich in der selbstreferenziellen Konzentration von „Geschichten erzählen über Darsteller von Darstellern und du als Leserin kannst das auch“ ein ziemliches Ei gelegt und verärgern systematisch ihr Publikum, weil nur wenige lemmingshaft hinterherrennen wollen und können. Die Heroinen, die sie im Angebot haben, sind so monumental, dass es einen frustriert.
(edit:  Das ist vielleicht noch wichtig zu wissen, die Inhalte der Boulevard-Magazine sind sensationell billig. Sie basieren größtenteils auf Bild- und Textmaterial der PR-Agenturen der Stars. Die Redakteure wählen die Selbstinszenierungen nur aus und stellen zusammen.)

Das Internet ist in großen Teilen kostenlos, logistisch bequemer, internationaler, demokratischer, auch in den Menschenbildern. Ein Foto ist schnell gemacht, kommentiert, verbreitet, gesammelt. Ob das noch lange so bleibt, werden wir sehen. Auch, ob wir das noch lange ausschließlich sehen wollen.
In meiner Kindheit und Jugend dominierten die Menschenbilder der sozialistischen Menschengemeinschaft die Medien. Es blieb zwar beim protestantischen Arbeitsethos, aber optisch waren die Stars dezidiert normal. Mädchen-und Mutti-Frauen (Höhepunkt des Sex Appeals: Angelika Waller in „Die Frauen der Wardins“ als Melioratorin Anna in Gummistiefeln mit rotem Nagellack), erdige, naturbelassene Männer, Antihelden, die nicht einmal mit Macht und Geld punkten durften. Langweilig.
Stahlende Helden, die mühelos die Prinzessinnen in der goldenen Kutsche erobern, wären mir lieber gewesen.

Die Ur-Legenden und ihre Helden bleiben

Ich bin mir sicher, dass die Hinwendung zur Authentizität immer dann folgerichtig passiert, wenn die Rollenvorbilder nicht mehr den Bedürfnissen des Publikums entsprechen. Schmutzige, wilde Rockstars brachen das Bild des angepassten, gesellschaftsfähigen Mannes. Werden sinnliche, raumgreifende Frauen das Bild des fleißigen, drahtigen Magerfrauchens ersetzen? Oder welche Möhre lassen wir uns demnächst vor die Nase hängen?

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