Mit einem Koffer Bücher in Sibirien

Ich hänge noch immer an der selfie-shielfie-Geschichte. Manchmal verursachen solche kleinen Dinge Assoziationslawinen.
Aber vorab, ich habe noch einmal ein bisschen recherchiert. Die Autorin des Blogartikels, Antiprodukt, ist so alt wie meine Tochter. Was sie schreibt, ist sehr ok. als Auseinandersetzung mit dem, was sie sieht. Meine Tochter und ich sind sehr oft anderer Meinung. Das hat auch so zu sein. Ich bin länger auf der Welt als sie, habe mehr erlebt und sie hat sie Chance, Dinge ganz anders sehen, weil sie von so etwas nicht belastet ist.
Außerdem erinnere ich mich auch noch ganz gut an meine Zeiten als Anfangs- und Mittzwanzigerin. In der Umgebung, in der ich mich aufhielt, war es der Normalfall, dass ich die Jüngste, Unerfahrenste, Unetablierteste und Naivste war. Klassismustheorien standen mir damals leider nicht zur Entlastung zur Verfügung. Ich fand die Leute, die mir über den Mund fuhren, weil ich etwas nicht richtig formuliert hatte, einfach nur blöd und mein inneres Mantra lautete: „Man trifft sich immer zweimal!“. Das Leben schickte mir einfach die richtigen Sparringspartner vorbei, die meinen Widerstand und meine Energie weckten, aus dieser Situation rauszukommen. Es gab nicht allzu viel Bonus und Chance, sich zu bewähren, denn die Kulturbranche wartet nicht auf einen, vor allem, wenn man dort niemanden kennt und ich war damals, in den Jahren am Theater, auch zu zaghaft unter diesen ganzen Selbstdarstellern. Das Studium, das ich mit 24 antrat, war meine große Spielwiese, Blödsinn zu tun und zu lernen. Nicht gerne übrigens. Ich war von der ganzen Leserei extrem genervt, weil ich lieber las, worauf ich Lust hatte, als das, was ich sollte. (und auch lieber weiter Geld verdient hätte) Aber da mußte wollte ich durch.
Unter einem Wust an Wissens-Schrott gab es Perlen, wie den gestern angeführten Bachtin-Text. Es gibt solche Leuchttürme, die einem sehr universell helfen, Dinge, die um einen herum passieren, zu begreifen (jede Generation, jede Fachrichtung und jeder Mensch hat andere und keiner muss sich schämen, wenn vermeintlich Triviales darunter ist, es geht um das Echo in uns). Meine waren Bachtin, Elias, Sennett, Horney, Hegel, Müller, Shakespeare.
Ja, Bücher. Entweder in meinem Bücherregal oder in öffentlichen Bibliotheken, mittlerweile auch auf dem Reader und im Netz (ich habe die Shakespeare-Folios doch nicht zu Hause stehen). Das fällt mir in dem „Wäh, diese arroganten Leute, die ihre Bücherregale fotografieren!“ ein bisschen hinten runter. Bücher, das sind Stimmen von Menschen. Das sind Menschen, die dich an ihrem Wissen und ihrer Phantasie teilhaben lassen. Menschen, die lange daran gearbeitet haben, ihre manchmal hochkomplexen Gedanken anderen zu vermitteln.
Es gibt zwar Situationen, in denen einem (natürlich kulturell determiniertes) Wissen und Belesenheit sehr wenig hilft, aber es hat noch keinem geschadet. Was man im Kopf trägt, ist der Schatz, den man überall mit hinnehmen kann. Wenn dann noch Adaptions- und Lernfähigkeit plus Aufmerksamkeit dazukommen, kann man auch durch die Hölle und zurück gehen. Anders wird es schwierig, da müssen die Attitüde und Aggression viel ersetzen.*

Und da bin ich wieder bei Bachtin. Der Leningrader Literaturwissenschaftler, der in seinem Arbeitszirkel Gedanken über Bücher äußerte, die dem Staat zu abgehoben und bedrohlich erschienen, wurde nach Sibirien verbannt und erhielt Berufsverbot. Stalin hasste Intellektuelle, obwohl er selbst gern einer gewesen wäre, alles was ihm überlegen war und sich ihm nicht offensichtlich unterwarf, vernichtete er mit einem Handschlag.**
Trotzdem sind die sibirischen Jahre, in denen Bachtin als Buchhalter arbeitete, die produktivsten, in denen schuf er sein luzides Werk. Die Schwierigkeiten seiner Verbannung, das Abgeschnittensein halfen ihm  sogar bei der Konzentration auf das Wesentliche, auf die wenigen Quellentexte. Rabelais‘ Gargantua und Pantagruel waren alte Schwarten, die keinen interessierten und die schon gar keine konterrevolutionären Inhalte hatten. Französische Romane gab es in der Leihbibliothek und waren Weiberkram. Austausch? Hackereien unter Wissenschaftlern? Sich verbiegen vor der Staatsmacht? Vorbei, man musste aufpassen, dass einem nicht die Zehen abfrieren und konnte denken und schreiben, was man wollte.

Fazit: Sag niemand was gegen den selbstbewußten Besitz von Bücherregalen oder der Vefügung über anderweitig gespeichertes Wissen. Es sind Leute für Wissen und den Besitz der falschen Bücher umgebracht worden und nicht nur im Science-Fiction-Roman.

* „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz“, heißt es. Dummheit, definiert ein Bekannter von mir, ist Abwesenheit von Urteilsvermögen.
** Da finge der nächste Määnderbogen an. Stalin, Marr, die Linguistikbriefe und die Sprache der neuen, klassenlosen Gesellschaft. Klassismus? Rigide Sprachregelungen, die der Weltveränderung dienen sollen? Das ist überhaupt nichts Neues.

Oper der Phantome, V.K.Ludewig

Oper der Phantome ist die Fortsetzung von V.K. Ludewigs Phantasy-Erstling Ashby House, nun hat es Laura Shalott nach Berlin verschlagen.
Wieder das Intro wie bei der Besprechung des vorigen Buches: Ich bin ja eigentlich keine Schauerroman-Leserin, also nicht Zielgruppe und zudem Theaterdramaturgin, keine Literaturfrau. Eine komische Perspektive, um ein Buch zu besprechen, daher kanns losgehen. Schließlich spielt das Buch zur Hälfte in einem Opernhaus, gut bekanntes Terrain für Miz Kitty.

Heldin Laura, nach den Ereignissen um Ashby House erfahren im Umgang mit paranormalen Phänomenen, bekommt ein Jobangebot. Da ihr Leben ohnehin gerade eine Radikalwendung macht, geht sie als Geisterjägerin für eine internationale Organisation nach Berlin, denn in der Komischen Oper ist Gefahr im Verzug.
Berlin, das ist ein Ort, an dem es ganz normal erscheint, dass – durch eine Opernarie getriggert – ein Paralleluniversum durchbricht und seine Spuren hinterläßt.

Bei all der lichten Leichtigkeit, die die Stadt an Sommertagen zu bieten hat, dem Gefühl von Laisser-faire und Jeder-nach-seiner-Fasson, sind und bleiben die Nächte bedrohlich. Der Irre, der in der U-Bahn nach einem schlägt, die Betrunkene, die weinend und Haare raufend die Straße entlangläuft auf der Suche nach jemandem, der ihr zuhört, die Zugedröhnten und Verpeilten, auf dem Weg von Club zu Club, die jungen Schläger, die ihre Aggression ziellos ausufernd an Stadtrand-Bahnhöfen ausleben, auffällige Limousinen, die unauffällige Imbisse und Kioske beliefern – ein Mann, barfuß im Arztkittel, hinterlässt keinen bleibenden Eindruck. Weitestgehend unbeachtet macht er sich im Lauftempo auf den Weg, über die Marschallbrücke zum Pariser Platz, die Linden entlang, vorbei am Adlon und den Botschaften, die Glinkastraße rechts. Schon dort hört er die Sirenen von Feuerwehr und Polizei. Als er in die Behrensstraße abbiegt, kommt er gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Feuerwehrwagen die Sirene und das Blaulicht ausschaltet und in gemächlichem Tempo abfährt. Er hat eine entsetzliche Vorahnung, was dies bedeutet. Er steht in Schockstarre. Die Vorahnung bestätigt sich wenige Minuten später, als ein Leichenwagen vorfährt. (S.222)

Der Spalt zwischen Schönheit, Glamour, Kreativität und den alten, vielfach gebrochenen und gekitteten Gebäuden füllt sich mit sonderbaren Wesen, es droht eine Katastrophe mit vielen Toten. Ich nehme das Angebot des „was wäre wenn?“ dankbar an und lasse mir vom Autor in gewohnter Sprachbrillianz und Imaginationskraft erzählen, wie Laura, ihre Begleiterin Elle und ihre männlichen Helfer versuchen, das zu verhindern.
Sie lesen richtig. Männliche Helfer. Den Bechdel-Test besteht das Buch mit Bravour. Es sind mehr als zwei Frauen in Aktion. Natürlich sprechen diese Frauen miteinander, sie müssen schließlich einen nicht unbedeutenden Teil der Welt retten (oder vernichten, je nachdem, auf welcher Seite sie sich befinden). Und über Männer sprechen sie nur ganz am Rande, denn sie haben wichtigeres zu tun.
Die Männer sind zwar mit ihren speziellen Kräften zur Stelle wenns brenzlig wird, aber ansonsten tun sie, was Männer tun müssen: Beenden Beziehungen, weil sie glauben, dass es das beste für die Frau ist oder sind wunderschön, aber schwul. Das sollte nicht unbekannt sein.
Das Buch endet mit einem wunderschönen Bild. Einer seitenhiebversetzten Hommage an die Stadt, Wim Wenders in leiser Ironie zitierend und sich vor Otto Sander verneigend…
Lesen Sie es einfach bis an diese Stelle, Sie werden genauso entzückt sein wie ich, da bin ich mir sicher.

(Dass ich das Storytelling nicht komplett auseinandernehme, hat einfach damit zu tun, dass ich nicht gelernt habe, wie man so etwas schreibt, ohne zu spoilern.)

Während ich auf Teil drei warte, können alle, die noch nicht einmal Teil 1 gelesen haben, ein interessantes Doppelpack ordern, hörte ich: Kauf „Oper der Phantome“, erhalte das „Ashby House“-eBook dazu.
Glämmy? Könntest du mal bitte einen Link dazu geben? Oder ist die Aktion noch nicht aktuell?

edit: Ich höre grade, das dauert noch etwas…

Davids letzter Film

Zwei Freunde, in Kindheit, Jugend und Studium unzertrennlich, schickt das Leben auf unterschiedliche Kurse.
Der eine wird erfolgreicher Independent-Filmemacher und verschwindet spurlos, mitten in dem Dreharbeiten zum neuesten Projekt. Der andere lebt als Journalist leidlich erfolgreich im Ausland und wird auf dessen Spur geschickt. Ein winterlicher Parforceritt durch das Swinging Berlin Zwanzigzehn beginnt.
Der Enddreißiger kehrt an die Orte seiner jugendlichen Geniephase zurück und sieht, daß alles anders geworden ist, alles.
Ein phantastischer Plot, eine junge, moderne Geschichte.
Gelegenheit, neben den Biografien zweier nach Berlin ausgezogener junger Männer die Biografie von Berlin zwischen Vorwendezeit und Währungskrise zu schreiben.

Jonas Winner, Mittvierziger, TV-Journalist und Drehbuchautor veröffentlicht mit den Psychothriller Davids letzter Film seinen ersten Roman. Und da bekommt Kitty, Ex-Fernseh-Dienstleisterin und studierte Dramaturgin, Probleme.

Den Buch fehlt in den ersten zwei Dritteln die Literatur. Ich lese ein Fernsehtreatment mit den mir nur zu bekannten Dialogdummies. Die von Winner beschriebenen Personen und Orte hören sich nach Briefings für Ausstatter und Castingdirektoren an, die entscheidenen Worte, die einen Stoff zum Leuchten bringen, fehlten. Literarische Figuren sind eben keine Schauspieler. Ich kämpfte mich durch flaches Papier.
Aber ich rate allen, die das Buch lesen, dranzubleiben.
Ab der Beschreibung eines mir bekannt vorkommenden Berliner Clubs bekommt die Geschichte die erwartete/erhoffte Eigendynamik. Plötzlich leben die Figuren und die beschriebenen Bilder.
Von diesem Moment an konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen und lag nachts mit Herzrasen wach, eine Kreuzberger Brandmauer vor Augen.

Das Rezensionsexemplar stellte mir freundlicherweise Annina Luzie Schmid (@girlscanblog) zu Verfügung.