Dirndl Sew Along: Das Mieder/Leibchen

Vorab, ich muss enttäuschen, hier wird es nix Genähtes zu sehen geben. Ich peile das Finale der Herzen an.
Würde ich in Bayern wohnen, sähe das sicher anders aus. Aber ich bin noch mal sehr in mich gegangen und habe darüber nachgedacht, warum ich meine Königsee-Dirndl nie in Berlin trug und warum das (schöne!) ländliche Hirschlederkleid im böhmischen Wintersportort eher ein Lacherfolg war.
Klar, in Berlin kann man alles tragen. Letzten Winter lief eine Italienerin durch unsere Straße, die trug eine peruanische Indiotracht. Aber ich käme mir doch sehr verkleidet vor.
Also geht es mir grade nicht um die Frage: Balkon oder nicht, Puffärmel oder keine und welche Stoffe kombinierte ich? Ich frage mich immer noch, welche Elemente von Tracht für eine Frau in der preußischen Großstadt verwendbar sind.
Auf jeden Fall alles, was weibliche Formen bekleidet, ohne sie einzuengen (oder nur an den richtigen Stellen) – Mieder und weiter Rock gehören für mich dazu und was weiblich, aber praktisch ist* – dazu zählen für mich die Möglichkeit, Schichten übereinander zu tragen, ohne die weibliche Silhouette zu verlieren.

*ein Großteil weiblicher Mode ist entweder so, dass Frau ausgezogen oder hauteng umwickelt ist und auf ihren (möglichst Idealnormen entsprechenden) Körper hinweist oder aber durch diverse Accessoires hilflos wird, so dass sie weder richtig laufen noch arbeiten kann.

Erstmal kommt ein kleiner Exkurs. Der Graf hatte mit ein sehr schönes Buch über die sorbische katholische Tracht geschenkt. Es basiert auf Bildersammlungen und Aufzeichnungen von Jan Meschgang (oder Meskank), einem Lehrer und Volkskundeforscher und wurde in den 80ern noch einmal von Lothar Balke, ebenfalls einem Trachtenforscher und Heimatkundler ergänzt.
Tracht der katholischen Sorben
Dazu muss man wissen, dass solche Veröffentlichungen in der DDR nicht sooo üblich waren, weil rückwartsgewandt und konservativ im Wortsinne, und i.d.R. die Minderheit der Sorben als politisch korrektes Traditionssgebiet galt, weil diese in der Nazizeit diskriminiert und germanisiert wurden. (Sozusagen das Arbeiterundbauern-Wiedergutmachungsprojekt der DDR, mit den Juden hatte man es ja nicht so, Stalin mochte die schließlich auch nicht.)
Klar gab es Trachten- und Traditionsgruppengruppen und Besinnung auf den bäuerlichen oder handwerklichen Ursprung der Arbeiter, dazu auch jede Menge universitäre Forschung. Aber Volksgut wurde nur noch festtags inszeniert und nicht mehr gelebt und stand ziemlich unter Beobachtung, damit nicht zuviel „gute alte Zeit“ hochgeholt wurde und wurde in der Regel begleitet von dem oft berechtigten Satz „Wie gut es uns heute dagegen geht!“, denn salonfähig war nur die Vergangenheit der Armen und Entrechteten. Alle diese Dinge wurden ganz streng in den politisch korrekten Kontext gestellt, sonst ging das gar nicht.
Bestimmte vom Staat respektierte Traditionen wurden von den Menschen ausgiebig gelebt, um zumindest eine gefühlte Autonomie zu bewahren und nicht alles ideologisch glattzubürsten. Dazu hat der Spiegel gerade eine sehr schöne Geschichte, die von den Katholiken des Eichsfelds handelt.
In dem Buch tauchen so schöne Fotos auf wie dieses:
stirntuch
schaut man genau hin, stammt das Brusttuch mit den grafischen Dekors aus den 60ern.
Aber auch Zeitdokumente wie dieses:
familienfoto

Das muss in den 80er Jahren gemacht worden sein, wenn man sich die Krawatten der Männer anschaut und in die Datierung die Fakten Provinz und DDR mit einbezieht. Der Kontext ist leider unbekannt (es könnte sich natürlich auch um ein Trachtenfest handeln), aber auch damals trugen die Frauen in der Gegend um Bautzen und Hoyerswerda bei Festen individuelle Trachten.
Außerdem enthält das Buch Zeichnungen für die einzelnen Kleidungsstücke.mieder
Und mit diesem Mieder bin ich zum Thema zurückgekehrt. Ein simpler Schnitt, der alte Händnähtechniken verrät – das Mittelteil des Mieders wird so angesetzt, dass es der Trägerin auf den Leib angepasst werden kann, meist mit satten Nahtzugaben, damit die Teile ausgelassen werden können, denn sie sollten Jahrzehnte halten.
Was mich bei aller schönen Schlichtheit ein bisschen stört, ist der „Balkon“, denn diese Mieder sollten prächtig bestickte Brusttücher präsentieren. Ich werde doch auf meinen gut angepassten Oberteilschnitt zurückgreifen und den Ausschnitt etwas hochziehen. Die gerade Kante wiederum gefällt mir und auch das Schößchen, das aber eine Rundung bekommt und keine steifen Falten.

Warum ich nun so ein Gedöns mache? Darum: Zu diesem Mieder gehört ein schönes schlichtes, gewickeltes Leinenhemd.spenzer

und ein Spenzer. Der mittlere ist mir zu kurz, der untere gefällt mir gut. Den Spenzer tragen ältere Frauen oft nur noch oben zugeknöpft, aus Paßformgründen und dazu fiel mir etwas ein, das ich bei Mama macht Sachen** (große Leseempfehlung übrigens!) gesehen hatte: Dieses freigestellte graue Kostüm in der Mitte des Moodboards. Knöpf die Jacke einfach an die andere Klamotte, statt dich überm stattlichen Bauch zuzuwürgen.
Unterm Mieder und überm Dekolleté wird es daher was Gewickeltes geben und der Spenzer wird links und rechts angeknöpft, das Schößchen vom Mieder schaut unten hervor.

So.

Und hier geht es zu den anderen Näherinnen, die natürlich viiiiel weiter sind.

 

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Eltern, ein kleiner Rant

Mir passt der Kiezneurotiker grade so richtig gut in die Welt mit seinem Artikel.
Irgendwann hatte ich während des Urlaubs getwittert, wie sozial angenehm ich in Polen Familien mit Kindern fand. Klar kamen da Reaktionen, das Wort „dressiert“ fiel. Nö, die waren nicht dressiert – die kamen laut schreiend angerannt, wenn sie was entdeckt hatten, kletterten beim Essen auf den Tisch, wenn sie miteinander spielten, wurde es laut und impulsiv, die standen mit großen Augen 30 Zentimeter neben mir und flüsterten miteinander, als ich strickend auf der Bank saß.
Ich suche die ganze Zeit nach der Beschreibung, was den Unterschied ausmacht, zu dem, was ich hier im um dem Spielplatz am Weinbergspark erlebe, wo das Elternpaar begeisterter im Sand spielt als das Kind.
Es hat was mit Grenzen und Empathie zu tun. Mit dem Wahrnehmen, dass es auch noch andere Menschen auf der Welt gibt, die Raum brauchen. Mit Rücksicht und Höflichkeit. (Ja, ich weiß, sehr konservative Worte. Aber ich erinnere mich, dass mir als erstes auffiel, als ich 1991 nach Westberlin zog, dass die Kinder weder „Bitte“ noch „Danke“ sagten und keine Tischsitten hatten.) Und damit, dass ich das Gefühl habe, dass sich Kinder und Eltern tierisch was vormachen, um einander imaginierte Erwartungen zu erfüllen.
Gestern ging ich die Invalidenstraße runter und kehrte kurz bei Frau Tulpe ein. Hier wartete ich gut 10 Minuten, bis zwei Väter mit ihren 10jährigen Töchtern ihre Lehrvorführung bei den Schnittmusterkisten beendet hatten. Sie standen in voller Breitseite davor. „Schau mal, Laura, da sind ganz tolle, spannende Sachen, damit kann man nähen!“ Mit so einer Kinderkassetten-Märchenerzählerstimme. Sie blätterten, diskutierten und das ganze sah aus, als würden sie sich gegenseitig etwas vorspielen, denn die Kinder stiegen ebenfalls mit Märchenerzählerstimme ein: „Oh ja, das nähe ich dann meiner Schwester!“
Irgendwann war ich die grantige Olle, weil die echt nix mehr merkten und meinte: „Wenn ihr in dem einen Kasten nichts mehr sucht, könntet ihr mich bitte ranlassen?“ Kurzer Seitenblick, aha, tatsächlich andere Menschen in unserem Bällebad, etwas wegrücken.
Ich ging weiter in den REWE. Dort lief eine Frau in meinem Alter mit einem vorpubertären hochgewachsenen Jungen herum und erklärte ihm die Welt der Nahrungsmittel. Was das und jenes ist, was richtig und gut ist, was man essen dürfe und was nicht. Ich verstand nicht viel davon, aber es war wieder der gleiche Märchenerzählerhabitus „wir machen grad was ganz schrecklich spannendes, du“, mit dem die Erwachsene begann und die das (für so eine Unterweisung fast zu große) Kind irgendwann aufnahm. Mein Gefühl: Das Kind tat der Erwachsenen den Gefallen, mitzuspielen. (Noch, in einem halben Jahr wird ihm das tierisch peinlich sein.)
Dass hier immer mal Mütter mit Kinderwagen vorbeischieben, die ständig ihr Kind ansingen und wenn ihnen nichts mehr einfällt, eine lustige Geschichte erzählen, mit Märchentantenstimme natürlich, geschenkt…
Dass eine entfernte Bekannte mit ihren Kindern bei einem gemeinsamen Ostseeausflug „Oh toll wir sind auf Klassenfahrt, wir spielen ganz viele Spiele und singen ganz tolle Lieder!“ inszenierte. Mich beschlich die kleine Fremdscham, eine Fünfundvierzigjährige zu sehen, die sich so benahm wie ihre Kinder, besser noch kindlicher als ihre Kinder, die dann ihr zuliebe mitkalberten.
Was ist das? Quality-Time-Alarm?

Ich erinnere mich, dass ich mich in der Öffentlichkeit vor dem Kind so benahm, wenn ich unsicher war. Immer einen Zacken zu laut, zu demonstrativ. „Schaut mal, ich bin die Mutter! Ich sorge gut für mein Kind“ Ich habe mich später dafür gehasst.
Ich erinnere mich daran, dass wir als Kinder immer die schönste Zeit hatten, wenn uns vorher tierisch langweilig war, wenn nichts passierte und wenn die Erwachsenen mit sich selbst beschäftigt waren. Dass wir es gut fanden, wenn die Eltern uns die Erwachsenenwelt zeigten. Museen, Konzerte, Restaurants. Natürlich wollten wir uns dort wie Erwachsene benehmen. Wenn meine Mutter plötzlich die 12jährige gespielt hätte oder unsere Eltern so märchenonkelmäßig geredet hätten (ok., der Vater machte das manchmal, dann baten wir ihn, wieder normal zu werden), das wäre uns peinlich gewesen.
Wir fanden den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ok., außer wenn die Erwachsenen mehr durften als wir, dann wollten wir so schnell wie möglich erwachsen werden. In den vielen entspannten Momenten konnten wir Kind sein und wenn wir wollten, konnten wir erwachsen spielen. Hier vor meiner Tür ist das umgekehrt. Da scheint Kindheit die große, freie Welt zusein, in die die Eltern immer wieder zurück möchten.

Manchmal möchte ich Mäuschen spielen, was diese Generation, die gerade heranwächst, ihren Therapeuten erzählen wird.

edit: Ich lese das gerade noch mal durch und merke, es geht nicht um soziale Fertigkeiten und um Rücksichtnahme. Es geht um Eltern, die die Elternrolle nicht füllen (wollen) und daher entweder Kind oder Märchenonkel spielen.

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Miz Kitty reist mit dem Grafen – Zamecek Janovicky

Am Morgen unserer Abreise aus Breslau genossen wir noch einmal den tollen Kaffee, besorgten etwas mit Erinnerungswert („das ist doch aber deutsch“ meinte der, den wir um Erlaubnis fragten, es zu nehmen und wir meinten „klar, das soll ja auch deutsch sein“) und mussten am Stadtrand erst einmal das Auto durch die Waschanlage fahren. Wenn wir das Dach öffneten, flog sonst zu viel von der Staubschicht, die es bedeckte, hinein.
Es war Feiertag Mariae Himmelfahrt, für die Polen ein verlängertes Wochenende, das sie gern zum Feiern und Reisen nutzen und wir freuten uns, dass kein LKW auf der Straße war.
Auf dem Weg aus der Stadt heraus sahen wir ein neugebautes großes Werk am anderen. Sie sind alle da. Toshiba, LG, Procter & Gamble und viele, viele, mit deren Namen ich nichts verbinde.

Auf der Suche nach einem See

Wir hatten auf der Karte am Rand unserer Strecke einen größeren See entdeckt und wollten schauen, ob wir darin schwimmen können. Also verließen wir die Hauptstraße.
Wieder fuhren wir an einer großen, zugewucherten Ruine vorbei, ein verfallenes Herrenhaus, ein paar Kilometer weiter das nächste, beides barocke, klassizistisch umgestaltete Häuser. Kurz vor dem See, in Borzygniew kam die dritte Ruine, die anrührendste.
Ein hübsches Renaissance-Schlösschen mit einstmals bemalten Wänden, dessen Inschrift auf dem Schild über der Tür lautet:

1613 DURCH GOTTES GNADE UND SEGEN HAB ICH CHRISTOF VON MÜLHEIM UND DOMANTZ AUF BORGANY NEBEN MEINEM GELIEBTEN WEIBE FRAW BARBARA GEBORNE VON SEIDLITZEN AUS DEM HAUSE KEMMENDORF GEBAUET DIS HAUS NICHT AUS HOFFART SONDERN AUS NOTH DEM ES NUN NICHT GEFELT DER SCHATZ ES NICHT AUS SONDERN BAUE IHM EIN BEQUERMERS UND BESERS
GOTT BEWAHRE UND SEGNE DIESES HAUS UND ALLE DIE HIER GEHN EIN UND AUS

Den Dreißigjährigen Krieg hat es überstanden, die Artillerieangriffe 1945 nicht.
Der See war ein großer Stausee, angefüllt mit grüner Brühe und Müll, aus dem Schiffe den Grund herausbaggerten, also nix zum Schwimmen. Auf dem weiteren Weg fanden wir noch eine weitere Schlossruine, eine uralte Wasserburg.
suehnekreuz
An den Wegrändern sahen wir immer wieder Sühnekreuze, archaisch behauene Steinkreuze, die auf vergangene Verbrechen hinweisen.

Der Graf hat diese Ruinentour sehr schön dokumentiert.

Ab in die Berge

Durch den polnisch unaussprechlichen und -schreiblichen Ort Wałbrzych, deutsch Waldenburg fuhren wir, so fix es ging, denn derzeit werden gerade die Straßen erneuert. Das Steine-Tal wird nach oben immer enger und der Ort Mieroszów hat definitiv schon bessere Zeiten gesehen, aber steckt da in der Grenzecke fest.
Wir wechselten ins Tschechische, weil wir noch etwas in die Berge wollten und ich immer so von meinen Wintern in der Tschechei geschwärmt hatte und fuhren hinauf ins Eulengebirge, in den Ort Janovicky oder Johannisberg zu einem hübschen kleinen Berggasthof ganz oben.
Was uns noch nie auf unseren Reisen passiert war – wir saßen bedrippst im Zimmer, schauten uns noch mal ganz genau die Beschreibung auf Booking an und beschwerten uns dann. Das 20qm-Zimmer hatte maximal 16 und die Kategorie Deluxe bot zwei Sessel vor dem Bett, das wars. (Was wir nicht wussten – die Normalzimmer waren so klein, dass man grade noch so an der Wand vorbei ins Bett kam, aber auch die waren als größer beschrieben.) Die Chefin kam und schob erstmal alles auf die Kategorien von Booking. Jedenfalls gab sie uns nach einiger Diskussion (wir wollen darüber schreiben war dann das ausschlaggebende Argument) ein größeres Zimmer. Das große Turmzimmer, das auf allen Fotos zu sehen war, war belegt. Jetzt hatten wir ein Sofa, die für die Kategorie nötige (leere) Minibar und eine Nachttischlampe, was logisch war, denn es gab auch nur einen Nachttisch.
Das Essen war wirklich sehr gut gemachte tschechische Küche, aber Gourmet, wie im Flyer beschrieben, war es nicht. Ich habe überhaupt kein Problem mit einfachem Standard und wir hatten schon einige „als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet“-Locations gesehen. Aber das ganze Haus, das sichtlich gerade neu, mit Aufwand und vielen liebevollen Details renoviert war, litt unter ziemlichem Chaos. Im Treppenhaus zu den Gastzimmern standen kaputte Möbel und Stapel dreckiger Wäsche. Die Tischdecken waren verschmiert und krümelig, die zwei Bäder, die wir sahen, hatten in den Ecken und Rändern eine Korona von Schmutz und Kräusel-Haaren. Als wir morgens zum Frühstück kamen, war das Buffet fast leer, erst auf unsere sichtbare Körpersprache – wir standen einfach fassungslos davor – wurde nachgefüllt.
Irgendwas stimmte da nicht und wir konnten nur spekulieren, was. Als ich vor über 10 Jahren winters im Riesengebirge war, begannen die Tschechen ihre Hotels und Pensionen, die bis dahin noch 1a sozialistische Zusammenbruchs-Ausstattung hatten, zu renovieren und anderes Essen anzubieten – zu höheren Preisen versteht sich. Viele (deutsche) Leute, mit denen ich sprach, wollten das damals nicht, sie wollten es weiterhin gammelig-schlicht, aber extrem billig.
Das Zimmer war gemessen an der Ausstattung gar nicht mal so preiswert, aber das Essen kostete extrem wenig. Vielleicht steckt man auch dort in dieser Preis-Erwartungs-Schere, keine Ahnung.
Hier schreibt der Graf darüber und hat Fotos dazu.

Wir machten am Vormittag im Regen einen kleinen Gang den Berg hinauf und dann wurde, als der Regen aufgehört hatte, daraus ein immer längerer. Ich fand noch ein paar Nachzügler-Walderdbeeren, es gab Blaubeeren, Himbeeren und die ersten süßen Brombeeren. Himmlisch. Irgendwann mussten wir zurück. Wir waren einer Strecke nachgegangen, die für einen am Morgen stattfindenden Bergcrosslauf markiert war. Allerdings hatten wir keine Ahnung, wie lang die Strecke war. Wir waren schon fast 8 km gegangen und der Graf riet dringend dazu, ins Tal abzusteigen. Das waren auch noch mal viele Kilometer, insgesamt mögen es wohl 15 gewesen sein. Dann standen wir unten an der Landstraße und Gott sei Dank rief uns jemand im nächsten Haus ein Taxi und das kam auch und fuhr uns ziemlich lange zum Hotel zurück.
Hier der Artikel und die Fotos des Grafen (der Mann hat derzeit schwere Schreibanfälle).

Felsenstadt Adrspach

Am nächsten Morgen ging es mit vielen kleinen Schleifen und Mäandern in Richtung Berlin zurück.
Wir machten in Adrspach halt, einem Stück Gebirge, das schöne, fast weiße Sandstein-Tafelberge hat. Aus Zeitgründen besichtigten wir nur die Felsenstadt, die Region um einen gefluteten Steinbruch, das kostet Eintritt, so wie scheinbar vor allen Zugängen dort ein Kassenhäuschen steht. Drölfzigtausend Laute walzten mit uns über die Wege. Für mich hatte das nicht sooo den Attraktionenwert, wir waren als Kinder fast jedes Jahr im Elbsandsteingebirge wandern und der Großvater steht im Gipfelbuch der Barbarine.
… Beim letzten Besuch der Schrammsteine hatte ich den Aufstieg so getimt, dass sich morgens der Nebel über der Elbe hebt, das Panorama bewundert werden kann und man wieder weg ist, wenn die Vollhonks mit ihren Wanderstöcken von Tchibo in Rudeln kommen. – Auf meiner Merkliste steht nun eine kleine Reise mit dem Grafen dorthin.

Weiter ins Riesengebirge und dann ins Isergebirge

Wir machten einen kurzen Abstecher auf die böhmische Seite des Riesengebirges. Ich zeigte dem Grafen Benecko, wo ich einige Winterurlaube verbracht hatte und wir kehrten in der Hancova Bouda ein, wo ich vor 10 Jahren ein nettes Weihnachten allein feierte. Das Haus ist noch immer sehr schön, rustikal, mit Seele und einer guten Küche.
Der Graf hatte Freude am Bergstrassenfahren und so kurbelte er uns über kleine Straßen durchs Isergebirge, bis hinunter nach Liberec, das sich endlos in die Täler erstreckt. Gut 80 Einzelsiedlungen umfasst die Stadt und wir fuhren das Tal der Schwarzen Neiße hinunter, an dem hinter jeder Straßenwindung eine (nun leerstehende) Fabrik mit dazugehörigem Schornstein und Besitzervilla stand. Liest man nach, so ist der Glanz dieses dicht besiedelten Industriegebietes schon vor fast 100 Jahren verblasst, denn nach dem 1. Weltkrieg brachen die Absatzmärkte der böhmischen Textilindustrie zusammen.

Richtung Heimat

Mit Einbruch der Dunkelheit kamen wir in Görlitz an. Wir hatten es sogar vorher noch geschafft, uns in einem polnischen Supermarkt, mit Grundnahrungsmitteln – Bier, Chips, Schokolade – und Waschmittel einzudecken. Nennt mich blöde, aber mir ist das Markenwaschmittel mit der weißen Frau in Deutschland zu teuer und ich komme mit der Dosierung des Konzentrats nicht zurecht.
Ab Görlitz fuhren wir auf geleckten, perfekten Landstraßen nach Norden bis zur Autobahn, ständig überholt von ungeduldig rasenden Autofahrern. Deutschland hatte uns wieder.
Und der Text des Grafen.

Was mir der Urlaub ein weiteres Mal gezeigt hat – was Geschichte ist. Wir sind ständig über europäische Vergangenheit gestolpert. Über Zeiten von Völkerkoexistenz, Wirtschaftsblüte und Verfall, Königsschach mit Bauern, Krieg und Exodus. Es war zu sehen, wie sich Gebiete verändern, wenn das gesellschaftliche Ordungsprinzip Clan von dem der Nation abgelöst wird, wie sie sich nun wieder unter der Globalisierung wandeln. Und – die Zeugen der goldenen Zeiten sind zwar lange sichtbar, aber sie waren oft sehr kurz, die Zeiten von Umschwung und Veränderung um so länger.

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Miz Kitty reist mit dem Grafen – Sleepwalker in Breslau

Schildbergs Schildbürger

Wir fuhren zu einer christlichen Zeit in Antonin los, es ist sehr entspannend, dass man in polnischen Hotels erst um 12 Uhr auschecken muss. Wie immer fuhren wir lieber über kleine Landstraßen, statt uns ins Lastergedrängel einzureihen.
In Ostrzeszów, deutsch Schildberg, machten wir Station, weil der Graf dringend einen Kaffee brauchte, bei dem man nicht den Grund der Tasse sehen konnte. Ein nettes Städtchen, in dem sich rund um den Marktplatz gut 20 Schuh- und Kleidungsgeschäfte sammelten, ein Anblick, den man so gar nicht mehr gewöhnt ist. Ich schaute vor allem in die Schuhgeschäfte, weil ich auf der ewigen Suche nach einem schönen, hellen Sommerschuh bin. Aber das, was meine Füße noch aushalten, ist hier im Promillebereich vorrätig und leider hässlich, beige-betongrau und trägt ein Sanitätskreuz im Label.
Beim Schlendern trafen wir einen alten Herren, der uns über die Segnung des Viehs mit Hilfe von St. Rochus im hübschen Städtchen Mikstat erzählte, durch das wir am Vortag schon gefahren waren. Der nächste alte Herr, den wir trafen, als wir an der Burgruine eine Ausstellung alter Ansichtskarten ansahen (typisch deutsche Postkarten übrigens: „Schildberg – Postamt, Bahnhof, Bürgermeisteramt, Gericht“), gab launig zum besten, dass die Polizei in der Volksrepublik mangels Ersatz noch mit einem Stadtplan unterwegs war, in dem die zentrale Straße Adolf-Hitler-Straße hieß.
Das wäre ein würdiger Drehort für eine Serie im Stil von Milos Formans Feuerwehrball.
Und hier schreibt der Graf dazu.

Auch ein Niemandsland

Später sahen wir von der Straße aus die Ruine eines großen Gebäudes. Neugierig fuhren wir hin, es handelte sich um eine Kirchenruine. Ruinen von Kirchen und Bethäusern gibt es in Schlesien häufig, denn nur in preußischen Zeiten war man hier evangelisch.
Aber frühgotische Backsteinmauern und im Schmuck romanisch, das ist reiner Historismus und für eine einfache verkommene evangelische Kirche nicht alt genug, die sind meist aus dem 18. Jahrhundert (1902, sagte die Jahreszahl am Portal), außerdem waren wir noch in Großpolen, nicht in Schlesien.
Prinz-Wilhelm-Gedächtniskirche
„TROYEZ BIRON CONSTANT DANS L’INFORTUNE“
Im Innern lagen sogar noch Reste von Parkett, der Bau war auch noch nicht von Bäumen bewachsen und das Dach des Turms schien erst kürzlich eingestürzt. Diese Website gibt Auskunft. Ein deutscher Adliger, Prinz Gustav Biron von Kurland hat diese Kirche an der Stelle errichten lassen, an der sein Sohn tödlich vom Pferd stürzte. Die Kirche war noch gar nicht lange fertig, als sie zunächst durch die Grenzziehung aus dem Versailler Vertrag vom Ort ihrer Gemeinde abgetrennt wurde und scheinbar lange unbenutzt(?) und verschlossen blieb, bis sie 1945 geöffnet und nach und nach ausgeräumt wurde.
Constant dans l’infortune. Ja.
Der Graf schreibt hier dazu und hat viele Fotos.

Breslauer Hauptverkehrsstraßen und ein feines kleines Hotel

Kennste eine von diesen Städten, kennste alle, möchte man angesichts quer durch die Stadt gefräster sechs- bis achtspuriger Magistralen sagen. Ob Köln, Leipzig oder Breslau. Unsere Unterkunft lag an einer dieser Straßen, die den Verkehr an dieser Seite des Blocks nur in einer Richtung vorbeileitete, also kreiselten wir zweimal, bis wir den Ausstieg fanden. Denn zu allem Überfluss reiht sich hier Baustelle an Baustelle, unter Verschluss von Nebenstraßen. Ich erinnerte mich wieder an meine These Ostdeutschland minus 20 Jahre – Mitte der Neunziger (btw. bemerkenswerter Tumblr!) wurden in Berlin Mitte auch die Lücken mit großen Bauten geschlossen.
Unsere Unterkunft, das Sleepwalker Boutique Suites, steckte mitten drin. Vor dem Haus Verkehr und nur ein schmaler Fußweg, hinter dem Haus entsteht gerade der halbe Block neu. Abgesehen davon, dass immer mal das Haus wackelte und das Auto auf dem Parkplatz eine fette Staubschicht davontrug, war davon drinnen nichts zu merken. Das Haus ist wie ein kleiner Kokon. Der Graf hatte uns ein blau-weißes Ein-Schlafzimmer-Appartement herausgesucht und ich hätte, wenn da nicht eine interessante Stadt gelockt hätte, sehr wahrscheinlich die zwei Tage dort drin verbracht.
Sleepwalker BreslauGut gestaltet, gemütlich und gerade mit der richtigen Menge Plüsch und Chichi, um als Gast wie eine zarte Praline wertvoll verpackt zu sein. Das mag ich.

Die Stadt rief dann aber doch. Am Abend der Ankunft machten wir erstmal eine klassische Touri-Aktion und gingen auf dem Marktplatz polnisch/schlesisch/wasauchimmer essen. Ich hatte Schweinsbraten mit Backpflaumen gefüllt, die Meerrettichsoße war zwar mal zu heiß geworden und nicht mehr scharf, dafür war der Galizische Mohnkuchen hinterher ein Gedicht.
Der Graf hatte vom Klo eine Handvoll Veranstaltungsprospekte mitgebracht. Ein gut Teil war erst in den nächsten Wochen, aber die Sonderausstellung mit flämischer Malerei im Königsschloß wollte ich mir dringend anschauen.
Das ist ohnehin Kitty-Sightseening: In die örtliche historische Gemäldegalerie gehen oder im Hotelzimmer einigeln und manchmal schauen, was einem sonst noch über den Weg läuft. Ich bin nicht soziophob. Ü-ber-haupt-nicht!
So beschlossen wir am nächsten Morgen, der mit einem liebevoll aufgebauten Frühstück begann (und vor allem mit einer Koffeinmenge, die wir in der ganzen Woche vorher nicht hatten), am Nachmittag getrennt zu marschieren. Der Graf mit der Kamera im Anschlag durch die Stadt und ich gradewegs ins Museum. Ok. ich machte zwischendurch dreimal Station in einer Kirche, aber das war immer nur der übliche Barock von der Stange…
Im übrigen erinnerte ich mich daran, dass ich bereits als Kind mal auf dem Marktplatz war. Mit einer Kollektiv-Busreise des VEB Halbleiterwerk. Das eindrucksvollste war eine alte, dicke Marktfrau mit Warzen im Gesicht, die dasaß wie eine Barlach-Figur und ein Wollkopftuch umhatte und um dieses Kopftuch kroch eine riesige Kreuzspinne.

Landkarten statt Breughel

Die Dame im Königsschloss lachte herzlich, als ich ihr den Prospekt zeigte und nach der Ausstellung fragte. Der wäre vom vorigen Jahr und wenn ich alle anderen Ausstellungen sehen wolle, müsste ich mich beeilen, das Museum schließe in anderthalb Stunden. Also hoppelte ich durch die Sonderausstellung, die Landkarten Schlesiens und Panoramen Breslaus von Vierzehnhundertquetsch bis Achtzenhnhundertquetsch zeigten. Hätte ich einen Blick für Details, könnte ich würdigen, wie verschiedene Landkartenmaler die Ur-Karten, die aus Messungen resultieren, miteinander vermischt haben.
Die Ansichtskarten, von denen oben im ersten Abschnitt die Rede war, sind ein Schatten der Stadtpanoramen der vorhergehenden Jahrhunderte, in denen Städte ihre Macht demonstrierten, indem Befestigungen und Sakral- und Herrschaftsarchitektur vorgezeigt wurden. Im fünfzehnten Jahrhundert können solche Panoramen wie ein Wald potent gereckter Kirchtürme aussehen.
Mich interessierten eher die Details am Rande.
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Die anderen Räume hatte ich schnell durchwandert. Was mir angenehm auffiel, dass die Historie nicht patriotischen Gesichtspunkten untergeordnet war. Es passiert in Polen ganz schnell mal, dass einem jeder größere Stein als Beleg für das ewige, immer existente großpolnische Reich verkauft wird, vor allem in lange deutschen Gebieten, irgendwann reagiert man da nur noch mit „Ja. Nee. Isklar.“ darauf. Der Saal „Breslauer Eliten“ stellt die Völker, die Breslau ausmachten, weitgehend gleichberechtigt nebeneinander.
Hier fand ich auch ein schönes Zitat von Karl von Holtei, das sich aufschreiende Menschen zu Herzen nehmen sollten:
„…seyd einig! Trachtet nicht nur, die Ketten, die euch andere geschmiedet haben, abzuwerfen! Zerbrecht auch die eignen, inneren Fesseln. Tödtet den Neid, die Selbstsucht, die Sklaverei. Nur freien Herzen will Gott die Freiheit senden.“
Word.
Der Saal über die 70er und 80er rührte mich sehr. Tadeusz Różewicz lebte hier bis vor ein paar Monaten. Als aufgeklärter, kulturell interessierter DDR-Bürger kam man an ihm nicht vorbei. Theater. Rockmusik. (Wenn sie sich als Jazz verkleidete, war sie möglich.)
plakat
Dieses Plakat hing in meiner Kindheit und Jugend in den Wohnungen derer, die anders waren. Für jemanden aus dem Westen ist es schnöde Pop Art, für Leute aus dem Osten die Verheißung, dass es noch ein anderes Leben als das politisch korrekte gibt.
Gleiches gilt für Czeslaw Niemen. (Achtung Gedankensprung, der kommt nicht aus Breslau.)  Für jemanden, der die Musik noch nie zuvor gehört hat, ist das wahrscheinlich epigonaler Poprock. Für mich und viele andere Gänsehaut.
https://www.youtube.com/watch?v=IJmg5_ROsJE

Die grüne Fee, nein erst Feniks

Vor der grünen Fee kam ein Besuch ein Kaufhaus Feniks, einst das Warenhaus der Gebrüder Barasch. Auch so ein großes Haus sieht aus wie alle anderen schönen alten Warenhäuser im Lande: Die Abteilungen werden von Einzelhändlern betrieben oder aber sind in Einzelverkaufsstände aufgeteilt. Die Existenzkrise der Warenhäuser hat große westeuropäische Konzerne daran gehindert, Kaufhäuser in ersten Lagen zu eröffnen. Was man hier sieht, ist ein kleines Fenster zur Ostblockatmosphäre von früher und jede Menge einheimischer Waren. Ich gehe ohnehin gern im Ausland in unmoderne Haushaltswarenläden, weil ich dann sehe, wie die Menschen leben. Das ist das kulturell Konservativste und Globalisierungsresistenteste, was man sehen kann, schon weil das Sortiment oft Jahrzehnte alt ist. Für reichlich zwanzig Euro kaufte ich einen grau emaillierten Teekessel und eine gläserne Puddingform. Die klassische gläserne Zitronenpresse kostet hier übrigens immer noch einen Euro, bei Manufactum ein vielfaches.

Bald fand sich auch der Graf wieder ein und wir saßen in einer der zahlreichen Hipster-Kneipen in der Altstadt und ich trank Bubbletea für Erwachsene – Aperol Spritz mit Blaubeeren.
Bubbletea für Erwachsene
Dann zogen wir weiter auf der Suche nach etwas zu essen. Unsere Twitter-Umfrage brachte keine Tipps, aus zwei Läden gingen wir wieder raus, weil zu laut, zu kalt, zu studentisch schrappelig und landeten im La Fee Verte, einem französischen Restaurant, in dem ich im Schwung der französisch-polnischen Speisekarte versuchte, auf Französisch zu bestellen. Das verstand aber niemand, auf Englisch klappte es aber prima. (Ick werd uff meene alten Tage noch polyglott.)
Es gab weiche Sessel, leckeres Essen, feinen Wein und hinterher noch Creme Brulee, im Hintergrund lief gute Musik, Herz, was willst du mehr.
Um Mitternacht liefen wir quer durch die Altstadt nach Hause, es hatte sich sehr abgekühlt, wir fielen ins Bett und ich wurde nur einmal kurz aus dem Tiefschlaf wach, als man auf der Baustelle alle Lichter anschaltete, um einen Schwerlasttransport zu empfangen.

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