Am Samstag die Party der Freunde, die alles unter der Motorhaube hatte: eine Goldene Hochzeit, eine Hochzeit und ein zwanzigjähriges Firmenjubiläum, Rührung und Freude, geistige Getränke in Strömen, üppiges Essen, gute Bekanntschaften, eine interessante Location (noch ohne richtige Website), noch interessantere Deko (ungefähr fünfhundert magentafarbene Gerbera, Waldrebe und Hopfen) und viel Musik.
Der Abend enthielt eine schöne Geschichte aus dem ostdeutschen Mittelstand: Wie Leute schauten, dass nach der Wiedervereinigung erst der Familienvater einen Arbeitsplatz bekam und bald die ganze Familie und später das halbe Dorf beschäftigten.
(Wer aber glaubt, dass Mama brav zu Hause die Kinder hütete, sitzt dem falschen Klischee auf, sie ist Geschäftsführerin des Unternehmens.)
Was der Graf dazu schreibt. (Der Mann war nämlich sehr produktiv und schrieb gleich drei Posts.)
Am Sonntag trudelten wir durch Leipzig. Erst frühstückten wir im Café Kandler (URL existent, keine Website dahinter) gegenüber der Nicolaikirche und beobachteten die Touristengruppen im Hof.
Dann suchten wir die Studentenwohnung, in der meine Eltern in den 60ern wohnten, die sich in der Ehrenreichstraße und damit in einer gutbürgerlicheren Gegend befand als mir erinnerlich. Das heißt, heute ist es wieder eine gutbürgerliche Gegend, das südliche Gohlis ist eine Ansammlung von interessanten Architektenhäusern im teutonischen Jugendstil und Historismus. Meine Eltern bewohnten mit meinem Bruder zwei Zimmer (die wahrscheinlich vorher mal eines waren, durch das man eine Trennwand gezogen hatte) mit Kanonenofen und Kochplatte, die geschlossene Doppeltür zum Nachbarn war mit einem Wandteppich verhängt und das Bad auf dem Flur benutzten alle Parteien der einstigen Etagenwohnung. Wenn sie ein paar Tage im Urlaub waren, mussten Eimer unter den regentropfenden Stellen der Zimmerdecke verteilt werden.
Vor dem Grafen und seinem Fotoapparat war kein Abbruchhaus sicher. Mit fremdem Blick erfasst: Leipzig ist aufgeräumt und sauber, sogar wenn ein Haus seit Zeiten leersteht. Die Kittelschürzenhilfspolizei hinter der Gardine funktioniert auch noch. Nach dem omnipräsenten Berliner Größenwahn-Ranz ist das mal ganz angenehm, auch wenn ich sehr wahrscheinlich nicht so leben wollte.
Was der Graf dazu schreibt.
Zuguterletzt stiegen wir noch auf den Weisheitszahn* und schauten im abendlichen Licht in die Gegend. Bei Anblick der modernen Unikirche kam mir eine frühe Kindheitserinnerung. Ich war vier Jahre alt und besuchte meine Eltern über Pfingsten in Leipzig (sonst war ich ja bei den Großeltern) Meine Mutter hatte am Donnerstag noch ein Seminar, zu dem sie unbedingt gehen musste und sie nahm mich daher mit. Es war ein politisches Seminar, „Selbststudium“ ohne Dozent, das fast den ganzen Tag dauerte. Alle Journalistikstudenten trugen das FDJ-Hemd und redeten miteinander.
Ich wußte irgendwie, dass da was war, irgendwas schwieriges Politisches, habe aber in den Jahren später nie recherchiert. Jetzt habe ich mal nachgeschaut. Dieser Tag der politischen Seminare, der 30. Mai, Donnerstag vor Pfingsten – wenn sich die kulturell gebildeten Atheisten erinnern wollen – Pfingsten ist das höchste kirchliche Fest, die Ausgiessung des Heiligen Geistes bedeutend und damit den Beginn des Christentums symbolisierend, war der Tag der Sprengung der Leipziger Universitätskirche. Da es bereits vorher Proteste dagegen gegeben hatte – die Neubebauung des Campus hätte die Sprengung der Kirche nicht erfordert, aber man wollte Platz schaffen für die Symbole der marxistisch-lenistischen Deutungshoheit der Welt, sammelte man alle Studenten zum Selbststudium und zur Diskussion. Es gab immer einen IM in der Seminargruppe, der jede Abwesenheit und jedes falsche Wort, das an diesem Tag gefallen wäre, weitergetragen hätte. Ein Theologiestudent ging sogar wegen „inneren Protestes“ 22 Monate in Haft, er musste sich nicht einmal öffentlich äussern.
Fotos.
Warnung vor allen Absteigen, die „Art“ im Namen tragen. Es handelt sich in der Regel um eine Ansammlung sich prätentiös gebärdender Geschmacklosigkeiten, die sich dann auch noch (unbewußt?) selbst desavourieren.
Pennen mit Aristoteles-Zitat überm Kopf und über sämtliche andere Darstellung der äußeren Erscheinung der Dinge in diesen Räumen schwer nachgrübeln, als da wären: Visuelle Kakophonien von Dreckig-Flieder-Violett-Tönen, kontrastiert mit Petrolgrün, dazu Imitate weißgeschlämmter Rustikal-Dielen im Provence-Stil und hochglänzender schrei-bunter Kunstfaserplüsch an großformatiger Pseudo-Popart-Grafik. Sie fragen nach der inneren Bedeutung? Eine zu eng geplante Hotel-Immobilie irgendwie hochjazzen.
Was der Graf dazu schreibt.
Vom Unvermögen, eine intensiv dunkel-magentafarbene Blüte zu fotografieren. Das ist das Äußerste an Magenta, was die Bildbearbeitung rausholen konnte.
Im Café Kandler, zwanzig Schritte von der Nicolaikirche über diesen Satz stolpern:
Es ist nicht leicht, jemandem Freiheit zu erklären, der sie besitzt.
Erich Loest hat sich am Donnerstag mit 88 Jahren die Freiheit genommen, sein Leben zu beenden. Das war nie meine Literatur, zu nüchtern, zu wenig phantastisch, zu unglamourös und trotzdem kam ich an Loest nicht vorbei, immer wieder stolperte ich über seine Bücher. Für seine Memoiren Durch die Erde ein Riß habe ich fast drei Jahre gebraucht. Nicht weil es mich langweilte, sondern weil es mich, meine Familie und unser Werden mehr betraf als ich wollte. Loest ist in die Rolle meines Engels der Geschichte geraten. Mit weit aufgerissenen Augen schaut er in die Vergangenheit und es treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft. Bis zu diesem letzten Tag im Universitätsklinikum Leipzig.
Die Leipziger Volkszeitung schrieb noch einen anderen Erich-Nachruf. Erik Neutsch wurde in diesen Tagen beerdigt, sozialistischer Großschriftsteller. Auch das überhaupt nicht meine Literatur. Ein braver Genosse, dessen größter Erfolg, der Roman Spur der Steine in der Verfilmung durch Frank Beyer wider seine Intention zum Zensurskandal wurde. Die Schilderung der erfolgreichen Anpassung eines Nonkonformisten konnte nicht mehr in der Öffentichkeit – Kino – gezeigt werden, weil dieser Charakter in seiner Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit zu faszinierend auf den Zuschauer wirkte und die Darstellung des Anpassungprozesses politische Praktiken entlarvte.
Was mich zu Aristoteles zurückspringen lässt. Wer nur an der äußeren Erscheinung der Dinge rumdoktert, hat meistens etwas später ein Problem.
Aber das ist Schnee vom vergangenen Jahr, Anna Susanna. Rein menschlich irgendwie.
Das Theater als Moralische Anstalt. Aufgepickt in Gohlis.
Trauben und Waldrebe auf einem Abbruchgrundstück, Leipzig Nord. Denken Sie sich die üblichen Rilke-Zeilen dazu.
Last, but not least: Auch Männer sollen Bicolorfrisuren tragen, nicht nur Mandy’s, Stinktiere und Eichhörnchen.
Ich habe mir fest vorgenommen daß unsere nächste Leipzig-Tour in die Südstadt geht. Und ich möchte gern den Laden wiederfinden, in dem ich schon mal gegessen habe. Ein ziemlich ambitioniertes Restaurant in einem kleineren Industriebau, der in oder über einem Fluß oder Kanal mitten in der Stadt war. Ich kann ich nur noch an die Betonwände rundherum erinnern, die das Wasser einfriedeten.
Off Topic noch ein Link: Ein sehr lesenswerter Blogpost von Tillmann Allmer über Ordnung und Improvisation und über Freiheit und Medien.
*wahrscheinlich ein genauso blöder Begriff wie Telespargel für den Fernsehturm