Die letze Ruhe

Das ist wie wenn einer sterben will
Und die Kinder im Hofe schrein.
Und er wartet lang in den Tag hinein,
Doch die Kinder im Hofe schrein.
Da weiß er: So wird mein Sterben sein.

Nicht einmal still.

Rilke

aus dem Kopf zitiert und hoffentlich fehlerfrei

Das alte zähe Weiblein, die andere Großmutter, will gehen. So scheint es. „Besuchen macht keinen Sinn“, sagt meine Mutter. „Sie liegt auf der Wachstation und bekommt nichts mehr mit.“
Hm. So ohne Abschied? Auch wenn ich ihr nie sehr nahe war. Selbst wenn ihre Seele schon leise speckernd auf der Lampe hockt, das ist doch zu merken, wenn jemand kommt oder?
Runter mit ihr von der Wachstation, raus aus dem Krankenhaus, bevor da noch jemandem einfällt, womit noch Geld zu verdienen wäre. Rein in ihr Zimmer. Dafür heißt es doch Pflegeheim, damit die Menschen dort in Ruhe sterben können. Oder?

Veröffentlicht unter Leben

Nicht nur Horror mit der BVG, sondern weitere logistische Herausforderungen

Teil 2 des Sonntags.

Kurz nach Mitternacht, die Mondsichel stand hoch am Himmel, die Runde löste sich auf. Wir stiegen von Herrn Luckys Dach wieder nach unten ins Gewühl. Der winzige Fahrstuhl, faßte offiziell vier Personen, war aber mit Glam, dem Couchie und seinem Gepäck und mir  voll. Der Graf wollte lieber laufen.
Die Tür schloss sich und die Überladungssicherung begann mit lautem Dauerhupen, egal, was wir taten, die Tür bleib geschlossen, der Fahrstuhl rührte sich nicht. Der Notrufknopf war schnell gefunden, es meldete sich auch jemand, aber eine Verständigung war nicht möglich, weil das Überladungssignal alles überblökte.
Glam bewahrte kühlen Kopf und rief die Notrufnummer an. Ein junger Mann versprach, uns bald zu retten. Für uns alle ein sehr tröstlicher Gedanke. Couchie hatte inzwischen die Initiative ergriffen und versuchte, die Tür aufzudrücken. Bei der Innentür kein Problem. Die Außentür war allerdings böse verklemmt, sie war immer nur unten einen Spalt wegzubewegen. Worauf der findige Herr Lucky zu unserer Beruhigung erstmal Schnäpse durch den Spalt reichte. Schließlich hatten zwei von uns unbestreitbar eine heftige Neigung zu Panikattacken.
Das Wuchten und Schieben an der aus den Rollen gesprungenen Metalltür ging weiter, Couchie von innen, Lucky von außen. Ich versuchte mir nicht vorzustellen, wie es ist, wenn der Fahrstuhl abstürzt. Nach ein paar Minuten war es dann so weit. Die Tür ging auf, wir waren frei. Der Notdienst mußte etwas später dann nur noch den kranken Fahrstuhl verarzten, der immer noch verzweifelt mit Türen klackerte und rappelte.

Wir trennten uns unten auf der Straße, der Graf hatte das Fahrrad bei sich und stattete mich mit seiner Monatskarte aus. (ein Bonustool für den BVG-Hindernisparcours) Die beiden anderen Herren hatten wohl noch ein vampireske Begegnung mit einem dunkelgelockten Jüngling, dessen leergesaugte Hülle wohl demnächst zwischen Flutgraben und Landwehrkanal aufgefunden wird.
Ich ging zum Schlesischen Tor. Inzwischen waren weniger Menschen auf der Straße, die aber auch nicht weniger Platz brauchten, da sie sich in unterschiedlichen Phasen alkohol- und drogenbedingter Gehbehinderung befanden. Der Zug kam sofort, diesmal wollte ich den kurzen Weg nehmen und wechselte am Kotti zur U8. Alles fein, Zug kommt in 8 Minuten.
Die Macht der Fakten war hart: Auf dem Bahnsteig 300 und 400 Leute und drei Einkaufswagen voller Leergut. Angekündigt war ein Kurzzug. Ich sah mir die Meute an: Singen, Tanzen, Lallen, Kotzen, Drogentourette, alles dabei. Die U1 oben, die mich zum Gleisdreick gebracht hätte, damit ich den etwas längeren, aber bürgerlicheren Weg durch Berlin Mitte nehmen konnte, war auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.
Also Taxi, nutzt ja nix. Ich kam unversehrt zum Ziel, nur einmal sprang ein Aggro-Radahrer dem Wagen in die Spur, als er neben uns über die Straßenbahnschiene switchte und dabei andere Radler überholte. Das war noch mal ein reaktionsschnelles Ausweichmanöver auf die Gott sei Dank leere Gegenfahrbahn. Zum Dank fürs nichtplattfahren gabs vom Rad-Ritter einen gestreckten Mittelfinger.

Berlin, manchmal machst du es einem nicht leicht.

Horror mit der BVG oder der Tag der logistischen Herausforderungen

Der Herr Lucky hatte wie jedes Jahr Spargel, Schinkenhäppchen und Kartöffelchen besorgt. Miz Kitty packte Eier, Dijon-Senf und Butter in die Tasche, dazu ein vorbereitetes Rhabarber-Crumble, hübschte sich etwas und machte sich auf den Weg nach X-Berg. Leider nicht mit dem Rad, das ist kaputt.

Die Stadt ist am Pfingstwochenende noch voller als sonst, wenn die Sonne scheint und das hat Nebenwirkungen. Über New York habe ich irgendwo gelesen, man solle als Tourist in bestimmten Vierteln schon aus Respekt vor den Leuten, die dort leben und arbeiten, nicht im Weg rumstehen. Vielleicht wäre das für Berlin auch eine gute Ansage. Es gibt Strecken in Berlin, die werden zum Hindernis-Parcours.
Seit im Pfefferberg ein Hostel ist, stehen vor dem U-Bahn-Eingang Senefelder Platz Menschengruppen, die auf U-Bahn- oder Stadtpläne starren. Hat man sich dort durchgewunden, stehen die nächsten vor dem einzigen Fahrkartenautomaten.
Ausländische Touristen sind meist schnell, werfen ihre Kohle ein und ziehen ihr Ticket. Besonders Schwaben, die in der Großfamilie oder in Gruppen unterwegs sind, beginnen erst einmal eine detaillierte Diskussion, welche Rabattmöglichkeiten die meiste Ersparnis bringen. Zu diesem Behuf hat man schon jemanden vorn am Automaten stehen, der wahlweise Knöpfe drückt und aus dem Hintergrund kommen weitere Diskussionsbeiträge und Rechenvorschläge.
Mich hat das ein Mal bereits 40 € gekostet. Ich hatte einen dringenden Termin und noch zwei Minuten, um den Fahrschein zu kaufen. Die Leute vor mir überlegten, entscheiden sich, entscheiden sich um, suchten nach kleinen Scheinen… Ich bat irgendwann, dass sie mich bitte vorlassen sollten, ich hätte es eilig, ich trug schon das passende Geld in der Hand. Die schauten mich nur verständnislos an. Ich sprang dann fluchend in die ankommende U-Bahn und Bums! hatte ich an der übernächsten Station eine nette Begegnung mit Kontrollettis.
Gestern nutzte ich die Kampfrentner-Taktik: Rücksichtsloses Vordrängen. So hatte ich eine Fahrkarte, bevor die Bahn die Türen schloss. Ich musste nur noch die fünf asiatischen Mädchen in kurzen Hosen beiseite kicken, die sich mit dem Rücken zum Eingang stehend, dort nicht wegrührten.
Ich drängte mich in die Mitte des Wagens. Um mich herum farbenfrohe südländische junge Ballonseidenhosenträger-Männchen, die breitbeinig sitzend stolz ihre Gonaden präsentierten. Ihre eigentlichen Brutplätze sind im Wedding, in der U2 sind sie selten, aber anhand ihres lauten Geschnatters konnte ich sie als süditalienische Touristen identifizieren.
Ich bemerkte, dass ich mit der U8 wesentlich schneller beim Herrn Lucky angekommen wäre und ärgerte ich mich kurz. Aber als ich am Gleisdreieick in eine mäßig volle U1 stieg, die sich dann am Halleschen Tor in den Vorhof zur Hölle verwandelte, wußte ich: 1. Es ist Karneval der Kulturen und 2. Wenn ich am Kotti umgestiegen wäre, wäre ich gar nicht in die Bahn gekommen. Um mich herum harmlose genervte Berliner, dazu Flaschensammler mit ihrer Beute, nicht mehr so ganz frisch riechend und ein ganzer Pulk Pubertisten aus einer der deutschen Provinzen (und es ist mittlerweile egal, ob Ost oder West). Die jungen Menschen erlebten, wie sie sich lautstark zubrüllten, zum ersten Mal eine volle U-Bahn. Zur allgemeinen Unterhaltung drohten sie sich gegenseitig, sich im Gedränge zu filmen und zu fotografieren und das Ganze auf Facebook zu stellen. Als sie von einem freundlichen Ureinwohner mindestens ebenso laut gebeten worden, endlich die Schnauze zu halten, war Ruhe. Jetzt beschäftigte sich nur noch eine Herde halbwüchsiger Türkenbengel damit, in den Stationen aus dem Wagen zu steigen, um sich am Schluss wieder reinzudrängen und wer es nicht schaffte, hatte verloren, musste noch etwas mitrennen und gegen die Scheiben bummern. Ich wünschte mir sehnlich ein Rambo-Kopftuch und eine Wumme. Schließlich musste ich mich am Schlesischen Tor mit drei rohen Eiern und einem in der Hitze weichgewordenen Stück Butter in einem Stoffbeutel zur Tür vorkämpfen. Irgendwie ging es. Ich musste ihn nur über den Kopf halten.
Auf der Schlesischen Straße kamen mir dann immer mal vier fünf Leute im Pulk entgegen, die gerade bei einem Fahrradverleih auf Hollandräder gestiegen waren und sich nun erstmal vorsichtig auf dem Gehweg warm fuhren.

Beim Herrn Lucky angekommen, empfingen mich entspannte Menschen, unter anderem der Herr Glam und Fräulein Nina, ein blühender Balkon und ein Glas Sekt auf Eis.
Es war ein wunderbarer, entspannter Nachmittag, der in den Abend und die Nacht übergingen. Die Spargel war delikat, die Hollandaise beschloss nach anfänglichem Zicken doch zu funktionieren. Ein Couchie aus San Francisco und der später eintreffende Graf ergänzten die Runde und wir führten Gespräche wie eine die Pest überwinternde Runde in einem Italienischen Renaissanceschloß.

2. Teil folgt