Aufrappeln

Diese Erkältung, die gerade in Berlin umgeht, ist echt die Hölle.
Es fing alles so harmlos an. Der Graf ignoriert den Winter mit steifer Oberlippe und hält daher auch die Anschaffung warmer Fellkledasche noch mal für ein Jahr für überdenkenswert.* Die fiesen Krankheitserreger aus der berüchtigten U8 machen sich aber nichts aus Haltung und so zog das Röcheln, Niesen und Husten hier ein.
Ich widerstand eine Woche mittels Hühnersuppe und Ingwertee, dann hatten sie mich auch. Das nächste Mal lasse ich diesen Kampf, er garantiert nämlich nur, daß sich der gerade einigermaßen genesene Graf wieder bei mir anstecken kann.
Die letzten 10 Tage brachte ich mit Fieber, Husten, Niesen, tauben Ohren, Rumhängen, Liegen und Schlafen zu. Ab und zu gab es mal eine unverschiebliche Termin-Insel, auf die ich mich mit ordentlich Paracetamol comp. gerettet hatte. (Fieses, aber wirksames Zeug, das man nur selten nehmen sollte.)
Der Graf arbeitete, kam krächzend nach Hause und schlief den Rest des Tages.
Ich dankte aber dem Wesen, dass diesen Laden in seiner Gesamtheit zu verantworten hat, dafür, dass ich mit der Kinderphase durch bin. Jetzt noch ein Kind mit Ohrenentzündung an der Backe, wie es früher normal war, das würde ich nicht mehr schaffen.
Heute gehts wieder einigermaßen.

*Es gibt sie, die leichte warme, qualitätvolle Lammfelljacke, die ihm gut steht. Da der Hersteller sie aber „Hartmut“ oder „Edwin“ getauft hat, mag der Graf nicht.

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Was werden wir morgen essen?

In meiner Kindheit hatte ich viele Bücher aus der Regenbogen-Reihe, das waren Wissenschaftsthemen für Kinder bearbeitet. Eines hieß „Auch Pflanzen haben Hunger“ und beschäftigte sich eigentlich mit Chemie in der Landwirtschaft. Die grundlegende Botschaft dieses Buches war aber: Was man im 19. Jahrhundert getan hat, um alle Menschen in Zukunft satt zu bekommen.
Sie wissen sicher, worauf ich hinaus will. Auf die Wahrscheinlichkeit von 7,5-75 g Pferd in einer Lasagne. Ich schicke voraus: Das ist der Versuch einer Analyse. Keine emotionale Brandrede für oder gegen etwas.
Aber erstmal bewege ich mich in einer anderen Zeit, nämlich im 18. und 19. Jahrhundert. Das, was ich jetzt ausführe, ist ein grober Abriss, den ich noch aus den Zeiten im Kopf habe, als ich Landwirtschaft studieren wollte. Das Thema ist nämlich hochkomplex.
Während bei Mißernten vor dem 17. Jahrhundert einzelne Landstriche und Dörfer, je nach Versorgungslage, dezimiert wurden, hungerten nun Städte voller Menschen, die auf die Versorgung einer großen landwirtschaftliche Einzugsregion angewiesen waren. Je konzentrierter die Stadtbevölkerung wurde, je dichter ein Land überhaupt besiedelt war, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Mißernten und Transport- und Lagerverlusten von Nahrungsmitteln und damit verbundenen Hungersnöten richtig krachte in einem Land. Zumindest, wenn die Wut und die Angst noch nicht von der Schwäche übermannt waren. Hunger läßt jeglichen Common Sense zusammenbrechen und ersetzt Gesetze, kulturelle und gesellschaftliche Spielregeln durch blanken Darwinismus. Sobald es große Gruppen von Menschen gibt, die nicht mehr als Selbstversorger leben können, weil sich die Produktion spezialisiert hat, ist es eine gesellschaftliche Notwendigkeit, deren Versorgung sicherzustellen.
Deshalb gab es von allen Regierungen unterstützte Forschung, um Ernteverluste durch Schädlinge und Lagerverluste einzudämmen und darüber hinaus den Ertrag der Felder zu erhöhen und nahrhafte und extrem preiswerte Nahrungsmittel zu finden.
Die Rumfordsche Suppe ist so ein Forschungsergebnis. Sie soll – je nach Bestandteilen – gruselig geschmeckt, aber satt gemacht haben. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein Franzose, der die (Selbst-)Versuchsreihe unternahm, Kuhfladen als Pastetenfüllung einzusetzen, was aber nicht von Erfolg gekrönt war.
Kartoffeln und jede Menge leistungsfähiger Getreidesorten machten das Rennen und lieferten neue Nahrungsmittel. (Zur Erinnerung: in Europa aß man vorher, je nach Region und wenn man wenn man nicht gerade König war, Korn-, Knöterich- und Hülsenfruchtbreie und dazu Frucht und Gemüse der Saison, wenig hartes, haltbares Brot, mitunter, aber selten, Fleisch und Fisch, getrocknet, gesalzen und gepökelt, Weißbrot, Braten und Kuchen waren Festessen) Die Menschen ernährten sich nun, in verbesserter Landwirtschaft, von gedüngten Feldern, hauptsächlich von Kartoffeln und Brot.
Darüber hinaus wurde die Konservierung perfektioniert, weg vom stark geschmacksverändernden und störanfälligen Trocknen, Pökeln, Räuchern und Salzen. Mit dem Pasteuerisieren wurde es möglich, komplette Gerichte in Dosen aufzubewahren. Diese waren ohne Verderb zu transportieren und zeitsparend zu erhitzen.
Weiter im Thema: Wenn eine Mutter aus irgendeinem Grund nicht stillen konnte und kein Geld für eine Amme da war und keine Kuh oder Ziege in Reichweite, starb das Kind. So einfach war das. Milchpulver reduzierte die Säuglingssterblichkeit. Das war der Urspung der Firma Nestlé.
Im 20. Jahrhundert kam, auf Grund der gestiegenen Felderträge, die nun auch zum großen Teil als Futter verwendet werden konnten und wegen der besseren Kühlmöglichkeiten die intensivierte Viehhaltung dazu. Es wurden spezielle ertragreiche Rassen gezüchtet, diese gegen Krankheiten geschützt und der Traum, daß auch arme Menschen Fleisch essen können, verwirklichte sich. Ja, Fleisch auf dem Tisch von Armen und Milch für die Kinder war neben einem ausreichenden Dach über dem Kopf ein demokratischer Traum. Nicht umsonst sind diese Elemente immer wieder Bestandteil politischer Kampagnen gewesen.
Denken wir das mal grob weiter: Bessere Ernährung mittels gleichbleibender Ressourcen, niedrigere Säuglingssterblichkeit, mehr Bevölkerung, die ernährt werden muss. Das ist wie mit dem Hamstern oder den Feldmäusen in fetten Jahren.

Die ethisch-zivilisatorischen Ansprüche unserer modernen Industriegesellschaft sind jung.
Hungersnöte von afrikanischem Ausmaß? Reichen 1 Million Tote und 2 Millionen Auswanderer (also Wirtschafts-Flüchtlinge) in Irland während An Gorta Mór?
Kinderarbeit in der Textilindustrie? Vor 150 Jahren in Deutschland gang und gäbe. Kinderhandel? Bis in die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Deutschland auf dem Land üblich.
Arbeiter, die in Fabriken schlafen? Ratet mal, wo „Made in Germany“ herkam. Krankmachende Arbeitsbedingungen, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten… Was wir heute in Richtung Indien und China anprangern (das Zeug aber trotzdem kaufen), war für unsere Urgroßväter und -mütter Realität.

Die in den 60ern geborenen Kinder sind die erste Generation, die in Deutschland ohne die Erfahrung von Hunger auf- und in den Nahrungsüberfluss hineinwächst. Die Generation, zu der auch ich gehöre. Trotzdem wurde ich von Menschen sozialisiert, in denen die Angst vor Hunger und Mangelversorgung noch tief steckte. Für meine Mutter gab es nichts tolleres als Kondensmilch und ein paar Stücke Würfelzucker. Meine Omas, je nach Typ, betrieben entweder absurde Vorratswirtschaft (Ich dachte, eigentlich ich hätte von den drei fünfzig Jahre alten Weck-Gläsern Butterschmalz und den zehn Stück Butter im Kühlschrank, die wir bei der Haushaltsauflösung von KKM fanden, schon mal geschrieben.) oder halfen mir mit für mich absurden Tips: „Iß Kartoffeln, das ist billig!“ „Hebe alte Rinden auf, da kannst du mit sauer gewordener Milch Brotsuppe machen!“ etc.
Ich lachte nur darüber und hatte tatsächlich nur dreimal im Leben das Problem, kein Geld für Essen zu haben, so dass ich ernsthaft schauen musste, wie ich bis zum nächsten Monatsersten hinkomme. Gehungert habe ich nie, sondern billige Sattmacher vom letzten Geld gekauft.
Wir waren allesamt, die wir uns kennen, wahrscheinlich nie in der Situation, außer wenn wir auf Diät oder beim Fasten waren, vor Hunger nicht einschlafen zu können oder unsere hungrigen Kinder trösten zu müssen.

Nach dem 2. Weltkrieg hat sich die Familienstruktur allmählich tiefgreifend geändert. Die an einem Ort zusammenlebende Großfamilie zersplitterte, die Frauen machten nicht mehr so viel schwere Hausarbeit, auch hier zogen Maschinen ein.
Ich habe irgendwann mal auf Arte eine Reportage über die Ernährung einer Sardischen Familie gesehen. Das hat mich tief beeindruckt, weil mir nie klar war, wie eine ländliche Produktionsfamilie kooperierte. Ein Sohn hatte ein kleines Fischerboot und damit Fisch und Meeresfrüchte, der nächste Schafe und Bienen, also steuerte er Käse, Fleisch und Honig bei. Mutter und Vater bewirtschafteten einen Garten und etwas Weinberg, für Wein und Gemüse war also auch gesorgt. Die Nonna kochte. Brauchte man nur etwas Reis und Mehl und das Essen war der Himmel auf Erden. Große Töpfe, viele Portionen und Esser, eine auf das Zubereiten von Essen spezialisierte Person. Toll. Wenn man aber schaut, wie archaisch die Sarden auch heute noch leben, hat das seinen Preis. Eine iPhone ist da meist nicht drin.
Zurück zur deutschen Großfamilie. Vom konservativen Roll Back im Westen nach dem Krieg bis zu modernen Single- und Alleinerziehenden-Haushalten passierte eine riesige Veränderung. Meine Mutter und die beiden Ex-Schwiegermütter waren Vertreterinnen der Frauengeneration in Ost und West, die lieber arbeiten ging, statt Heimchen am Herd zu spielen. Sie waren stolz darauf, nicht kochen zu können oder hatten sich auf schnelle kleine Gerichte spezialisiert. Man ging am Wochenende essen und machte in der Woche Fertiggerichte warm. Darüber hinaus: Die hohe Verarbeitungsstufe von Zutaten garantierte, daß keine Frau, wenn sie es nicht wollte, über Gebühr in der Küche stand.

Seit den 50er Jahren entwickelte sich neben anderen Industrien eine Landwirtschafts- und Lebensmittelindustrie. Das Ziel, mittels Intensivierung höhere Ergebnisse zu erhalten, war mehr als erfüllt. In Europa und Amerika muß kein Mensch mehr hungern, es sei denn, er stellt sich richtig blöde an. Da in Europa und Nord-Amerika die Bevölkerung nicht mehr wächst, sind auch Grenzen im Absatz erreicht.
Das Ziel, Absatzmärkte in Asien und vor allem Afrika zu erschließen, ist nicht so ganz aufgegangen. Afrika hat ganz andere Probleme und ist zu archaisch, um hochveredelte Nahrungsmittel gegen Geld zu kaufen und damit umzugehen. Wer kein Wasser hat, kann kein Milchpulver anrühren. Teile von Asien gehen traditionell anders an Nahrung heran, da sie schon immer wenig Raum für Ackerbau und viele Menschen hatten. China kann ein Markt der Zukunft sein, sagt man doch den Chinesen nach, sie würden alles essen (das ist nur leicht ironisch gemeint).
Problem der Nahrungsmittelindustrie ist, wie immer im Kapitalismus, die Technologien und Fabriken sind einmal da. Also muss Bedarf geweckt oder erhalten werden, auch wenn die Zahl der Interessenten nicht mehr wächst. Denn Wachstum ist noch immer alles.

Ich kann sehr bodenständig kochen, meine Oma und meine Urgroßtante haben mir einfache Arme-Leute-Küche beigebracht. Die großen Braten und raffinierten Gerichte habe ich erst später gelernt. Aus meiner Geschmackserfahrung, die ich sicher mit vielen teile, kann ich sagen, einfaches, selbst gemachtes Essen schmeckt erst einmal viel schlichter und langweiliger als Industrienahrung. Denn diese ist in Geschmack, Farben, Mundgefühl und Texturen hochgradig an unsere reflexhaften Geschmackslüste angepasst, da ist ganz viel süss, würzig, salzig, kau-ig, knusprig. Laff oder gar sauer und bitter kommen nicht mehr vor bzw. werden überdeckt.
(Edit. Das fiel mir vorhin noch ein, als ich in einer endlosen Besprechung saß:)
Das Problem der preiswerten und nahrhaften Produkte war im 19. Jahrhundert oft, daß sie nicht schmeckten (die Rumfordsche Suppe war berüchtigt dafür) und/oder hart, faserig, labberig, geschmacklos waren. Man ging parallel daran, Hilfsmittel zu entwickeln, die billige Produkte schmackhaft und besser kaubar machen sollten, damit Menschen ausreichend davon aßen. Alles wurde süßer, Margarine schmeckte nach Butter, Würzextrakte, wie Maggi entstanden, die schlaffe Nudelsuppen nach Fleisch schmecken ließen, etc.
Ein Teller Gemüsesuppe und eine Salami-Tiefkühlpizza zum gleichen Preis sind ein Unterschied wie Rauf-Rein-Raus-Sex und Porno, machen wir uns nichts vor.

So, langsam habe ich mich zur Pferdelasagne vorgearbeitet.
Wer seine Prioritäten so setzt, daß er nur 10% seine Einkommens für Nahrung ausgibt, genauso viel, wie für Freizeit und Unterhaltung, muss die Konsequenzen dafür tragen. Die billigen Nahrungsmittel entbinden uns vom Führen eines Haushaltsbuches, vom vorausschauenden Wirtschaften und Selberkochen. Diese Form von Fähigkeit und Bildung konnten wir gleichgeschlechtlich verkümmern lassen. Wir können uns von der Hand in den Mund leisten.
Das konfrontiert uns aber damit, dass wir die Augen vor den Tatsachen verschließen, beschissen werden und uns bescheissen lassen. Denn der gesunde Menschenverstand sagt jedem, dass in einer 2 Euro-Lasagne kein vernünftiges Fleisch enthalten sein kann. Und ganz ehrlich, obwohl ich Pferd nicht esse, das ist wohl nicht das Schlimmste. Huhn oder Rind mit Federn, Schnabel, Därmen, Krallen und Hufen und Haaren durchgedreht und zu Surrogatfleisch geformt, das ist widerlicher. Dann esse ich lieber Tofu.
Die Argumentation, daß sich nur die untere Mittelschicht wertvolle Nahrung leisten könne, kann ich so nicht teilen. Es ist in den meisten Fällen keine Frage des Geldes. Man kann sich von wenig Geld gut ernähren, wenn man es denn gelernt hat und bereit ist, Nahrungsmittel nicht nur nach dem Lustprinzip zu wählen.

Man muss also nicht mehr viel tun, um richtig satt zu werden.
Seit einigen Jahren fällt mir auf, daß eine Seuche über Amerika und Europa hergefallen ist: Man muss nur mal Straßen-Fotos aus den 70ern anschauen und mit heute vergleichen. Der Anteil der wirklich krankhaft fetten Menschen und vor allem Kinder ist höher als früher. Ich meine damit nicht das eine lustige dicke Kind in der Gruppe, das immer Hunger hat und ich meine auch nicht dicke Nerds und Landpomeranzen, Matronen oder angespeckte Ehemänner bzw. Leute, die es tatsächlich „an den Drüsen“ haben. Sondern ich meine Menschen mit metabolischem Syndrom, die sich schlecht oder recht mit wirklich extremem Übergewicht durch die Welt schleppen, nicht mehr Weiblein noch Männlein sind und eigentlich nur durch die moderne Medizin eine akzeptable Überlebensrate haben, die ihnen mit künstlichen Knien, Rollstühlen, Magenverkleinerungen, Insulin und fehlschlagenden Diäten hilft und kräftig daran verdient.

Irgendwas ist in unserem Essen, das etwas mit uns Menschen macht. Und irgendwas ist in unserem Verhalten, es in den meisten Fällen zu akzeptieren, den einfachen Weg zu gehen. Aber keiner zwingt uns, diesen Dreck zu kaufen und zu essen. Was folgern wir daraus?

Die Tage gerinnen

zu einer amorphen Masse. Eindrücke bis drei Uhr nachts. Zwischendurch essen, mal hinlegen. Ideen, Pläne, Koordination. Freunde, Klienten, neue Bekannte. Neues zu lernen, Altes refreshen, Querverbindungen weben.
Morgens lange Startzeit, der einzige Moment, wo noch Entspannung da ist.
Bälle zuwerfen. Gesehenes triggert. Die Welt öffnet sich. Das Leben spannt die Flügel.

Den Geburtstagsfestartikel muss ich erst mal nach hinten schieben. Schade! Es gibt doch noch von Herrn Glämmerdicks Fall in den Rosmarin zu berichten, von Wodka Pa-Pa-Partisan, der aus Iggy Pop in meinen Kopf Billy Idol machte und davon, dass der Besucheransturm am Anfang so heftig war, dass ich nicht mehr in der Lage bin, die mir innerhalb einer halben Stunde in die Hand gedrückten Geschenke nach dem Auspacken am Tag drauf einer schenkenden Person zuzuordnen. Shame on me!

Aber wisst ihr? Ich bin dankbar und glücklich, dass es euch alle gibt. Und ich bin glücklich über dieses Leben. Über die Waage zwischen Reife, Neugier, Gelassenheit, Nichtmehr und Schonwieder.

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Einkaufen in Minsk

Nachdem meine Freundin LaPrimavera zum ersten Mal ihren lange verschollenenen Vater und ihre Halbgeschwister in Weissrussland besucht hatte, entstand dieser Text, für den ich Gastgeberin bin:

Supermarket

Kirchen, Feiern, Pelz- und Trödelmärkte hatten wir hinter uns, vor uns nur noch den Einkaufszettel für ein exorbitantes Menü, mit dem wir uns zum Abschied bei unserer Gastgeber-Großfamilie bedanken wollten.

Dicke Schuhe, dicke Jacken – so stapften wir durch den November. Der Supermarkt lag zwar um die Ecke, diese jedoch am Stadtrand von Minsk und unsere Russischkenntnisse waren schon im letzten Jahrtausend verschütt gegangen. Sergej, der schlecht Deutsch, gut kochen und noch besser tragen konnte, wollte uns beistehen.

Sonderlich überrascht waren wir nicht. Lediglich die niedrigen Preise waren uns fremd. Was wir nicht lesen konnten, erkannten wir an Logos und Bildern wieder und bis zum Gewürzregal würde Sergej überflüssig sein. So dachten wir.

Seinen ersten Einsatz hatte unser Begleiter dann allerdings schon am Gemüseregal. Selbst bedienen sich hier nur die Diebe. Und endlich, nach einer Viertelstunde, war es Sergej gelungen, einer autorisierten Bedienung habhaft zu werden.
Wir harrten indessen aus vor Kraut, und Rüben, … die auslagen wie Kraut und Rüben. Dazwischen hatten sich ein paar ausgefranste Trauben verirrt, mit Beeren in allen Stadien der Reife: Rosinen, Edelfaule zum Selbstkeltern, Brei und Saft. Die Essbaren fielen nicht weiter auf.
Die Viertelstunde hatten wir genutzt, das Menü umzuplanen.
Sergej mussten wir nun schonend beibringen, dass inzwischen alles Obst und Gemüse – außer Kartoffeln – von der Liste gestrichen war; und der Verkäuferin, dass sie die erdigen Äpfel nicht über alle bisherigen Einkäufe schütten solle.
Am Ende standen alle auf der Siegerseite: Er mochte ohnehin kein Grünzeug, Sie schüttete nach Anweisung und wir hatten die Erdklumpen nicht über, sondern neben Knorr und Maggi. Die Welt war in Ordnung.

Wir rollten sammelnd voran und hinterließen dabei eine Spur in russischer Erde. Offensichtlich waren wir nicht die Einzigen, denen der Einkaufswagen als Rüttelsieb diente.
Die Einzigen waren wir dann allerdings vor dem Getränkeregal. Für russische, selbst für weißrussische Verhältnisse kam uns das erstaunlich übersichtlich vor:
Die wenigen Weinflaschen an der Rückwand, die wahrscheinlich nicht nur von außen vor Süße klebten, ignorierten wir. Davor defilierten zehn Bierflaschen, verteilt auf fünf Sorten und zwei Meter. Sie erinnerten augenfällig an den fernen Osten: „Uralskoje“ und Schlimmeres sprang uns in kyrillischen Lettern an. Für ein Experiment war uns der Einsatz von umgerechnet 3 Euro pro Flasche dann doch zu hoch.

Der Berg in unserem Korb wuchs. Sergej riet und tat, was in seinen Kräften stand, während sich unsere Kraft an permanenter Umdisponierung beweisen musste. Als routinierte Menüköche blieben wir gelassen und von Gang zu Gang fühlten wir uns weltoffener.

Am Kühlregal wollten wir das final unter Beweis stellen. Den einzigen Import-Joghurt straften wir mit Verachtung und langten dafür tüchtig zu über 20 Regalmeter Neuland. Die unspektakulären Verpackungen versprachen Natur pur statt der vertrauten Überdosis Chemiefabrik.
Ob wir wirklich soviel Mayonnaise brauchen würden? Sergej war skeptisch. Mayonnaise? Während wir wieder zurückstapelten, bekamen wir eine vage Vorstellung davon, wie die Matronenmaße der Russinnen zustande kommen.

An der Kasse dann – endlich – standen wir vor einer echten Offenbarung. Kein Whisky zwar, aber die Wodka-Pracht entschädigte für alle bis dahin vermissten Flaschen. Meterhoch, meterbreit und kästenweise türmte sich hier das Nationalgetränk, als Grundnahrungsmittel offenbar subventioniert, denn 3 Euro hätte auch eine Flasche Bier gekostet.
Unsere letzte Umplanung wurde zur leichtesten. Im Verhältnis Eins zu Eins tauschten wir unsere Vision mit der Wirklichkeit, und statt mit einer Flasche Whisky und fünf Zigarren krönten wir den Einkauf mit einem Päckchen Zigaretten und fünf Flaschen Wodka.

Sergej war von der ganzen Prozedur offensichtlich erschöpft. Statt wie bisher zu ulken wurde er schweigsam und verlor sich in der Betrachtung eines Mannes, der
zwischen Kasse und Ausgang telefonierte. Dann entfernte er sich unmerklich von uns, drückte sich an der Kasse vorbei und ließ uns irritiert zurück. Inzwischen waren weitere telefonierende Männer, alle in der gleichen Kleidung, aufgetaucht. Die Schlange hinter uns drängte. Wir mussten den Korb entladen und gleichzeitig mit ansehen, wie unser Beschützer den uniformen Männern in die Arme lief. Während wir das Band bestückten, bangten wir plötzlich um weit mehr als um unser Menü …

Mechanisch verlangte die Kassiererin Rubel und wir hatten in der Tat alle Hände voll zu tun, allein mit den Tausendern und Abertausendern zurecht zu kommen.
Wir waren mit Wechselgeld und Bandabräumen vollauf beschäftigt, als Sergej plötzlich wieder neben uns stand und wortlos zur Eile drängte. Die Uniformierten telefonierten inzwischen wilder als zuvor und unter ihren finsteren Blicken entkamen wir – schleppend und schweigend, doch immerhin zu dritt und lebend.

Erst in sicherer Entfernung vom Supermarket wurde Sergej wieder gesprächig: Er hätte schon bald mitbekommen, was sich da anbahnt und sei auf die Herren Security zugegangen um ihnen zu sagen, dass wir Deutsche seien. Diese hätten daraufhin den angeforderten Einsatzwagen fluchend zurückbeordert.

Mit Nerz und Zobel bekleidet, hätte man uns und den Korb ignoriert, in normaler Abendkleidung zumindest uns. Doch gekleidet wie Underdogs? – Immerhin hätten wir gerade für drei Monatsgehälter eingekauft.
Wir sahen uns an.
Dann waren also wir die Verbrecher, vor denen wir uns gefürchtet hatten? Eigentlich hätten wir jetzt schallend lachen müssen. Aber eben nur eigentlich.

Das Lachen hat der Wodka zurückgeholt.
Und wenn nur die Hälfte der Mayonnaise im Korb geblieben wäre, hätten wir mit Sicherheit das Doppelte vertragen.

30.09.09

Veröffentlicht unter Exkurs