Bilderbuchsonntag

An Abend bevor wir zum Helenesee fuhren, gabs Bratkartoffeln, Matjes und grüne Bohnen und ich zauberte aus zwei Hand voll roter Johannisbeeren, die mir roh gegessen zu sauer waren, eine Tarte:
Johannisbeertarte
Der Nachbar schräg über uns feierte, auf dem Balkon stand eine Herde Menschen, die alberte und witzelte und ich wunderte mich, dass dieser ältere Herr so junge Menschen zu sich einlädt (also was heißt jung, das klang so wie bei uns). Als ich diskret rüberlinste, wer da so stand, sah ich: Die waren alle zwischen 40 und 50, unser Alter, etwas jünger vielleicht. Und als ich am nächsten Morgen den Nachbar mal genau ansah – der ist so alt wie ich, Ende 40. Ja, das ist so eine Sache, mit Selbst- und Fremdwahrnehmung…

Der Graf und ich starteten am Sonntag morgens gaaanz langsam, stiegen um 14 Uhr ins Auto und quälten uns über Biesdorf (Dauerstau wegen Straßenbauarbeiten) aus der Stadt raus in Richtung Osten. In Müllrose verließen wir die Autobahn und fuhren in Richtung Schlaubetal, denn da gibt es einen Einstieg in den Wald in Richtung Helenesee. Gab es. Es liegen wieder ordnungsgemäß riesige Feldsteine davor, damit nicht Krethi und Plethi durch den Wald bis ans Wasser fahren.
Nebenbei, es ist als sporadische Besucherin wohl zu merken, dass der Betreiber des Badevergnügens, die Helenesee AG, mittlerweile zu spüren bekommt, dass es mittlerweile in Sachsen ähnliche Seen gibt. Der Hauptstrand ist selbst zu Ferienzeiten nur moderat gefüllt. Klar, wenn Onz-Onz-Techno-Wochende ist, treten sich die Leute tot. Aber nicht wegen des Sees. Die Anwohner haben denen (das heißt, ihren von ihnen gewählten Volksvertretern) diese Verpachtungsaktion, die in den 90ern begann, sehr übelgenommen. Der erste, der hier am Werke war, hat fast den ganzen See mit einem Riesenzaun umgeben und überall Kassenhäuschen aufgestellt. Drinnen war wohl mal einer der größten Campingplätze Deutschlands. Aber s.o., die Sachsen, die früher nur Kiesgruben, dreckige Flüsse und Tonstiche hatten, blieben weg. Und so ist der Freizeitkommerz nicht sehr profitabel, dadurch aber erträglich und die Ureinwohner ignorieren scheinbar das Urlauber-Reservat und weichen an die lauschigen Stellen im Wald aus.

Wir fanden einen Parkplatz (Einzelheiten gibts hier nicht, sorry, das soll hier keine öffentliche Empfehlung sein, wie man in mein persönliches kleines Paradies kommt) und eine sandige Kuhle zum Ablegen der Sachen und begannen zu schwimmen.
Ich kenne den See seit seinem 10. Lebensjahr. Als er noch aussah wie ein gefluteter Tagebau, Braunkohlenstückchen im Sand lagen, seine Ränder wegbrachen, der Wasserspiegel stetig stieg und junge Kiefern überschwemmte, denen man beim Schwimmen ausweichen musste. Dieses klare Wasser hatte ich erst bei kanadischen Bergseen wiedergesehen, durch Sand gefiltertes Grundwasser, dazu Regenwasser, keine weiteren Zuflüsse und lediglich magerer Kiefernwald und keine Intensiv-Landwirtschaft in unmittelbarer Nähe.. Wenn die Mittagsonne schien und der helle Sandboden das Licht reflektierte, hatte es Sichttiefen über 10 Meter. Der See war voller Barsche, Hechte und Plötzen und ab und zu gab es lange Wasserpflanzen. (die hat natürlich mal jemand ausgesetzt)
Mittlerweile hat sich das Biotop belebt und es gibt Faulschlamm und Schilf. Aber das Wasser ist noch immer wunderbar klar.

Wir schwammen drauflos und im Gegensatz zum letzten Schlachtenseeschwumm fiel es mir leicht. Das Wasser war wie Seide, es war weder zu kalt, noch zu warm und mir war die fehlende Sonne sehr angenehm. (der Graf vermisste sie, ihm war zu kalt) Was die Distanz betrifft, war ich eher vorsichtig. Der See und das Umland haben wenig Orientierungspunkte, man verschätzt sich so schnell wie in den Bergen mit den Entfernungen. Wir schwammen eine geschätzte Dreiviertelstunde und drehten dann wieder um. Den Rückweg blieben wir am Ufer, denn die Wolken türmten sich etwas gewittrig auf, fand der Graf.
Ich bekam beim Anblick der Badenden einen meiner seltenen heftigen Ostalgieanfälle. Einfach nur nackte, badende Leute, die Spaß hatten. Kein „Boah, die Titten springen beim Rennen, was ne Schlampe!“, kein „Oh Gott! Sind meine Bauchmuskeln definiert genug?“, kein „Ich bin mit Kleidergröße 40 zu fett, um am Leben teilzunehmen!“, kein „Ein männliches Geschlechtsteil! Wi-der-lich!!“
Verklemmte Geilheit ist ein Westimport.

Nach dem Schwimmen ging es mir immer noch sehr gut. Diesmal blieben Erschöpfung, Angst und Frieren aus. Das „Ich fühle mich einfach gut!“-Gefühl früherer Zeiten kam zu Besuch.
Wir machten auf der Rückfahrt noch eine Stunde Zwischenstop bei meinen Eltern. Ich rief erst kurz vorher an, um einen Riesenbohei und zu große Erwartungen zu vermeiden. (Ist das in anderen Familien auch so? Bei uns ist es üblich, wenn die Verwandten älter werden, sie oft spontan zu besuchen, um zu vermeiden, dass sie Tage vorher Vorbereitungen treffen, einen Stunden vorher erwarten und eine halbe Stunde Verspätung oder ein „Du, ich kann jetzt nicht so viel essen!“ eine Katastrophe darstellen.)
Ich hatte die Johannisbeertarte eingepackt, aber bei den alten Herrschaften war das Abendbrot schon abgeschlossen, um 18:30 Uhr, das war früher bei den beiden nienienie so.
Beim Anruf hatte ich erstmal die Stimmung gescannt. War meine Mutter wieder mal krank? Grantelte mein Vater wieder mal im Keller rum? Die Aura lebensfrohen Optimismus‘ haute ich fast um. Der Graf und ich aßen den Kuchen, wir plauderten und ich war wirklich völlig von den Socken. Da saßen zwei entspannte alte Leute, die ein moderates Abendbrot eingenommen hatten und beteuerten, sie wären völlig satt (in unsrer Familie ist man Streßfresser und -trinker, muss man wissen). Im Garten, wo ich vier Wochen vorher eine kleine Initialzündung gegeben hatte, waren die Arbeiten weiter gediehen. Die Dauerbaustelle war weg. Das Hüttchen war sauber und aufgeräumt (muss man auch wissen: meine Mutter sieht ihr Heil nicht in Housekeeping, dafür hat sie nicht studiert).
Wenn das nicht Zufall war, dann hat sich mit Lottes Heimgang viel zum Guten gewendet. Was Wunder. Ist doch mein Vater nicht mehr dem Dauervorwurf ausgesetzt, der störende Vollpfosten zu sein, egal, was er tut, und meine Mutter ist die Bürde der bedürftig-kranken, besondere und im Maß unerfüllbare Aufmerksamkeit beanspruchenden Mutter los, die sie seit ihren Kinderjahren begleitete.
Wir haben alle lange Ehen und familiären Zusammenhalt als Ideal. Aber zu begreifen, wie viel Energie manche dieser Konstellationen kosten, wie viel verlorene, verdorbene Lebenszeit sie bedeuten, das ist bitter.

Auf der Rückfahrt nach Berlin griff der Liebe Gott mal in die Kiste  für visuelle Spezialeffekte. Gewitterwolken, Schönwetterwolken, einfach-so-Wolken, blauer Himmel und Sonnenuntergang machten dieses Bild:
Augustabend
Der Abend war kurz, ich fiel sehr schnell todmüde ins Bett und auch dem Grafen ging es nicht anders. Er sah sich nicht einmal mehr in der Lage zum Burger- oder Falafel essen das Haus zu verlassen, zu anstrengend.

Familienfrieden

Es war eine gute Beerdigung. Vor der Urne stand eines der wenigen Fotos, auf denen Oma Lotte lächelte. (Das hatte sie seit der Jungmädchenzeit nicht mehr getan, auf Fotos gelächelt.) Meine Mutter hielt eine sehr schöne Rede. Eine grau getigerte Katze folgte für eine Weile unserem kleinen Trauerzug, sie schaute wissend herüber. Es hat sich vollendet.

Ich wunderte mich, dass Pfleger aus dem Heim gekommen waren. Meine Mutter meinte: „Aber die mochten sie doch so sehr, sie war doch so lieb!“ Erst schob ich das auf massiv einsetzende Verklärung ihrerseits. War doch meiner Mutter Lottes Schimpfen und Wüten gegenüber dem Pflegepersonal sehr peinlich gewesen. Dann fragte ich noch einmal nach.
Charlotte musste in den Wochen vor ihrem Tod eine starke Veränderung durchgemacht haben. Woran das lag, kann ich nur spekulieren.

Vielleicht an den Wohnbedingungen? Seit sie verheiratet war, wohnte sie in modernen, Wohnungen für Kleinfamilien und Alleinlebende. Das Siedlungshaus der 30er, der 60er, der Plattenbau. Sie alle waren klein, praktisch geschnitten, hell und hatten große Fenster und niedrige Räume. Als sie hinfälliger wurde, zog sie in ein Haus mit betreuten Wohnungen. Für unsere Generation ein Traum. Ein denkmalgeschütztes Bürgerhaus aus dem frühen 18. Jahrhundert, sehr schön wieder hergerichtet, zwei Steinwürfe von der Wohnung meiner Eltern entfernt gelegen. Sie bewohnte dort ein zwei Zimmer mit Blick auf den Anger, mit hohen Decken und kleinem Balkon. Es gab einen sehr schönen Remisenhof und im Erdgeschoß einen Gemeinschaftsraum. Kurz nach dem Umzug wurde sie schwer depressiv. Sie weigerte sich, an Gemeinschaftsunternehmungen teilzunehmen und ging nicht vor die Tür. Ein paar Jahre später konnte sie nachts nicht mehr allein bleiben und zog ein paar Häuser weiter. Das ganze Viertel wurde in der gleichen Epoche gebaut. Diesmal wohnte sie mit Blick auf den Remisenhof in einem hübschen kleinen, aber im Winter ziemlich düsteren Zimmer. Sie saß oft stundenlang im Dunkeln – man müsse schließlich Strom sparen.
Die Einrichtung war als WG konzipiert, mit Gemeinschaftsklos und -bädern und einer Küche auf jedem Stockwerk. Die Insassen waren dafür aber zu hinfällig. Deshalb nutzte niemand die Küche zum Kochen, die Mahlzeiten wurden in den Gemeinschaftsraum angeliefert. Es gab einen sehr komfortablen Betreuungsschlüssel, eigentlich war immer etwas los: Basteln, Backen, Singen, Zeitung lesen, Vorlesen, das Personal war sehr liebevoll und kreativ. Aber Lotte weigerte sich mit Händen und Füßen, in diese Gemeinschaft zu gehen und wurde bitter böse und wütend.
Da die WG nicht kostendeckend geführt werden konnte und aufgelöst wurde, musste sie kurz vor ihrem Tod noch einmal umziehen. In ein Pflegeheim in einem Plattenbau mit großen Fenstern und hellen kleinen Zimmern mit Bad, krankenhausähnlich. Plötzlich veränderte sie sich. Sie wurde freundlich, offen und fast gesellig. Was sie in den letzten Jahren nie getan hatte, holte sie in den wenigen Tagen, die ihr bleiben, nach – sie nahm sich ihren Rollator und war im Haus unterwegs. Sprach mit dem Personal, erzählte Geschichten, ging zur Sportstunde. So wie sie es früher so oft im Krankenhaus getan hatte, wo sie die nie klagende, starke, pflegeleichte Patentin war.

Was ich daraus folgere? Man kann alte Bäume zwar verpflanzen, sollte ihnen aber von der Umgebung her nicht zuviel Veränderung zumuten. Geübte Lebensformen gehen immer. Wer sein Leben lang allein, in der Kleinfamilie oder als Paar gelebt hat, versteht keine WG. Das können nur Althippies und Schweizer Mägde und Knechte (danach kann man bei Spiegel online googlen). Das scheint auch Lebensräume zu betreffen. Wer sein Leben lang im eigenen Haus mit Garten oder in der großen Altbauwohnung gelebt hat, geht im Plattenbau ein wie ein Primelpott und – siehe hier – umgekehrt. Wer modernes Wohnen gelebt hat, geht nicht mehr hinter meterdicke historische Mauern.

Es gibt noch eine zweite Interpretation: Schicksalsergebenheit. Für mich war klar, sich zu wehren und Widerstand zu leisten, gehörte zu ihren Leben. Sie hat sich 20 Jahre gegen eine schwere Krankheit gewehrt. Irgendwann sagte ich auch mal zu meiner Mutter, als sie sich wieder über einen Ausbruch beklagte: „Solange sie das tut, ist sie noch fit. Wenn sie friedlich wird, hat sie sich ergeben.“ Scheinbar war es so.