12.8. 10

Ich fuhr am Morgen kurz entschlossen zu einem Laden, der Propangas und Zubehör verkauft. Die Herren waren sehr freundlich und mein Ansinnen war ihnen nicht unbekannt. Mit Montagehinweisen hielten sie sich allerdings zurück (kann ich auch verstehen), hauten mir das Herd-Anschluß-Set auf den Tisch und ich nahm es erst einmal mit.
Dann fuhr ich zu IKEA. Ich brauchte noch einiges an Ordnungssystemen (ich liebe Kisten und Kästchen zum Verpacken von Gekruschel) und wollte mir das Gaskochfeld noch einmal ansehen.
Zuerst fand ich es nicht, denn es war nicht mehr in der Ausstellung. Eine nette Verkäufern kam mit und zog es aus einem Schiebeschrank. Es ist schon frappierend, wie man die Realität im Kopf verdreht, ich hatte es gut 20 cm schmaler in Erinnerung.
Während wir disktierten, kam ein Fünfjähriger von hinten auf uns zugerast.
„Mama, Mama kuck mal!“, zog es die Schublade über der unseren auf.
Ich schob die Schublade zurück: „Laß uns mal bitte.“
Von hinten kam die Stimme der Mutter mit leicht angepißtem Unterton: „Marvin, du merkst doch, du störst hier!“
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf: „Ich versteh das nicht. Es ist völlig leer, ich bin erst seit 10 Minuten im Dienst und schon geht das los. Können die nicht mal ne halbe Minute warten?“
So hatte ich das noch nie gesehen. Bei einem IKEA-Besuch versuche ich die Familienmonster mit ihre fehlerzogenen Blagen weiträumig zu umgehen, die Kinderzimmerabteilung durchquere ich daher fast mit geschlossenen Augen. Die Verkäufer sind ihnen in diesem Laden chancenlos ausgeliefert. Sie dürfen weiter reden, wenn das Kind mal nichts zu sagen hat und müssen sich in Geduld üben, wenn die lieben Kleinen gerade etwas unheimlich spannendes erkunden. Natürlich sollen sie nebenbei schnell und dienstfertig beraten und verkaufen. Nichts für mich.
Tja Marvin, heute hast du gerade etwas unheimlich wichtiges gelernt: Es ist gut, zu merken, wenn man stört. Glaub mir, es ist besser, das jetzt zu erfahren, als in der Schule von einem völlig entnervten Lehrer, der mit 10 solchen Egomanen und 15 Kindern, die nicht deutsch können, auf einmal konfrontiert ist. Oder von einem Mitschüler, der dich in die kindliche Hackordnung des Schulhofs einnordet.
Mama regt sich schon wieder ab. Klar hat sie Angst, daß sich Tag für Tag die Kosten für deine Therapie erhöhen oder die Gefahr, daß du an schlimmen Allergien erkranken könntest, steigt. Schließlich bist du für dein Alter schon wahnsinnig weit und super begabt. Unverständlich, warum die ignorante Umwelt diese hervorragenden Anlagen zerstört.
Ich sah ihn dann unten noch mal. Marvin raste durch die Gegend, Mama hatte Finja an der Hand und versuchte den leicht genervten Papa von der Notwendigkeit einer Anschaffung zu überzeugen.*
Oh, what a wonderful world!

Zurückgekehrt, begann ich meine Schätze aufzubauen. Das ist das schöne an diesem Sachen, daß sie einem Bastel-Legastheniker wie mir per akkurat befolgter Gebrauchsanweisung Erfolgserlebnisse verschaffen.
An frühen Abend strich ich auf dem Balkon mein Bett mit Lasur, als ein Gewitter begann. Der Geruch von Leinöl und Balsamterpentin mischte sich mit dem des sprühenden Regens. Ich mußte mich beeilen, wenn ich nicht innen weiterstreichen wollte. Irgendwie schaffte ich es, wenn auch mit einigen Wasserflecken.
Dann fuhr ich wieder zu IKEA, ich hatte prompt nach den falschen Kästen gegriffen und durfte umtauschen. Mich ritt der Teufel, ich kaufte das Kochfeld. Ich würde es nicht quer sondern längs installieren und zur Not kann ich es noch zurückgeben.
Nun hatte ich auf 5 Quadratmetern eine Küche zusammengestellt, von deren Ausstattung ich immer geträumt hatte. (Mal abgesehen vom Geschirrspüler, den das Kind bekommen hat.) Es ist nur folgerichtig, daß in Zukunft eine Menge geselliger Treffen hier, in einem Einzimmerbüro mit Bett, stattfinden werden und nicht im Schöner-Wohnen-Paradies in C-Burg, in dem jedes Messer nur in seiner ursprünglichen Bestimmung verwendet werden darf.
(Merke: Fisch auf keinen Fall mit dem handgeschmiedeten sardischen Fleischmesser schneiden!)

Den Abend verbrachte ich mit dem Schluß von Terror. Was für ein eigenartiges Buch. Ich bin ja nicht so ein Fan von Gruselliteratur, obwohl ich in zartem Alter Edgar Allan Poe geradezu verschlungen hatte. Mich faszinierte die für dieses Genre ungewöhnliche Komplexität, die verschiedenen Erzählperspektiven und die unterschiedlichen Sprachen, die Simmons dafür findet. Zuerst war ich genervt, daß er die ohnhin schon dramatische Situation zweier im Eis ausweglos eingeschlossener Schiffe und ihrer Besatzungen noch einmal mit einer unbegreifbaren Gewalt von außen verschärft – als wären das schlimme Wetter, die Kälte und die in brutalen Standesunterschieden zusammengepferchten Menschen nicht ausreichend für eine Katastrophe. Die Lösung offeriert er sehr spät, im Einswerden des Helden mit der feindlichen Natur und ihren Bewohnern. Ich mochte dieses utopische Happy End sehr.
Außerdem genoß ich die mannigfachen Zitate romantischer Schauerliteratur. Selbst der weiße Schatten aus Arthur Gordon Pym taucht auf, der mich als Kind nächtelang verstört hatte.
Da ich nicht englisch lese, mochte ich seit langem einmal wieder eine Übersetzung. Denn nichts ist schlimmer, als halbverstandene Begriffe, die irgendwie ins Deutsche hinübergehievt werden oder – noch schlimmer – wenn das Gerippe des englischen Satzbaus überall durchscheint. Jede Figur hatte ihre dem 19. Jahrhundert angemessene deutsche Sprache gefunden. Hut ab vor dieser empathischen und klugen Übersetzung, Friedrich Mader.

*Ich hatte ja gehofft, daß die Prenzelberger Schwaben für eine Weile wegen Verstrahlung in Quarantäne kommen.

Früher

war vieles besser. Public Viewing war improvisiert und rotzig. Ein paar Typen schleppten ihren Fernseher auf die Kneipenterrasse und ein Rudel mit Bier in der Hand hing davor herum. In der Strandbar oder im Biergarten kämpfte ein grissliges Beamerbild mit dem verdämmernden Tageslicht.
Es war meistens nicht viel zu sehen, es sei denn, man setzte sich zwei Stunden vor Spielbeginn an die vermeintlich richtige Stelle, bis sich Zuspätkommende ins Blickfeld stellten, aber die Stimmung war Spitze.
In diesem Jahr ist alles anders. Ich bin noch immer nicht ganz menschenmassentauglich und die derzeitige Umgebung pflegt eher einen behäbigen Stil. Daher landeten wir in gediegenen Etablissements, mit Platzreservierungen, Decken für die Damen, HD-TV und hausgemachter Bratwurst für 6 €. Das ist ja alles ganz nett und kein Gastronom will auf Umsatz verzichten, weil sich anderswo die Leute um ein paar Bierkästen und einen Beamer stapeln. Nur es macht keinen Spaß, Fußball in Anwesenheit von ein paar Daytradern und Immobilienerben mit ihren aufgetakelten Weibern zu sehen. Oder sich, um Zutritt zu einem Hotelhof zu bekommen, vor einer erdbeerfarben gesträhnten Azubine zu erniedrigen, die wichtig mit einer Gästeliste wedelt und einen mit 10 Mitarbeitern des Monats eines Westdeutschen Mediamarktes, die ein Incentive abfeiern, in die pralle Sonne setzt. – Natürlich unter der Behauptung, alle Plätze im Schatten seien von wichtigen Menschen reserviert.
Da lobe ich mir die Enoiteca auf dem Walter-Benjamin-PLatz, die einfach einen Fernseher und zwei Lautsprecher in ein offenes Kiosk-Fenster gepackt hat. Vor allem, wenn der Mann, der drinnen bedient, die italienische Niederlage damit bewältigt, daß er über der Bildschirmkante mit Messern, der italienischen Flagge und anderen Requisiten Kasperle-Theater spielt.