Free Kitty

Der Bericht von der letzten Woche im märkischen Seelen-Bootcamp sollte eigentlich so aussehen: Noch mal volles Programm mit Namen tanzen, die Gruppentherapie etwas aufmischen, an einem Quilt nähen, stricken, Sport machen, Bogenschießen, durch den Wald wandern und Schwimmen, viel Schwimmen. Dann am Freitag schon den größten Teil der Sachen mit nach Hause nehmen, das Wochenende in Berlin verbringen und am Montag endgültig auschecken.

Und so sah es dann wirklich aus:
Montag morgen war klar, dass das Schwimmbad wegen der Noro-Viren-Infektion noch für zwei Tage geschlossen bleibt, ebenso die Lehrküche, das Kaminzimmer und die Cafeteria. Ich war den ganzen Tag bleiern müde, am Abend vorher war ich um halb 10 ins Bett gegangen, trotz faulem Wochenende.
Dann ein Gruppentherapiegespräch über Autarkie und Auflehnung gegen sinnlose Vorschriften. Nicht von mir initiiert, sondern von einer resoluten türkischen Mama, die sich absolut für blöd verkauft vorkam. Mit dem Therapeutinnenvorschlag: Da muss man sich halt mal anpassen und Dinge hinnehmen und meiner Gegenfrage, ob Leute mit Depressionen, die hier 75% der Psychosomatik ausmachen, nicht schon trainiert genug im Hinnehmen, Wegtauchen und Geschehenlassen seien.
Montag Abend wußte ich: Ok., mich hat es auch erwischt. Trotz pingeliger Hygiene und Vermeiden von Menschenaufläufen. Der Backgroundsound zu dieser Erkenntnis war der Junge von obendrüber, der eine Stunde lang ununterbrochen brüllte und schrie und dazu gegen Möbel trat.
Wie die Nacht verlief, kann man sich denken. Mit Fieber, Schüttelfrost und dem Klo als bestem Freund.
Dienstag morgen gab ich das bekannt und musste fortan im Zimmer bleiben. Es gab viel Tee, eine Scheibe glutenfreies Brot, Reiswaffeln und eine Banane an die Tür gebracht. Ärzte sahen zweimal nach mir. Ich schlief viel und es ging mir langsam besser.
Nachts lag ich dann wach und hatte Hunger. Holte mit Tellkamps Turm die Miefigkeit und Enge der DDR hoch. Dieses atemabschnürende Netz von Regeln, geschriebenen und ungeschriebenen. Dieses: wir sehen es natürlich, wie du dich da halblegal durchwindest, aber wann und wie wir dich deshalb maßregeln, behalten wir uns vor. Der Gedanke „Das ist nicht nur Geschichte. Das erlebe ich wieder, gerade, jetzt.“ sprang mich an.

Ich realisierte endlich, dass es mir ab der Hälfte dieser Reha immer schlechter ging. Ich fühlte mich ohnehin vom ersten Tag an innerlich alarmiert, war immer auf dem Sprung, schlief nur oberflächlich, entspannte mich nie. Wenn ich mehr als sechs Stunden unterbrechungsfrei schlief, war das der Vorbote einer Krankheit.
Man hätte mich auch hinter einer Pappwand auf einem Berliner U-Bahnhof unterbringen können, dann hätte ich die gleiche Geräuschkulisse und Frequenz unangenehmer Menschen gehabt.
Ich wurde krank und wieder krank und immer wütender, mühsam aushaltend. Immer diese Erklärungen an mich selbst, dass das eben so sei. Dass das Zusammenleben mit einer großen Gruppe Süchtiger Verständnis und ähnliche Opfer erfordere: Nicht auf dem Zimmer essen, Kaffee nur nach Genehmigung, nicht einfach abhauen und woanders essen oder es sich anderweitig gut gehen lassen, eine angenehme Atmosphäre fordern. Dass es doch auch für mich gut sei, auf einiges zu verzichten, aus meiner Komfortzone herauszukommen. Dass das Leben kein Ponyhof sein. Dass ich mir das doch ausgesucht hätte. Dass es doch auch mir gut tun müsse, wenn es anderen gut tat.*

Dass da Muster drinstecken und eine Menge Meta-Information über mich selbst, ist schon klar. Die Frage ist nur: Brauche ich dazu so eine mich schädigende, für die Gesellschaft sehr teuere Aktion?

Ich trat Tag 2 meiner Quarantäne einigermaßen wiederhergestellt und mit einem Bärenhunger an und hatte im Kopf, dass ich noch bis Donnerstag aushalten müsse, mit Stricken, Hörbüchern und der Nähmaschine im Zimmer sollte das wohl gehen. Ich könnte mich dann am Freitag um meine Abreise kümmern und alles Schöne noch mitnehmen – unter anderem Bogenschießen und Schwimmen – und dann wäre es das fast.
Der Besuch der Ärztin nach dem Frühstück (Reiswaffeln, Diätmargarine, Light-Marmelade, Putenwurst) zerstörte diesen Plan: Der Krankheitsverlauf wäre etwas untypisch, aber es brauche Quarantäne bis Freitag nachmittag 16 Uhr. Ich zuckte erst einmal resigniert seufzend die Schultern.
Der Graf schrieb, er könne mich sofort abholen. Das Kind wies mich auf die Tweets der letzten Nacht hin und meinte, das klänge gar nicht gut, mir würde es in vertrautem Umfeld sicher besser gehen.
Ich realisierte langsam, was das hier bedeutete. Ich würde den Rest der Reha in einem 18-Quadratmeter-Zimmer verbringen, das nach Fußbodenkleber roch. Das Essen könnte ich mir nicht aussuchen und würde mir gebracht. Das Internet funktionierte nicht zuverlässig, Telefonieren wäre schwierig und teuer. Ich dürfte mir durchs Fenster die Laubfärbung ansehen und mit dem Zwergalpenveilchen sprechen, das ich aus der abrißgeweihten Therapiegärtnerei gerettet hatte.
Einzelhaft. Brauche ich so eine Erfahrung? Will ich völlig zerlegt hier raus gehen, nachdem ich ziemlich gesund reingegangen war?**

Der Entschluss dauerte eine Stunde, der Schalter legte sich eigentlich von allein um. Ich rief den Pflegedienst an, meine einzige Kontaktmöglichkeit zum Rest des Camps. Ich wolle nach Hause und deshalb den Chefarzt sprechen. (Der Bezugstherapeutin, die jünger als das Kind ist, traute ich da wenig Entscheidungskompetenz zu.) Man erreichte niemanden und versprach, sich zu kümmern. Die Durchwahl könne man mir leider nicht geben. Wenn ich mittags noch nichts gehört hätte, könne ich ja noch einmal daran erinnern…
Nun wußte ich, wie die Mailadressen dieses Ladens aussehen. Schließlich hatte ich im letzten Job auch für diese Klinik gedienstleistet (also Elektroingenieure vermittelt, ähm, na Sie wissen schon).
Ich schrieb mein Begehr noch einmal in eine Mail und adressierte sie an mehrere zuständige Leute und gab ihr die Priorität „sehr hoch“. Vodafone im Edge-Modus brachte sie auf den Weg.
Der Graf meinte: Geben wir ihnen eine Stunde. Sonst fahre ich einfach so los und hole dich raus. Ich begann schon mal zu packen.
Nach 55 Minuten meldete sich die junge Bezugstherapeutin:
Ob ich denn ein Problem hätte und darüber reden wolle.
Ickeso: Nö, jetzt nicht mehr. Ich wolle nach Hause und wir sollten besprechen, wie das denn am besten zu organisieren sei. Ich hätte nicht vor, den Rest der Woche im Zimmer zu sitzen und immer kränker zu werden.
Sieso: Ob mir denn geholfen wäre, wenn die Quarantäne ab jetzt aufgehoben wäre?
Ickso: WTF? Ich wäre immer noch angeschlagen, könne also nix sportliches machen und alles andere wäre den anderen gegenüber wg. Ansteckungsgefahr ziemlich asozial.
Sieso: Aber das käme so plötzlich und man hätte hier bestimmte Verwaltungsabläufe, das ginge nicht so einfach.
Ickeso: Naja. Wenn das so schwierig wäre, könnte ich ja vielleicht erst morgen abreisen… (in meinem Kopf dröhnte es laut IDIOTIN!!!) oder die Papiere erst morgen abholen lassen…
In dem Moment kam eine DM vom Grafen. Es wäre schon unterwegs. Extra mit Anzug und Schlips, um sich hier ein bisschen abzuheben.
Ickeso: (Mein Ritter!) Ähm nein, mein Mann wäre schon unterwegs, ich würde auf jeden Fall heute abreisen.
Sieso: Die anderen Beteiligten, Chefarzt und Ärztin würden sich auf jeden Fall noch mal melden.

Ich packte weiter. Nach einer halben Stunde großer Auftritt Ärztin:
Sieso: (Leise anfangend, sich in arg gehobene Stimmlage steigernd.) Sie sei enttäuscht, fühle sich erpresst, unter Druck gesetzt, überrascht, hintergangen, hätte ihre normalen Termine, warum ich denn heute Morgen nichts gesagt hätte, man müsse auch mal was durchhalten, mimimi…
Ickeso: (WTF, kommt die mir auf der Beziehungsebene? Die gehobene Stimmlage aufnehmend.) Sie hätte vor mehreren Stunden eine Mail erhalten und genug Zeit gehabt, zu reagieren. Es ginge hier um mich und meine langfristige mentale Verfassung, um nichts anderes.
Sieso: Na das sei Sache der Therapeuten. (haut die Tür zu)

Ich packte die letzten Sachen, aß kurz das vom Pflegedienst gebrachte Mittagessen, trockener Reis mit Fisch und eine Banane. Informierte die Rentenversicherung per Mail über den Abbruch und die Bezugstherapeutin darüber, dass der Graf bald eintreffen werde. Sie rief sofort an.
Sieso: Ob ich denn so schnell los wolle? Es gäbe da ein Problem, die Ärztin würde den Entlassungsbericht nicht so schnell fertig bekommen.
Ickeso: Ich wüsste, dass sie Probleme habe, Entlassungsberichte mit dem Computer fertigzumachen, statt old school den Schreibdienst zu bemühen. (Das hatte ich in der Anfangskonsultation gemerkt, als sie in den Textbausteinen und Datenbankfeldern umher eierte. Computer gehören dort noch nicht lange zum Arbeitsmittel.) Wir würden warten, bis sie fertig wäre, notfalls auch bis zum Feierabend, kein Problem.
Das konnte ich mir nach dem Auftritt der Dame leider nicht verkneifen, denn nun wußte ich, wo die hohe Emotion herkam. Digitalkomptenz hat man dort nicht. Man heilt schließlich auch Internetsüchtige.

Eine halbe Stunde später kam der Graf. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich war schon fast wieder gesund. Er ging kurz auf den Laufzettelrundgang, den ich wegen der Quarantäne nicht machen durfte, holte die Reisekostenerstattung ab und übermittelte diverse Grüße. Dann stattete er noch der Therapeutin und Ärztin einen Besuch ab (Törööö! Der Entlassungsbericht war fertig.) und belud das Auto.

Wir fuhren vom Hof, die Sonne kam raus und ich fühlte mich prächtig.

 

*Der Graf hatte schon in der Woche zuvor, als die Quarantäne-Maßnahmen ausgeweitet wurden, gemeint, jetzt würde es wirklich prekär. Ob er mich denn abholen solle. Ich wollte nicht. Sein Kommentar hinterher: Da hast du halt noch an den Endsieg geglaubt. Touché.
**Ich verstand jetzt, warum die anderen aus den Zimmern gingen, um an der Raucherinsel die anderen zu treffen. Wenn du auf Entzug bist und das Konzept, dich da durchzubringen Kraft der Gemeinschaft heißt, dann ist Quarantäne Folter. Das Kind hatte es mir schon erklärt, jetzt kapierte ich es.

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Fast vorüber

Es ist fast geschafft, ich muss nur noch eine Woche durchstehen. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, ich bin in einem absurden Live-Spiel, so wie Big Brother, statt in einer Reha-Klinik.
Am Montag war klar, dass aus den sporadisch auftretenden Magen-Darm-Erkrankungen eine kleine Noro-Virus-Epidemie geworden war. Man hatte in der Woche vorher schon versucht, etwas dagegen zu tun, die Erkrankten kamen 48 Stunden in Quarantäne und wurden in den Zimmern versorgt. Nur blöd, dass das Bedürfnis, zu rauchen und mit anderen zu reden, so groß war, trotz angebotener Nikotinpflaster. Die bleichen, kotzenden Gestalten standen trotzdem an der Raucherinsel und wenn es sie überkam, gingen sie auf eines der öffentlichen Klos oder sie waren brav und blieben drin und bekamen auf ihren Zimmern Besuch von den anderen. Am Dienstag waren die Gänge wie leergefegt, die halbe Belegschaft, 130 Leute, seien krank, hieß es auf den Gängen. Der Pflegedienst kam mit dem Versorgen kaum hinterher.
Ich war noch von der Erkältung angeschlagen und das Letzte, was ich wollte, war noch so eine Infektion. Ich habe mir wahrscheinlich noch nie so oft die Hände gewaschen und desinfiziert, wie in der letzten Woche. Ich blieb meist in meinem Zimmer, strickte und entwickelte einen wutgesättigten Lagerkoller.
Am Mittwoch wollte ich wieder mit Sport beginnen, aber als ich mich morgens vor der Aquagymnastik warm schwamm, wurde ich und die andere verbliebene Frau (sonst sind es 8-10 Leute) urplötzlich aus dem Wasser geholt. Man hatte alle öffentlichen Bereiche, die Schwimm- und Turnhalle, die Cafeteria, die Freizeiträume und auch endlich die öffentlichen Klos gesperrt. Jetzt blieben als Ansteckungsmöglichkeit nur noch die Schlange an der Tablettenausgabe, die mir wegen meiner Schilddrüsenhormone einmal am Tag nicht erspart blieb, der Speisesaal und die angesetzten Behandlungstermine.
Aber es bewährte sich, dass ich Türen mit dem Ellenbogen öffnete und mir trotzdem hinterher die Hände wusch.

Am Donnerstag outete ich mich endgültig als verhaltensoriginelles Alien. Ich hatte während der ganzen Zeit diverse Tests zu machen – zu meinem Befinden, zur Arbeitsfähigkeit etc. Der Test von Donnerstag sollte persönliche Fähigkeiten mit Arbeitsanforderungen abgleichen. Ich saß mit ein paar weiteren Menschen vor Computern und sollte in einer Excel-Tabelle eine der fünf möglichen Antworten zur jeweiligen Frage ankreuzen. So weit so gut. Nur: Die fünf möglichen, sehr detailreichen und sich nur in wenigen Details unterscheidenden Antworten wurden langsam vorgelesen. 400 von einem netten Mann mit Sprachfehler vorgelesene Antworten, 3 Stunden lang.
Ich war die, die nach fünf Minuten laut ausrastete und durchs Gelände lief, um mir den Antwortbogen zu besorgen. Wenn ich so etwas lese, geht das sehr fix. Wenn mir jemand das vorliest verstehe ich nix, der könnte auch chinesisch sprechen. Zu viele Details.
Es stellte sich heraus, dass das Testhandbuch des Vorlesers das einzige Exemplar war. Man hatte sich also erspart, die Fragebögen oder Arbeitsplatzlizenzen zu kaufen und umging so das Copyright. (Man kann es natürlich auch als versteckten Aufmerksamkeits- und Belastungstest nehmen.)
Ein Drittel der Fragen beantwortete ich in einer 10-Min-Pause, für den Rest fand ich einen Trick. Ich strickte und hörte nur kursorisch auf die Stichworte und beantwortete die Fragen durch den Filter einer anderen Tätigkeit. Hinterher war ich völlig fertig, das Strickmuster war nämlich kompliziert.
Danach trat ich in meinem Zustand mentaler Inkontinenz noch einer riesigen Frau mit Säuferstimme und rudimentärer Ausdrucksweise zu nahe, indem ich ihr sagte, ich könne mir nicht vorstellen, dass sie wirklich für eine Tätigkeit als Callcenter Agent geeignet sei (solche Leute sind ja der Horror aller Hotlines, aber das Arbeitsamt hat irgendwann die halbe Uckermark auf Callcenter umgeschult). Die arme Frau war völlig geschockt und fragte mich, wie ich das nach so kurzer Zeit beurteilen könnte, sie mache das seit fast 10 Jahren, nur die Auftraggeber würden sie fertig machen, weil sie immer und immer mit der Qualität nicht zufrieden seien. Als ich ihr dann sagte, ich hätte fast 20 Jahre gewerbliche Arbeitsvermittlung gemacht, aber es täte mir leid (!!!), dass ich was gesagt hätte, war sie noch geschockter. Ich kann mir sie mit schaffenden Händen inmitten von Kohl und Ferkeln vorstellen, aber auf der Tonspur kommt ein weiblicher Ork rüber. Im Nachhinein bedauere ich, dass ich meine Klappe nicht halten konnte.
Am Nachmittag dieses Tages schlief ich erst drei Stunden und dann lief ich fast acht Kilometer durch den Wald, um irgendwie den Ärger über diese Zumutung in Testform loszuwerden. Verhaltensauffällig eben.

Es war aber nicht alles schlecht in dieser Woche. Man denkt hier natürlich strikt in Kategorien des Angestelltenlebens und nach denen kann ich nicht mehr als gewerbliche Arbeitsvermittlerin tätig sein. Man plant daher für mich eine Eingliederungsmaßnahme von einem Jahr Dauer. Ob ich mir dabei meinen Arbeitgeber aussuchen kann, weiß ich noch nicht. Ich hoffe es doch sehr. Dann wäre es ein weiteres geschenktes Jahr, während dem ich an einer Transformation meines Arbeitslebens schrauben könnte.

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Halbzeit

Eigentlich hatte ich extra das Zweitblog von Twoday auf WordPress umgezogen, um daran weiterzuschreiben. Aber ich merkte, das passt nicht. Die Tonalität der alten Texte ist völlig anders, ich bin längst jenseits dieses großen Krieges, den ich damals erlebt habe. Ich finde nur ab und zu mal einen Blindgänger oder eine alte Narbe schmerzt.

Am Mittwoch hatte ich die Hälfte der Zeit in der Kurklinik herumgebracht. Zu Anfang bot man mir zwei Mal Verlängerung auf zehn Wochen an, aber ich lehnte ohne Nachdenken ab. Fünf Wochen ungewollt weg von zu Hause und weg vom Grafen, das ist mehr als genug. Denn eigentlich wollte ich die Zeit ambulant absolvieren.

Mit Kur und alten weißen Villen und Trinkhallen hat das dort alles nichts zu tun. Eine alte Niederlassung der Grenztruppen mitten im märkischen Wald wurde zu einer kleinen Kolonie umgebaut. Nur wer genau hinsieht und weiß, wohin er schauen muss, entdeckt noch den alten Straßenbeton, 70er-Jahre-Betonfertigteile aus der DDR in einem abgelegenen Gebäude und nach dreimal Hinsehen wird klar, dass die Ateliers für die Kunst- und Ergotherapie einmal LKW-Garagen waren.

Zunächst tat ich mich mit diesem Summerhill für Menschen, die es nicht am Rücken, sondern an der Seele haben, sehr schwer. Dort ist die größte Abteilung die für Abhängigkeitserkrankungen und das ist eine sehr eigene, sehr auffällige Klientel. Sie bevölkert in großen Pulks laut spektakelnd die Raucherinseln, kennt keine Distanzzonen, drängelt, grölt laut umher und sich an und beherrscht elementarste Regeln der Höflichkeit und des Umgangs miteinander nicht.
Ich bin immer noch nicht sicher, ob die Unterschicht zu Sucht neigt oder Sucht sozialen Abstieg mit sich bringt oder aber besser situierte Suchtkranke schnell in ein zu ihnen passendes Rehab-Biotop flüchten. Es ist da eine bunte Mischung aus proletarischen und ländlichen Säuferinnen und Säufern, sich das Hirn wegkiffenden Riesenbabies mit schwarzen Metal-Band-Shirts und hyperaktiv hibbelnden Schnellmacherfreunden mit Luden- oder Nuttenattitüde.
Die anderen, stilleren, geschmeidiger sozialisierten Menschen sieht man erst viel später. Sie können mehr mit sich anfangen, kommen auch mit Rückzug zurecht und haben weder Bock noch Ambition, in Rotten rumzuhängen.
Es gibt die Abteilung für Eltern mit behandlungsbedürftigen Kindern, die sind manchmal anstrengend, aber können nichts dafür und es ist schmerzlich, bei manchen Eltern-Kind-Konstellationen auf den ersten Blick zu sehen, dass eher die Eltern die Intervention bräuchten, sich aber selbst für super halten. Vor allem die Väter. Von denen einer seinem Sohn, als die Mutter zum Büffet gegangen war, anbot, er könne ihm gern Mund und Nase zuhalten, dann würde er sein Essen schon schlucken. In der Öffentlichkeit, völlig ungeniert, wenn auch als „War doch nur’n Witz!“ getarnt. Was der zu Hause mit dem armen, minderbemittelten Jungen macht, der seine Sätze wimmerte wie ein getretener kleiner Hund, statt zu sprechen, möchte ich um mein Seelenheil nicht wissen. (Dem Pflegedienst habe ich es trotzdem erzählt.)
Die Eßgestörten merkt man seltener. Die Eßsüchtigen sind natürlich nicht zu übersehen, zwei in einer Unterhaltung auf dem Gang stehend, verstopfen den halt einfach. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie übermäßig bedrängt werden, nun endlich abzunehmen. Es geht eher um langfristige Verhaltensänderungen. Sport, sich vom Essen nur das nehmen, was satt macht, kein Essen horten und für seelische Kompensation nutzen. Das finde ich gut.
Die Magersüchtigen sind auch hier drin wie Gespenster. Schamvoll huschen sie über den Gang, sich fast für ihre Existenz entschuldigend, dafür, dass es ihnen trotz größter Disziplin noch nicht gelungen ist, sich komplett dünne zu machen. Es sind erstaunlich viele Männer dabei.

Drei Tage lang wollte ich abreisen. Absurde Essenszeiten, Kaffee nur nach Genehmigung, keine Süßigkeiten, nicht einfach so ein Aspirin bei Kopfschmerzen und diese fürchterlich ordinären Menschen überall, ich gruselte mich nur. Dann bekam ich den einen oder anderen Wink: Das sind zwar unsere Hausregeln, aber wenn du ein selbstverantwortlicher Mensch bist, nehmen wir das nicht so genau. Die sind für Leute gemacht, die erst wieder in die Spur kommen müssen.
Nachdem klar war, dass ich am Wochenende nach Hause kann, wenn ich es will und ich das Schwimmbad abends ein paar Mal für mich allein hatte, war ich versöhnt und sagte mir, der Rest ist halt Sozialstudie.
Ich merkte sehr schnell, dass ich die Reha vor 5 oder 6 Jahren gebraucht hätte. Die meisten Leute hier sind wesentlich betroffener als ich. Bis auf die, die das (warum auch immer) alle 2 bis 4 Jahre als Urlaub Plus nehmen (auch die gibt es hier), kommen die Menschen hier nach akuten Krisen. Das kann in der psychosomatischen Abteilung alles sein. Vom typischen Berliner Beziehungsvermeider, der gar nicht mehr weiß, wie man mit anderen Menschen Kontakt bekommt und in der Midlife-Crisis von einer Depression in die nächste rutscht, über den netten ITler, dem alle 20 Jahre die Kopfchemie so durcheinander kommt, dass er Stimmen hört und Verschwörungen wittert, bis zu (vielen) Frauen, denen bei Verlust des Mannes, ob er nun geht oder stirbt, urplötzlich das Leben zerbricht und die beim Scherben zusammenlesen und neu anfangen die Kraft verlässt. Und dann so Gestalten wie ich, mit Hybris und der Chronik eines angekündigten Falls in der Biografie.
Das sind ganz unterschiedliche Menschen. Still, mit Medikamenten gedimmt, übermäßig redselig, schrullig-entrückt, manchmal auch wie eine entzündete, offene Wunde, es ist alles dabei.

Was habe ich davon? Spiegelung. Ins-Verhältnis-setzen. Mit kleinen Klicks im Kopf etwas mitbekommen, zurechtsetzen.
Hilfe, wenn die auch nach Wiederankunft im sozialen Netz nicht sehr groß sein kann, für Vieles habe ich keine Anwartschaften. Meine Geschichte mit verlorener Alterssicherung und nicht zahlender Berufsunfähigkeitsversicherung, trotzdem jeder Menge Tätigkeit, aber wenig Power, kommt dort nicht so häufig vor.

Ich war ganz glücklich über die immer wieder als Bonus gespendeten letzten Sonnentage, die ich strickend auf der Liegewiese verbrachte. Ich beömmelte mich über den Mr.Cool-Typen im Gangsta-Rapper-Style (so richtig mit Tatoos, Glatze, weißen Sneakers, Sonnenbrille auch nachts, Hoodie und der Kapuze überm Kopf), der immer wieder „Däääähmen!“ nach seinem Sohn Damon über die Wiese blökte wie ein Schafbock.
Ich merkte, dass es mit Sport doch nicht so schlimm aussieht, wenn ich meine Ausreden nicht an mich selbst adressieren kann. Ich kann schon noch etwas leisten. Ich schwamm 1000 m unter 30min, eine ekstatische Sache, weil das Edelstahlbecken voller bläulicher Lichtreflexe war und ich mich wie im Weltraum fühlte, übte in der Gegenstrombahn Kraulen und beteiligte mich mit wachsendem Spaß an Wassergymnastik, weil sie nicht mit lauter, alberner Discomusik und Megafon-Anschreien durch einen Trainer verbunden war. Abends spazierte ich in der Dämmerung durch den Wald und an den See und unterhielt ich mit Fischen und Bäumen.

Bis ich am Tag der Halbzeit aufs Maul bekam. Im ersten Moment war es hinterrücks. Von Ups, der Tag ist aber sehr voll, das wird anstrengend. über Nö, das ist nur ein Chlorschnupfen. und Wäh! Tierhaare! Davon muss ich so niesen! bis Scheiße, gehts mir schlecht! in unter fünf Stunden.
Als mein Kopf etwas klarer war, habe ich dann auch die Frühwarnzeichen rekonstruiert. Ich fiel schon am Freitag vorher um acht Uhr ins Bett und schlief über 12 Stunden und bekam am Wochenende Herpes, ganz wie früher zu Urlaubsbeginn, wenn die Anstrengung nachließ.
Es war sehr anstrengend, ich habe es nicht wahrgenommen. Ich konnte mich mit den vielen Menschen, der fremden Umgebung, dem vielen Sport und den meinem Tagesablauf zuwiderlaufenden Zeiten keine Minute entspannen, exerzierte das Programm durch wie ein Aufziehhase und schlief keine Nacht über 6 Stunden.
Also hatte ich nun die Gelegenheit, die Grätsche, die ich bei Überlast mache, weil mein Körper nach dem nächst liegenden Virus oder Bakterium greift, um mich ruhig zu stellen, mal unter fachkundiger Beobachtung machen. Das glaubte mir immer keiner.
Seit Mittwoch liege ich im Bett und habe das übliche Nebenhöhlengedöns mit abwechselnd Fieber und Schüttelfrost und langsam bessert es sich. Ich bin ja dort, um zu lernen. Auch wenn ich lieber den Moment abpassen würde, wenn das Schwimmbad leer ist.

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