Am Donnerstag Abend saß ich bei einer Lesung im Einstein Unter den Linden. Zumindest die Mommy-Bloggerinnen und ihr Publikum sollten Petra van Laak kennen, die ihre Trennung, plötzliches – auch finanzielles – Alleindastehen mit vier Kindern und den Neuanfang in zwei Büchern verarbeitet hat, die (Gott sei Dank!) weder Rosenkrieg-Chronik noch Jammerarie sind, sondern die Schilderung eines harten Weges mit einer Menge Humor. Ich fürchte aber, die Mehrheit lebt und handelt eher wie die viele Diskutantinnen aus diesem Thread: „immer schön aus dem Bauch heraus“ und hat meist nicht ganz so viel Energie, sich selbst am Zopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Der Abend war erstaunlich. Das deutsche UN Women-Komitee war mit zwei Frauen im Publikum, dazu Abgesandte weiterer Frauenverbände, Journalistinnen und Menschen aus der Lehre – die Humboldt-Uni ist schließlich nebenan. Berlin Mitte ist nicht nur Hipstertown.
Ich war wie immer die Katze auf dem Schrank. Ich beobachte lieber. Ein Philosoph spulte beim nachfolgenden meet&greet das übliche „Hey, hier, ich! Kuck mal was ich alles mache!“-Männerprogramm ab (und leugnete noch eine halbe Stunde vorher in der Diskussion, dass das männertypisch sei). Die attraktive (mit einem anderen glücklich verheiratete) Dreißigjährige, die ihn mitgebracht hatte, kannte das alles schon und bremste ihn immer mal. Ich bin trainiert darin, Leuten mit hoher Eigendrehung ein gutes Gefühl zu geben und reagierte reflexartig mit positiver Spiegelung, außerdem habe ich selber die große Klappe und mache gern mit bei Klugscheißereien. Nur eine ältere Dame nahm ihn einfach nicht ernst. Das heißt, erst am Schluss. Vorher hatte ich die beiden allein gelassen, als sie entdeckten, sie seien gleich alt und hätten einen ähnlichen Background und viele gleiche Erinnerungen. Es wurde flirty und fast intim, die Körpersprache und der Ton der Frau veränderten sich sichtlich und ich dachte mir: Stör mal nicht. Minuten später stand sie auf, zog den Mantel an und meinte zu mir: „Das ist nix für mich!“ und ging. Hm.
Ich registriere so etwas wie ein Geigerzähler. Ich beobachte und es tickt in mir und zeichnet Kurven. Mit Sechzig scheint das „Mann gibt an und Frau bewundert ihn nachsichtig lächelnd“ nicht mehr so richtig zu funktionieren. Stieg er auf ihren Flirt nicht ein? War sie von der Heißluftproduktion dann doch abgestoßen?
In den Zwanzigern und den späten Fünfzigern scheinen gleichaltrige Männer und Frauen nicht zueinander zu passen. In der frühen Phase können Frauen mit diesen ungelenken Kindsköpfen nichts anfangen und der späten fragen sich Männer, ob sie gerade ihrer Mutter gegenüber stehen. Optisch war das auch so. Sie hochgradig asexuell in Trachten-Loden und hochgeschlossenem, sackförmigen Wollflanell, dazu die klassische praktische graue Kurzhaarfrisur. Das Gesicht und der etwas pummelige Körper viel jünger wirkend als die Großmuttertracht und die Körpersprache. Er zwar zerknittert im Gesicht, aber schlank und dynamisch, in Jeans, Hemd und Sakko, oft overacted und für gefärbte Haare habe ich leider einen Blick, die waren nicht mehr echt. Jetzt mal abgesehen von den ständigen Bemühungen eines Sechzigjährigen, die Aufmerksamkeit und Bewunderung von Frauen zu erwecken, warum wirken viele Frauen nach den Wechseljahren so, als wäre es ein Skandal noch als sexuelles Wesen zu gelten? Das macht mir Angst. Das will ich nicht. Dafür mag ich Sex zu sehr. (Ja, ich bereite mich gerade auf einen langen Artikel über das Altern vor…)
Auch ich entdeckte Gemeinsamkeiten mit dem Philosophen. Wir kennen beide T. Dieser Mensch zieht sich als mattglühende Spur durch die Erinnerungen vieler Leute, die ich traf. Den Philosophen inspirierte er, als dieser noch ein junger, orientierungsloser Maschinenbaustudent war. Er war mein Förderer, als ich die ersten Schritte in der Selbständigkeit machte, ohne Gegenleistungen zu erwarten, einfach in dem Wissen, dass wir im gleichen Studiengang am gleichen Tisch gesessen hatten. Mein Ex-Firmenpartner wußte die Geschichte einer Mittsommernacht zu erzählen, die sie auf den Dächern eines Neubauviertels verbrachten, sich als Giganten fühlend, von Haus zu Haus springend. Irgendwann muss die Geschichte von T. aufgeschrieben werden. Sie wird von manischem Arbeiten, Klarsicht und Ideen, Polyamorie, Bisexualität, einer langjährigen ménage à trois, Geburt und Tod handeln. Eine weitere Geschichte, die erst nach dem Tod der Beteiligten aufgeschrieben werden kann.
Jetzt gibt es einen Perspektivsprung. Wir unterhielten uns über Dummheit. Die Definition des Philosophen lautete: Abwesenheit oder Nichtbenutzung des eigenen Urteilsvermögens. Ich ergänzte: Mangel oder Nichtbenutzung von Reflektionsfähigkeit. Darunter verstehe ich den Prozess, die Welt und ihre Phänomene aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, ihre Komplexität zu würdigen, das Betrachtete abstrahierend beschreiben können und doch fähig sein, sich von den gefundenen abstrakten Zuschreibungen zu verabschieden, wenn sie der Komplexität nicht Genüge tun. Dumm sind Leute, die es besser wissen müssten, aber nur noch eine einseitige Weltsicht zulassen, warum auch immer und am liebsten mit kleinen Etiketten arbeiten. Da kann „Leitkultur“ draufstehen, „christliche Werte“, „Derailing“ oder „Othering“. Kleine Papperl, die wie Scheuklappen wirken, damit die Pferdchen brav in der Reihe laufen. Nicht mein Spiel, definitiv.
Noch ein Sprung. Es mäandert wieder, wie so oft am Sonntag.
Zwei Texte zu einem Phänomen.
Victoria Hamburg hat darüber geschrieben, wie sie einem Netzfake aufgesessen ist, der Artikel im Neon-Magazin, der die Geschichte auflöst und sachlicher einordnet als eine Betroffene es kann, steckt hinter einer Paywall hier . Nur so viel: Der attraktive, surfende Physiotherapeut, der sich als soziophober Normalo outete, ist in Wirklichkeit eine ziemlich psychopathisch anmutende Frau.
Malte Welding schreibt im Jetzt!-Magazin unter dem Titel „Falsch verbunden“ über einen Mann, der scheinbar die Traumfrau getroffen hat, jetset, schön und reich wie die Ladies in der Raffaelo-Werbung, die sich nach einiger Recherche als ganz normale Hamburger Sekretärin entpuppte.
Ich mag das Fazit von Malte Welding, nicht nur, weil es sich mit meiner Ansicht deckt. Es ist so poetisch, wie wahr.