Reinigung

Gestern saß ich mit dem Grafen vor einem Restaurant in der Kastanienallee. Als wir losgingen, zogen sich schon die Wolken zusammen, als wir unseren Burger aßen, wetterleuchteten ferne Blitze und als die zweite Runde Getränke auf dem Tisch stand, begann der Sturm. Eine haushohe Staubwolke raste die Kastanienallee entlang. Zunächst fühlt ich mich hinter der Hecke der zurückgesetzten Restaurantterasse sicher. Beim zweiten Windstoß kam der Dreck von überall. Es schien als würde etwas aus Richtung Danziger Straße die Luft mit einem riesigen Staubsauger aus Mitte raussaugen.
Dann kam der Wolkenbruch und wir schauten erstmal vorsichtig von innen zu. Der Innenraum war heiß und stickig, deshalb setzten wir uns bald unter die Markise und genossen die Frische. Das Nachhausekommen war etwas schwierig. Der Regenradar zeigt noch mindestens eine Stunde starken Regen an (was haben wir eigentlich früher ohne diese Spielereien gemacht?) und wir haben, wie ich bemerken konnte, unterschiedliche Auffassungen von „Ich finde es total toll, durch den Regen zu laufen.“ Der Graf wie immer moderat, ich wie immer exzessiv.
Wir nahmen dann für eine Station die Straßenbahn, der wir noch mit anderen Menschen ob Verschiebung der Haltestelle durch den Matsch einer Baustelle nachrennen durften. (Berlin, ick liebe dir!) Überhaupt. Rennen mit nassen Zehensandalen. Das fühlt sich an wie barfuß rennen und dabei eine Nudel zwischen den Zehen und ein Brett unter dem Fuß nicht verlieren dürfen.

Das Last-Year-Plugin zeigt mir einen denkwürdigen Abend an. Gestern nacht vor vier Jahren begann meine radikale Lebensveränderung, die auch der letzte Blogpost dokumentiert.
Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich die Hintergründe wirklich schon erzählen kann. Über bestimmte Sachen schweige ich hier im Blog und nur enge Freunde wissen davon. Ich bin eher nicht der Typ, emotionale Dinge mit allen Fakten auf den Tisch zu werfen. Weil das auch Fakten über andere sind und ich als Betroffene nicht unbedingt gerecht in meinem Urteil über sie bin. Zumindest bindet mich jetzt keine Schweigepflicht mehr.
Nächstes Jahr.

5. August

Bei Frau Brüllen habe ich eine interessante Sache gefunden. Jeweils der 5. eines Monats wird tagebuchähnlich dokumentiert. Das mache ich doch auch mal. Wobei ich mich zu erinnern weiß, dass das monatliche Foto vom Hof eine Herausforderung war, an der ich gescheitert bin.

Zickzacknaht Bernina Schleifenkleid

Montag, der 5. August 2013

Der Wecker klingelt wieder, wenn auch spät, um 8:30 Uhr. Der Mann hat heute seinen ersten ernsthaften Arbeitstag nach den Ferien und er schaut genauso unglücklich drein und hat genauso schlecht geschlafen, wie wir als Kinder, wenn die Sommerferien vorbei waren. Ich komme zu ihm ins Bett und wickele mich einmal um den ganzen Kerl, damit der Montag etwas kuschliger anfängt.
Dann mache ich ihm noch eine Kaffeebombe zurecht, bevor er geht.
Nach dem Frühstück und der Twitter-Schau setze mich gleich an den Schreibtisch. Es ist einiges aufzuarbeiten, Mails liegen schon fast schimmelig im Postfach herum, Texte wollen geschrieben und vorher recherchiert werden. Also an die Arbeit.
Das Telefon klingelt, es ist LaPrimavera. Es geht um Termine, meinen Überwachungsartikel, zu dem sie eine Mail geschrieben hatte, die ich aber gern im Blog veröffentlichen will, dazu noch dies und das beziehungstechnische, der Frauengesprächsklassiker.
Weiter im Text. Ich habe Briefe aufzugeben, die ausgedruckten Briefmarken sind alle, die schwarze Druckerpatrone und die Batterien in der Maus sind leer. Aus dem Gang zum Briefkasten wird also ein Gang zur Post wird eine Fahrt zu den Schönhauser Allee Arcaden, um eine Druckerpatrone zu kaufen. Dort gibt es bekanntermaßen die Postfiliale des Grauens, bei der ich mich entweder in die Schlange einreihen oder am Briefmarkenautomaten passend zahlen muss.
Aber erst klingelt das Telefon. Glämmie hat Urlaub und fragt, ob ich mit auf den See komme. Verlockend, aber die Disziplin ist stärker, außerdem habe ich vom gestrigen Schwumm noch eine beträchtliche Grundschwere in den Gliedern. Also sage ich ab.
Weiter im Text, das mit der Post schiebe ich erstmal raus und bald ist vom Obstjoghurt in meinem Magen nichts mehr übrig. Ich mache mir ein Brot.
Ich setze mich zur Entspannung in der Mittagspause an die beiden langen französischen Rocknähte von dem Kleid, das ich in Arbeit habe. Wie immer werden aus vier Nähten sieben, weil ich zusätzlich noch einmal die Taille und den Saum mit Positionsnähten versehe.
Dabei werde ich, wie ich es schon befürchtet hatte, bleiern müde, die Grundschwere will sich ausleben. Dabei wollte ich es doch vor zwei Uhr zur Post geschafft haben. Ich schaffe es nur noch bis aufs Sofa, falle bäuchlings in Komaschlaf™ und wache erst wieder auf, als der Graf zurückkommt. Kurz habe ich Angst, dass ich bis halb fünf Uhr durchgeschlafen habe, aber er war heute schon eher fertig.
Ich mache mir einen Haarknödel, ziehe mir ein paar Kleidungsstücke an (die braucht man in unserem Gewächshaus auf der Barminkante nicht), setze ein Sonnenhütchen auf und radele, abwechselnd den Hut festhaltend und das enge T-Shirt-Kleid runterziehend, zum S-Bahnhof Schönhauser.
Oh Wunder! In der Post stehen vor mir nur 5 oder 6 Leute das habe ich hier noch nie erlebt! Ich werde meine Briefe los und die Druckerpatrone ist auch schnell gekauft.

Ich radele zurück, setze mich wieder an das Kleid, freue mich an den akkuratesten Zickzacknähten die ich je genäht habe und stecke den Rock an das Oberteil. Zunächst mit Nadeln zur Anprobe, denn ich habe mittlerweile eine haarsträubend verschobene Taillenlinie, vorn plus 2 cm, hinten minus 2. Der Graf hilft mir beim Stecken und korrigieren.
Dann baue ich den Nähplatz in der Küche ab. Der Graf holt mit mir einen Ersatztisch vom Boden und ich ziehe ins zweite Wohnzimmer ans Fenster um. In der Küche arbeiten ist zwar gemütlich, aber Stoff und Essen, das beißt sich.
Ich baue alles wieder auf und putze den zweiten Tisch, der von den Jahren auf dem Boden mit schwarzem Staub bedeckt ist. Nebenher bade ich noch des Mannes Flipflops und starte eine Waschmaschine mit Bürohemden.
Hunger. Ich esse den Rest Bratkartoffeln von Samstag und dazu Radieschenquark.
Dann hefte und stichele ich, das Feintuning erlaubt mir, die zu heiß gebügelte Stelle zu verstecken und der Rock sitzt nach einer ganzen Zeit Gefrickel gut an der Taille. (Die Brustabnäher mussten steiler. Schenkt mir doch der liebe Gott jedes Jahr eine halbe Körbchengrösse. Aber das ist Gott sei Dank bald vorbei, in zwei oder drei Jahren lichtet sich dieses Hormonchaos.)
Dann ist es auch schon dunkler Abend. Ich lasse mir den 6-Meter-Saum für morgen, denn es ist Zeit, sich gegenseitig zu bepuscheln (dabei nicht zu vergessen, die Wäsche aufzuhängen) und des Grafen Blogeintrag über eine seiner größten Leidenschaften zu lesen.

tl;dnr Ich habe nur die Hälfte von dem geschafft, was ich tun wollte und konstant ein schlechtes Gewissen, dass ich keiner „ordentlichen“ Arbeit nachgegangen bin.

PS: Zum Vergleich ein Arbeitstag vor genau 6 Jahren. Kein Kommentar.

Bilderbuchsonntag

An Abend bevor wir zum Helenesee fuhren, gabs Bratkartoffeln, Matjes und grüne Bohnen und ich zauberte aus zwei Hand voll roter Johannisbeeren, die mir roh gegessen zu sauer waren, eine Tarte:
Johannisbeertarte
Der Nachbar schräg über uns feierte, auf dem Balkon stand eine Herde Menschen, die alberte und witzelte und ich wunderte mich, dass dieser ältere Herr so junge Menschen zu sich einlädt (also was heißt jung, das klang so wie bei uns). Als ich diskret rüberlinste, wer da so stand, sah ich: Die waren alle zwischen 40 und 50, unser Alter, etwas jünger vielleicht. Und als ich am nächsten Morgen den Nachbar mal genau ansah – der ist so alt wie ich, Ende 40. Ja, das ist so eine Sache, mit Selbst- und Fremdwahrnehmung…

Der Graf und ich starteten am Sonntag morgens gaaanz langsam, stiegen um 14 Uhr ins Auto und quälten uns über Biesdorf (Dauerstau wegen Straßenbauarbeiten) aus der Stadt raus in Richtung Osten. In Müllrose verließen wir die Autobahn und fuhren in Richtung Schlaubetal, denn da gibt es einen Einstieg in den Wald in Richtung Helenesee. Gab es. Es liegen wieder ordnungsgemäß riesige Feldsteine davor, damit nicht Krethi und Plethi durch den Wald bis ans Wasser fahren.
Nebenbei, es ist als sporadische Besucherin wohl zu merken, dass der Betreiber des Badevergnügens, die Helenesee AG, mittlerweile zu spüren bekommt, dass es mittlerweile in Sachsen ähnliche Seen gibt. Der Hauptstrand ist selbst zu Ferienzeiten nur moderat gefüllt. Klar, wenn Onz-Onz-Techno-Wochende ist, treten sich die Leute tot. Aber nicht wegen des Sees. Die Anwohner haben denen (das heißt, ihren von ihnen gewählten Volksvertretern) diese Verpachtungsaktion, die in den 90ern begann, sehr übelgenommen. Der erste, der hier am Werke war, hat fast den ganzen See mit einem Riesenzaun umgeben und überall Kassenhäuschen aufgestellt. Drinnen war wohl mal einer der größten Campingplätze Deutschlands. Aber s.o., die Sachsen, die früher nur Kiesgruben, dreckige Flüsse und Tonstiche hatten, blieben weg. Und so ist der Freizeitkommerz nicht sehr profitabel, dadurch aber erträglich und die Ureinwohner ignorieren scheinbar das Urlauber-Reservat und weichen an die lauschigen Stellen im Wald aus.

Wir fanden einen Parkplatz (Einzelheiten gibts hier nicht, sorry, das soll hier keine öffentliche Empfehlung sein, wie man in mein persönliches kleines Paradies kommt) und eine sandige Kuhle zum Ablegen der Sachen und begannen zu schwimmen.
Ich kenne den See seit seinem 10. Lebensjahr. Als er noch aussah wie ein gefluteter Tagebau, Braunkohlenstückchen im Sand lagen, seine Ränder wegbrachen, der Wasserspiegel stetig stieg und junge Kiefern überschwemmte, denen man beim Schwimmen ausweichen musste. Dieses klare Wasser hatte ich erst bei kanadischen Bergseen wiedergesehen, durch Sand gefiltertes Grundwasser, dazu Regenwasser, keine weiteren Zuflüsse und lediglich magerer Kiefernwald und keine Intensiv-Landwirtschaft in unmittelbarer Nähe.. Wenn die Mittagsonne schien und der helle Sandboden das Licht reflektierte, hatte es Sichttiefen über 10 Meter. Der See war voller Barsche, Hechte und Plötzen und ab und zu gab es lange Wasserpflanzen. (die hat natürlich mal jemand ausgesetzt)
Mittlerweile hat sich das Biotop belebt und es gibt Faulschlamm und Schilf. Aber das Wasser ist noch immer wunderbar klar.

Wir schwammen drauflos und im Gegensatz zum letzten Schlachtenseeschwumm fiel es mir leicht. Das Wasser war wie Seide, es war weder zu kalt, noch zu warm und mir war die fehlende Sonne sehr angenehm. (der Graf vermisste sie, ihm war zu kalt) Was die Distanz betrifft, war ich eher vorsichtig. Der See und das Umland haben wenig Orientierungspunkte, man verschätzt sich so schnell wie in den Bergen mit den Entfernungen. Wir schwammen eine geschätzte Dreiviertelstunde und drehten dann wieder um. Den Rückweg blieben wir am Ufer, denn die Wolken türmten sich etwas gewittrig auf, fand der Graf.
Ich bekam beim Anblick der Badenden einen meiner seltenen heftigen Ostalgieanfälle. Einfach nur nackte, badende Leute, die Spaß hatten. Kein „Boah, die Titten springen beim Rennen, was ne Schlampe!“, kein „Oh Gott! Sind meine Bauchmuskeln definiert genug?“, kein „Ich bin mit Kleidergröße 40 zu fett, um am Leben teilzunehmen!“, kein „Ein männliches Geschlechtsteil! Wi-der-lich!!“
Verklemmte Geilheit ist ein Westimport.

Nach dem Schwimmen ging es mir immer noch sehr gut. Diesmal blieben Erschöpfung, Angst und Frieren aus. Das „Ich fühle mich einfach gut!“-Gefühl früherer Zeiten kam zu Besuch.
Wir machten auf der Rückfahrt noch eine Stunde Zwischenstop bei meinen Eltern. Ich rief erst kurz vorher an, um einen Riesenbohei und zu große Erwartungen zu vermeiden. (Ist das in anderen Familien auch so? Bei uns ist es üblich, wenn die Verwandten älter werden, sie oft spontan zu besuchen, um zu vermeiden, dass sie Tage vorher Vorbereitungen treffen, einen Stunden vorher erwarten und eine halbe Stunde Verspätung oder ein „Du, ich kann jetzt nicht so viel essen!“ eine Katastrophe darstellen.)
Ich hatte die Johannisbeertarte eingepackt, aber bei den alten Herrschaften war das Abendbrot schon abgeschlossen, um 18:30 Uhr, das war früher bei den beiden nienienie so.
Beim Anruf hatte ich erstmal die Stimmung gescannt. War meine Mutter wieder mal krank? Grantelte mein Vater wieder mal im Keller rum? Die Aura lebensfrohen Optimismus‘ haute ich fast um. Der Graf und ich aßen den Kuchen, wir plauderten und ich war wirklich völlig von den Socken. Da saßen zwei entspannte alte Leute, die ein moderates Abendbrot eingenommen hatten und beteuerten, sie wären völlig satt (in unsrer Familie ist man Streßfresser und -trinker, muss man wissen). Im Garten, wo ich vier Wochen vorher eine kleine Initialzündung gegeben hatte, waren die Arbeiten weiter gediehen. Die Dauerbaustelle war weg. Das Hüttchen war sauber und aufgeräumt (muss man auch wissen: meine Mutter sieht ihr Heil nicht in Housekeeping, dafür hat sie nicht studiert).
Wenn das nicht Zufall war, dann hat sich mit Lottes Heimgang viel zum Guten gewendet. Was Wunder. Ist doch mein Vater nicht mehr dem Dauervorwurf ausgesetzt, der störende Vollpfosten zu sein, egal, was er tut, und meine Mutter ist die Bürde der bedürftig-kranken, besondere und im Maß unerfüllbare Aufmerksamkeit beanspruchenden Mutter los, die sie seit ihren Kinderjahren begleitete.
Wir haben alle lange Ehen und familiären Zusammenhalt als Ideal. Aber zu begreifen, wie viel Energie manche dieser Konstellationen kosten, wie viel verlorene, verdorbene Lebenszeit sie bedeuten, das ist bitter.

Auf der Rückfahrt nach Berlin griff der Liebe Gott mal in die Kiste  für visuelle Spezialeffekte. Gewitterwolken, Schönwetterwolken, einfach-so-Wolken, blauer Himmel und Sonnenuntergang machten dieses Bild:
Augustabend
Der Abend war kurz, ich fiel sehr schnell todmüde ins Bett und auch dem Grafen ging es nicht anders. Er sah sich nicht einmal mehr in der Lage zum Burger- oder Falafel essen das Haus zu verlassen, zu anstrengend.