Sonntagsmäander in Dunst und greller Sonne

Das Programm für die letzte Woche war mal wieder schneller auseinandergeflogen, als ich „Wäh, ist mir übel!“ sagen konnte. Also noch eine Woche Komaschlaf™, Krankensüppchen und Genesungsspaziergänge.
Die Ärztin, der ich die Ohren volljammerte, verschrieb mir etwas, das zu helfen scheint, denn die Spaziergänge wurden automatisch immer länger, bis tief in den Wedding, Rösselsprünge durch Mitte, Kreise um den Alexanderplatz.
Die Ponybar hat geschlossen, der Münzsalon ist ein Teil eines Tommy-Hilfiger-Ladens, das Alt Berlin ist auch weg.
alt-berlinEs wird Zeit, die großen Straßen endgültig den Ketten und den Touristen zu überlassen, die das große Style-Abenteuer suchen und dann doch bei H&M kaufen.
Die Nebenstraßen sind ganz anders, jeden Monat ein neues Geschäft, viele sind auch ganz schnell wieder weg. Kleider, Papier, Innendeko, Seife, Taschen, textiles Schnuppsi und Schnulli aus der halben Welt. Viele Dinge, die die Globalisierung noch nicht erreicht hat, Kleinserien, Einzelstücke. Vieles von fragwürdigem Gebrauchswert und manches hinreißend schön und oft gar nicht so teuer, aber auch nicht massenproduktionsbillig.

Ich lese gerade viel Papierbücher aus der Bibliothek, was im Schlafzimmer eine Herausforderung ist, weil mir mittlerweile das Leselicht fehlt und auch gar nicht so einfach zu ersetzen ist. Leselampen sind entweder technisch konstruiert, strunzhäßlich und machen grelles Halogen-Licht oder mit Pseusodesign versehen und genauso dunkel wie die orangefarbene Plastiklampe von Ikea, die seit Jahren neben meinem Schlafplatz steht. Schöne und praktische Leseleuchten fangen über 200€ an oder müssen in die Wand gebohrt werden.
Gestern habe ich Die gleißende Welt* von Siri Hustvedt begonnen und freue mich über die gargantuanische Frauenfigur. Groß, massig, dominant, allen Alphamännchen, die ihre Bedeutung durch Kleinermachen ihres Umfeldes herstellen, eine Pein.
Es gibt in der Bibliothek natürlich auch eBooks. Im Bereich Belletristik sind von 4.000 Exemplaren 20-30 verfügbar. Die meisten davon in Fremdsprachen. Manchmal ist auch ein deutschsprachiges Buch darunter, aber merke: Nie vor Wochenenden.
Wie das mit den Hörbüchern funktioniert, hab ich noch nicht kapiert, es gibt so gut wie keine Hilfefunktion. Man bekommt eine wmf-Datei (also Windows-Format), die angeblich auch auf dem iPod laufen soll. Ich habe das aber noch nicht hinbekommen. Wahrscheinlich sind auf Grund der technischen Schwierigkeiten noch so viele Hörbücher verfügbar.

Am Freitag habe ich mir im Nähmaschinenladen Overlockmaschinen angesehen. Ich hatte ja etwas Angst vor den Teilen, weil das Messer in Fingernähe ist und ich nur die Industrieoverlock der Exschwiegermutter kannte. Aber es ist ungefährlich, die Verkäuferin hat es mir vorgeführt.
Ich habe mittlerweile einige Meter Jersey im Schrank, auch das Manomama-Überraschungspaket bestand zu 90% aus Jersey. Ich werde wohl etwas Neues lernen müssen.

Die nächste Woche besteht in erster Linie darin, die liegengebliebenen Dinge nachzuholen. In der Hoffnung, dass ich jetzt endgültig gesund bin.

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Veröffentlicht unter Leben

Vigil 03

Als sich nach dem Fall der Mauer der Staub wieder gelegt hatte und ich weitere Pläne machte, distanzierte ich mich von denen, die jammernd im Osten saßen und nach der Wahnsinn-Euphorie neu anfangen mussten. Ich war anders, ich hatte es durchschaut, ich konnte Kapitalismus. Heute nenne ich es Überanpassung. Ein Lebensmotiv, das sich durch meine Existenz zieht, ich habe das erst spät erkannt.
Heute merke ich, wie fremd ich vielen bin, denen ich mich nahe glaubte. Es ist ein Unterschied, eine westdeutsche oder ostdeutsche Provinzkindheit erlebt zu haben, auch wenn man sich in der Metropole trifft und eine Sprache spricht.
Ich kann Soboczynski hier nicht in allem folgen, weil ich nie zur kleinbürgerlichen Welt der Obrigkeitsuntergeordneten gehört habe. Ich habe an Internationalismus und Solidarität geglaubt. Wenn auch der Internationalismus eher etwas mentales war, das rote Band der Ideologie, das sich durch die Welt und über oft unüberwindliche Ländergrenzen zog. Aber er hat recht, wenn er sagt, dass im Osten keiner mehr einen Pfifferling auf Menschheitsbeglückungsutopien gibt.

Es gab (…) den neuen, den antirassistischen und antifaschistischen Menschen nicht, trotz jahrzehntelanger Propaganda und Erziehung.

Mir sind besorgte Bürger fremd. Veränderungen aufzuhalten hat noch nie etwas gebracht. Für Dummköpfe und Idioten halte ich sie trotzdem nicht. Ich sehe noch andere Dinge, wenn ich Sachsen oder Erzgebirgler auf der Straße sehe. Es scheinen die zu sein, die vor 25 Jahren mit klammen Gefühlen dageblieben waren, die aus ihrer Perspektive der Herrschaft des Geldes nicht strahlend in die Arme gelaufen sind. Die, wenn sie sich in der Probezeit im neuen Job mit Grippe krank melden, damit rechnen müssen, am Nachmittag des gleichen Tages eine Kündigung im Briefkasten zu haben. (Aber das ist eine andere Geschichte.)

Wenn die Filmemacherin Réka Kincses erzählt, finde ich mich wieder. In den Fahrten durch Polen sehe ich in manchen Gegenden die blühenden Landschaften aus Kohls Versprechung. Arbeit, Vollbeschäftigung, kleines Wirtschaftswunder. Aber der Preis der dafür bezahlt wurde, was sehr hoch. Ich wäre heute eine verbrauchte Frau mit schlechten Zähnen, die akkurat auf den äußeren Schick achtet, wäre ich als Polin in den 60er Jahren geboren. Die Generation, die nichts geschenkt bekam. Die Ostdeutschen durften eine andere Tür nehmen und diesen Kredit zahlen sie noch heute ab.

Vigil 02

Heute beim Genesungsspaziergang von Mitte nach Wedding über den Hof der Factory gelaufen. Ein junger Mann mit beuligen Hosen und Wanderschuhen telefonierte sehr agitiert mit seinem Phablet, die Hülle des Gerätes hing ihm halb vor den Augen. Er pitchte wohl gerade seine neueste Idee:

So was wie Tinder-Separees im Real Life für Business-Kontakte. Du kannst zu den Kontakten hingehen, dich informieren, aber im Gegensatz zu Speed-Dating kannst du weggehen, wenn es dich nicht interessiert und musst die Zeit nicht abwarten.

Gratuliere junger Mann, was du da neuerfunden hast, heißt Messe. Ich möchte nicht wissen, was sonst noch in deinem Kopf unterwegs ist.

Vigil 01

Seit dem Jahreswechsel 2 Wochen gesund gewesen. Den Rest entweder ganz krank, halb krank oder in einer zähen Erholungsphase. So langsam schlägt mir das erheblich aufs Gemüt. Ich bin schon fast bereit für Alternativmedizin.

Ich denke in diesen Tagen über Menschen nach, die ihre Gewichtsreduktion öffentlich zeigen. Das kann jeder machen, wie er will, ich denke halt nur darüber nach. Ich bin da furchtbar zwiegespalten. Einerseits verstehe ich, dass Menschen ihre Freude über eine von ihnen ersehnte wichtige Lebensveränderung mit anderen teilen wollen. Die „Rezepte“ auf diesem Weg dorthin sind interessant, aber eigentlich seltenst auf andere wirklich übertragbar.
Richtig schwierig finde ich den Trick, diesen Vorgang öffentlich zu machen, um sich selbst Druck aufzubauen, weil man ein Publikum nicht enttäuschen möchte. Sich dem öffentlichen Urteil über einen Körper also völlig ausliefern. Vielleicht sehe ich das aber auch falsch. Vielleicht ist es auch Suche nach Unterstützung, Selbstvergewisserung.

Früher empfand ich es als normal, ständig zu thematisieren, dass ich zu dick bin, zu viel esse oder abnehmen müsste. (Das klassische „du bist ungenügend“.) Das Kind hat mich irgendwann darauf hingewiesen, dass dieses Thema eine zeitlang bei mir sehr dominant war. Mit der Bemerkung versehen, dass sie davon genervt ist.
Ich musste in den letzten Jahren ohnehin in der Hinsicht demütiger werden. Ich habe zwanzig Jahre geglaubt, Brain, Myself and I könnten den Körper herumkommandieren und er hat sich ganz gern mit anarchischen Aktionen gerächt. Irgendwann er er mir ohnehin ziemlich dominant den Mittelfinger gezeigt und sein Ding gemacht. An das Jahr, in dem ich manchmal Atembeschwerden hatte, weil meine Kleider schon wieder zu eng geworden waren, erinnere ich mich ungern. Das war der Moment, wo ich kapieren musste: Ok., das ist ein gleichberechtigter Partner, kein Arbeitspferd, das ich zuschanden reiten kann. Bzw. ich kann das schon, nur dann haben Brain, Myself and I ein ziemliches Problem.
Primavera hat mir auch auf die Sprünge geholfen. Die Abmachung, die sie mit ihrem Körper getroffen hat: „Du bekommst alles, was du brauchst und jederzeit, dazu bleiben wir eng in Kontakt“, fand ich gut. Das braucht natürlich Entspanntheit und Zeit und nicht Hetze und Verbiegen für die Erwartungen anderer.

Aha. Jetzt fange ich auch schon an, zu missionieren. Ich würde mit Sicherheit nicht so viele Zeichen zum Thema „auf der Suche nach dem perfekten Sex“ schreiben. Dabei ist das Sich-Wohlfühlen in dem eigenen Haus aus Fleisch und Blut genauso privat und intim.

Eines kann ich schon mal festmachen: Es ist mir mittlerweile völlig egal, was andere sagen, wie sie das Aussehen meines Körpers bewerten und mein damit verbundenes Verhalten. Es ist mir nicht egal, wie es mir geht. Wie ich mich bewegen kann, was schmerzt, wie ich atme, wie es sich anfühlt, wenn ich gehe, stehe oder liege.

Das ist doch schon mal was.