Heißes Pflaster, heiße Klopse

… da ist Kitty, die olle Klopselfe nicht weit.
Der 15. BlogNBurger-Treff war schon lange im voraus geplant. Denn im Winter hätte die burgerkauende Nerdherde weder in der Limited Edition und schon gar nicht in voller Besetzung ins BerlinBurger International gepasst, weil der Laden ein Stehimbiss ist. Deshalb lautete auch die wichtigste Anweisung von Chris: Klappstühle mitbringen.
Seit meinen Kajakistinnenzeiten bin ich ganz gut outdoorfähig. Zelt, Isomatte, Schlafsack, alles da und dann eben noch diese Faltstühle mit Cupholdern, die vor 12 Jahren schon gute Dienste in Grünau auf dem Steg leisteten, damals noch Import aus Amerika waren und nun in jedem Baumarkt erhältlich sind.
Wir schnallten diese Teile aufs Rad und fuhren nach Neukölln. Die Pannierstraße in Richtung Sonnenallee, das war meine alte Area, als ich noch im X-Berger Loft wohnte. Das Gemisch aus Asitrödel-Läden, Betroffenenvertretungen, Absturz-Bierkneipen („Dienstag – Futschitag!“) und türkisch-arabischen Teestuben/Friseuren/Imbissen verschiebt sich mehr und mehr in Richtung Gentrifizierung. Die Zeit der Tarte-Cafés, Burgerläden und ironischen Klamottenshops in (noch) billigsten Mietverhältnissen ist gekommen.
Als wir mit einer halben Stunde Verspätung ankamen, sah es schon aus wie in einem Heerlager, kam doch zur BlogNBurger-Mannschaft noch die ganz normale Wahnsinnskundschaft. Der Laden rechts (der ein hübsches türkisches Lockenstübchen werden soll), baute grade das Schaufenster ein, die Bauarbeiter kotzen ob der Belagerung des Gehweges. Der Laden links richtete für 48 Stunden Neukölln HipHop-Beschallung ein und scheuchte alle Leute mit „Ey, wir machen hier Soundcheck!“ weg.
Blieb nur noch der Radweg, der ohnehin von den HipHop-Menschen ein Stück weiter vollkommen abgeriegelt war.
Also klappten wir dort unsere Stühle und den kleinen Tisch (auf dessen Mitnahme ich bestanden hatte) auf, bestellten und nach gut 45 Minuten: Voilà!

20130616-120322.jpg

Foto: @nachholer

Madame hatte gut Mühe, ihr neues himmelblaues Kleid nicht zu bekleckern. (Zum Kleid später…) Mir schmeckte es gut, aber ich habe den Eindruck, dass der Grund, warum sich das Zsa Zsa Burger in meinem Kopf so hartnäckig auf der Hitliste ganz oben hält, hat auch mit der dortigen Esskultur und dem Ambiente zu tun. Was die Jungs vom BBI braten ist allererste Liga, das gute Essen ist aber zwischen angeschlossenen Fahrrädern, startenden Bussen und an der Ampel wartenden Autos fast vertan, zumindest für so Spießer_innen wie mich. (Und das wäre unter Normalbedingungen in dem dusteren, lauten Stehimbiss auch nicht anders.)
Nach dem Essen gings an Socialising, das wurde leider erschwert durch den Umstand, dass nach dem Soundcheck bei HipHops nebenan die Musik losging. Es war zwar alles noch Mainstream, Beastie Boys und so, nicht zu vergleichen mit der Aggro-Mucke, den die Pubi-Türken über Handy-Lautsprecher  im neben uns haltenden M29 sonst hören. Aber die Verständigung war fortan unmöglich, es sei denn, man stellte sich vor das Friseurstübchen.
Für mich braute sich dann auch schnell eine kritische Situation zusammen: Viele Leute, der Sound trat mir in den Solarplexus, Lärm,  zu viele Informationen. Ich drängte auf baldigen Aufbruch und wir radelten heim nach Mitte. Dort verbrachten wir den milden Sommerabend auf dem Sofa, hörten Haydn und Vivaldi, träumten etwas und tranken eine Flasche Rosé-Cremant.
Das gute Leben.

Nachtrag zum Thema Selfpublishing von eBooks

Der Graf und ich waren gestern auf einer Diskussion, in der es um Selfpublishing und dort vor allem um eBooks ging. Nun ist der Graf von Hause aus Büchermacher, ob eBook oder Print. Ich stehe an seiner Seite und arbeite ihm gern zu.
eBook-Verlegerin Christiane Frohmann hatte in den Katersalon eingeladen und Leander Wattig war Gast. Die  beiden waren ein gutes Team, gingen sie doch an das Phänomen Selfpublishing völlig unterschiedlich heran. Christiane Frohmann leidenschaftlich-praktisch, Leander Wattig mit einem rationalen Zahlenwerk und Fakten. Am Ende der Diskussion hatte ich eine Idee und beim Nachhausefahren dachte ich noch weiter drüber nach.

Die Film- und Musikindustrie haben Vorsprung

Denn ich hatte in der Filmbranche schon einmal so einen Umbruch von Produktions- und Distributionsmethoden erlebt. (Über die Musikindustrie kann ich nicht sprechen, da habe ich keinen Einblick.)
Zuerst waren die Digitalkameras da. Sie erlaubten es, ohne großartigen technische Aufwand (Licht, Ton) am Set zu arbeiten. Dann kamen die Schnittprogramme, der großzügige Speicherplatz und die Kompressionsmethoden. Am Schluss revolutionierte sich die Distribution: Man musste nicht mehr auf die Gnade des Kinoverleihers oder Fernsehsenders warten, um Menschen zu erreichen, sondern es gab Videoplattformen. Zuerst mit Kurzmetragen, jetzt lassen sich ganze Filme streamen. Nun kann man so argumentieren, dass damit eine Industrie und ihre Erlösmodelle diskreditiert werden. Aber seien wir ehrlich: Nur für wenige Kreative war Filme machen früher wirklich Lebensunterhalt.
Die Industrie mag zunächst unter den unkommoden Veränderungen leiden, Supertanker haben sich immer schwer mit Kursänderungen. Die Kreativen selbst bekommen ungeahnte Möglichkeiten und Freiheiten, aber sie verdienen nicht unbedingt mehr Geld. Sie rennen sich nur nicht mehr am Bollwerk der Industrie den Kopf ein, die darüber befindet, ob ihre Schöpfung ein Publikum finden sollte oder nicht. Sie sind nun gleichberechtigter ebenfalls Marktteilnehmer. Die Filmindustrie ist deshalb nicht implodiert, aber sie hat Konkurrenz bekommen und die Möglichkeit, aus dieser Konkurrenz neue Impulse zu beziehen.
Wer heute einen Film macht und irgendwie anders vor die Kamera will, um Geschichten zu erzählen, hat für die Verbreitung eines der zahlreichen Videoportale. Mit Werbeeinblendungen verdienen häufig geklickte Filme Geld, nicht anders als im Privatfernsehen. Da die Produktion von komplexem Content eine Menge Zeit und Kapital erfordert, bleiben die Produkte der jungen Industrie zunächst unaufwändig und leben ungewöhnlichen Einfällen oder Symbolen und Collagen und natürlich vom Hook, der populären Idee. Es sitzt ein Typ vor der Kamera und erzählt einen Witz, Anwendungen wie Vine lassen schnell kleine Filme entstehen oder es entwickeln sich Spin ofs auf der Basis populärer Geschichten (Man denke an die Star Trek Neusynchronisationen).
Nicht wenige Macher werden dann für die Entertainment-Industrie interessant. Ob sie sich an die Marktorientierung anpassen können und wollen, ist fraglich. Es wird ihre Produkte verändern, sie werden perfekter, aber auch massentauglicher. Der Return of Invest ist dann ein wichtiges Kriterium.
Es entwickeln sich außerdem neue Finanzierungs- und Beteiligungsmethoden: Crowdsourcing, bestes Beispiel: Iron Sky oder die frühen Lars von Trier-Dogma-Filme, die über Pornos querfinanziert wurden.

Zurück zum eBook und zur Chance von Selfpublishing

Buch ist älter als Film. Somit sind alle Strukturen sehr traditionell. Schriftliche Literatur wird vom Einzelnen produziert. Oder formulieren wir anders: Ein Schöpfer steht für das Produkt, obwohl an seinem Marktauftritt noch einige Menschen im Hintergrund beteiligt sind, Lektoren, Grafiker etc. Damit sind Beteiligungen an der Produktion für Ruhm und Ehre relativ schwierig. (Ich behauptete gestern in der Diskussion Gegenteiliges) Aber das „how to make a Book“ ist nicht in Erz gegossen. Wer andere Menschen zur Kooperation motiviert, kann ihnen eine Referenz- oder Mitbestimmungs-Plattform bieten. Beim Hartz IV-Möbel-Buch, das Leander gestern als Beispiel anführte, hat das hervorragend geklappt.
-> Bleibt nicht Einzelkämpfer, gewinnt Unterstützer zum Lektorieren und für die Gestaltung  des eBook. Beteiligt diese Unterstützer nachfolgend an den Einnahmen, ladet sie zum Essen ein und nehmt sie präsent in die Credits auf.

Künstlerische Tätigkeit braucht Zeit und Zeit ist Geld. Für ein eBook im Selfpublishing würde ich nicht als erstes den klassischen 1000-Seiten-Roman einsetzen, an dem ich drei Jahre geschrieben habe. Zunächst eignet sich dieses neue Medium, diese neue Herstellungs- und Distributionsform für Kurzformate und Experimente.
Leander Wattig erwähnte gestern Amazon und deren Experiment, ein Portal für Fanliteratur zu etablieren und die Autoren von Rechtsstreitigkeiten freizustellen. Ein Versuch, das Youtube der Literatur zu schaffen, ohne blöde „in deinem Land aus Urheberrechtsgründen ist das Buch nicht verfügbar“-Blocker. Ich finde das genial.
-> Setzt eure Schöpfungen klug ein. Experimentiert mit Kurzgeschichten und literarisch ungewöhnlichen Formaten. Versucht nicht, die Holzmedien zu kopieren. Macht, was ihr wollt und was euch Spaß macht. Seid exzellent, ohne zu fragen, ob das jetzt richtig ist.

Es war schon vorher die Rede davon, das junge Medium bietet eher die Chance auf Ruhm und Ehre als auf Millionen. Ein Autor hat mit Selfpublishing die Möglichkeit, sein Schaffen und sich selbst als Marke zu etablieren. Bevor die klassische Verlags-Industrie es abschleift, kann man sich selbst und seinen Schöpfungen ein Profil geben. UNd manchmal geschehen auch kleine Wunder und aus Twilight Fan-Literatur wird der Millionenbestseller 50 Shades of Grey. (nicht vergessen, daß hier sehr viel frauenaffiner Sex eine Rolle spielte)
-> Zeigt euch und euer Können. Schamlos. Ihr könnt eure eigenen Popliteraten und Fräuleinwunder sein. Dafür braucht es keinen Verlag, der euch entdeckt.

Der Mann an meiner Seite runzelt die Stirn, seine Verlegerseele knurrt leise. Braucht es denn überhaupt noch Verleger?
Christiane Frohmann hat als Verlegerin mit ihren Twitterbüchern einen interessanten Ansatz gefunden, bei dem ich gespannt bin, wie Sammlungen von Tweets von Leuten aufgenommen werden, die nicht Twittern. Wie werden diese Texte aufgefaßt? Was bedeuten sie ohne die Echokammer Twitter?
Für mich selbst war es schwierig. Ich versuchte das erste eBook, das sie verlegte, zu rezensieren und scheiterte. Eine Twitterin, die ich ungeheuer schätzte, konzentriert auf ein eBook, war plötzlich in einem Genre angesiedelt, mit de ich so gut wie garnichts anfangen konnte. Ich mag keine Aphorismen. Und diese Bedeutungsverschiebung erfuhren die Texte plötzlich für mich.
Und doch. Es tritt nicht nur eine neue Autorengeneration an, es wird mit ihnen eine neue Verlegergeneration kommen. Schnell, neugierig, die Nase im Wind. Wer um die Wirkungsmechanismen von Literatur weiß und Texte aus interaktiven Contentmanagementsystemen herauspräparieren und sie strahlend präsentieren kann, dem gehört die Zukunft.
-> Wartet nicht nur darauf, dass euch die klassischen Verlage ansprechen, in ihren Villen und Bürohäusern ist das Leben nicht süßer. Sucht euch Weggefährten und Mitstreiter, die so wie ihr Neuland betreten wollen.

Familienfrieden

Es war eine gute Beerdigung. Vor der Urne stand eines der wenigen Fotos, auf denen Oma Lotte lächelte. (Das hatte sie seit der Jungmädchenzeit nicht mehr getan, auf Fotos gelächelt.) Meine Mutter hielt eine sehr schöne Rede. Eine grau getigerte Katze folgte für eine Weile unserem kleinen Trauerzug, sie schaute wissend herüber. Es hat sich vollendet.

Ich wunderte mich, dass Pfleger aus dem Heim gekommen waren. Meine Mutter meinte: „Aber die mochten sie doch so sehr, sie war doch so lieb!“ Erst schob ich das auf massiv einsetzende Verklärung ihrerseits. War doch meiner Mutter Lottes Schimpfen und Wüten gegenüber dem Pflegepersonal sehr peinlich gewesen. Dann fragte ich noch einmal nach.
Charlotte musste in den Wochen vor ihrem Tod eine starke Veränderung durchgemacht haben. Woran das lag, kann ich nur spekulieren.

Vielleicht an den Wohnbedingungen? Seit sie verheiratet war, wohnte sie in modernen, Wohnungen für Kleinfamilien und Alleinlebende. Das Siedlungshaus der 30er, der 60er, der Plattenbau. Sie alle waren klein, praktisch geschnitten, hell und hatten große Fenster und niedrige Räume. Als sie hinfälliger wurde, zog sie in ein Haus mit betreuten Wohnungen. Für unsere Generation ein Traum. Ein denkmalgeschütztes Bürgerhaus aus dem frühen 18. Jahrhundert, sehr schön wieder hergerichtet, zwei Steinwürfe von der Wohnung meiner Eltern entfernt gelegen. Sie bewohnte dort ein zwei Zimmer mit Blick auf den Anger, mit hohen Decken und kleinem Balkon. Es gab einen sehr schönen Remisenhof und im Erdgeschoß einen Gemeinschaftsraum. Kurz nach dem Umzug wurde sie schwer depressiv. Sie weigerte sich, an Gemeinschaftsunternehmungen teilzunehmen und ging nicht vor die Tür. Ein paar Jahre später konnte sie nachts nicht mehr allein bleiben und zog ein paar Häuser weiter. Das ganze Viertel wurde in der gleichen Epoche gebaut. Diesmal wohnte sie mit Blick auf den Remisenhof in einem hübschen kleinen, aber im Winter ziemlich düsteren Zimmer. Sie saß oft stundenlang im Dunkeln – man müsse schließlich Strom sparen.
Die Einrichtung war als WG konzipiert, mit Gemeinschaftsklos und -bädern und einer Küche auf jedem Stockwerk. Die Insassen waren dafür aber zu hinfällig. Deshalb nutzte niemand die Küche zum Kochen, die Mahlzeiten wurden in den Gemeinschaftsraum angeliefert. Es gab einen sehr komfortablen Betreuungsschlüssel, eigentlich war immer etwas los: Basteln, Backen, Singen, Zeitung lesen, Vorlesen, das Personal war sehr liebevoll und kreativ. Aber Lotte weigerte sich mit Händen und Füßen, in diese Gemeinschaft zu gehen und wurde bitter böse und wütend.
Da die WG nicht kostendeckend geführt werden konnte und aufgelöst wurde, musste sie kurz vor ihrem Tod noch einmal umziehen. In ein Pflegeheim in einem Plattenbau mit großen Fenstern und hellen kleinen Zimmern mit Bad, krankenhausähnlich. Plötzlich veränderte sie sich. Sie wurde freundlich, offen und fast gesellig. Was sie in den letzten Jahren nie getan hatte, holte sie in den wenigen Tagen, die ihr bleiben, nach – sie nahm sich ihren Rollator und war im Haus unterwegs. Sprach mit dem Personal, erzählte Geschichten, ging zur Sportstunde. So wie sie es früher so oft im Krankenhaus getan hatte, wo sie die nie klagende, starke, pflegeleichte Patentin war.

Was ich daraus folgere? Man kann alte Bäume zwar verpflanzen, sollte ihnen aber von der Umgebung her nicht zuviel Veränderung zumuten. Geübte Lebensformen gehen immer. Wer sein Leben lang allein, in der Kleinfamilie oder als Paar gelebt hat, versteht keine WG. Das können nur Althippies und Schweizer Mägde und Knechte (danach kann man bei Spiegel online googlen). Das scheint auch Lebensräume zu betreffen. Wer sein Leben lang im eigenen Haus mit Garten oder in der großen Altbauwohnung gelebt hat, geht im Plattenbau ein wie ein Primelpott und – siehe hier – umgekehrt. Wer modernes Wohnen gelebt hat, geht nicht mehr hinter meterdicke historische Mauern.

Es gibt noch eine zweite Interpretation: Schicksalsergebenheit. Für mich war klar, sich zu wehren und Widerstand zu leisten, gehörte zu ihren Leben. Sie hat sich 20 Jahre gegen eine schwere Krankheit gewehrt. Irgendwann sagte ich auch mal zu meiner Mutter, als sie sich wieder über einen Ausbruch beklagte: „Solange sie das tut, ist sie noch fit. Wenn sie friedlich wird, hat sie sich ergeben.“ Scheinbar war es so.

Es tut mir leid*

hier sind keine Bekenntnisse zu erwarten. Ich eignete mich nicht zum Mobbingopfer, weil ich zu weit außerhalb der Hackordnung stand, man hat außer Versuchen nicht einmal die Energie aufgebracht, mir diese Beachtung zu schenken. Meine Reaktionen waren auch nicht adäquat. Entweder ich verstand nicht, was die Leute von mir wollten oder wenn ich es verstand und es mich ärgerte, habe ich ziemlich kompromisslos zugeschlagen. Dann war die Sache erledigt. Oder ich zog mich zurück. Ohnehin meine normale Existenzform.
Ich hatte auch nicht den Drang mitzumobben, weil mir jegliche Gruppenveranstaltung zuwider war. Einmal klinkte ich mich nach langem Zuschauen in so eine „Iiiii die stinkt!“-Sache ein, in der fünften Klasse, mit einem Satz. Und dem Gedanken: Komisch, dass andere so was toll finden. Einen Tag später musste ich zu Direktorin und bekam den Kopf gewaschen. Ich, allein. Meine Erkenntnis daraus: Aha, wenn man so was macht, muss man sich danach rechtzeitig verpissen oder leugnen. War nicht meins.
Im Täter und Opfer sein war ich wahrscheinlich ganz normal. Wie das so ist auf dem Schulhof, mal fängt man einen Spruch oder einen Tritt, mal kommt einer zurück.
Ansonsten bin ich im Nachhinein ob der Geschichten anderer erstaunt, wie harmlos meine Plattenbaukindheit in den 70ern war. (die Zeit vorher als Kind allein in einem Riesengarten zählt nicht). Im Kindergarten gab es Hänselchöre. Ich sei ein Angeber. Ja, für mich war es normal, zwei Wochen in den Winterurlaub zu fahren. Aber ich wollte da sowieso nicht hin, also in den Kindergarten, zu viele andere Kinder, zu laut, zu hektisch. Also klappte ich die Ohren zu.
Die Schule schaffte es, eine Menge verschiedener Kinder zu integrieren. Bis auf die ein, zwei ganz gestörten Aggros, die um sich prügelten, nichts lernten und den Unterricht unmöglich machten, integrierte meine Schule so ziemlich alle. Es gab sogar einen autistischen Jungen, der in der Pause in der Ecke stand, mit dem Gesicht zur Wand, immer mal mit den „Flügeln“ schlug (er ruderte mit den Armen als wolle er losfliegen), der aber für keinerlei Kontakt zu haben war, weil er dann schreiend und schlagend auf alle losging. Deshalb hielt man sich fern von ihm und er war ein irre guter Schüler, solange er nicht reden musste. Auch ein schwer verhaltensgestörtes Mädchen fand Hilfe in der Klasse, obwohl sie schwierig war und ich bis heute noch nicht weiß, ob die Horrorgeschichten, die sie über ihre Stiefmutter erzählte, wahr oder ausgedacht waren.
Ansonsten gab es viele Dinge, für die man heute Schulpsychologen bemühen müsste: Gut über die Population verteilte, meist unblutige Prügeleien, Mappen und Mützen flogen über die Zäune, kleine Aggressionen. Aber selten etwas, das wirklich Grenzen überschritt und das hatte dann schnell Konsequenzen. Es gab lange Geduld mit einem Jungen, der wie ein gereizter Pitbull war (diese Aggro-Jungs waren alle aus ähnlichen Familien), als er eine schwangere Lehrerin trat, war die dann zu Ende. Eine Erzieherin attackierte einmal meinen Bruder. Das war eine absolut schräge Sache. Aber auf die Beschwerde meiner Eltern gab es eine Reaktion. Ein sadistischer Sportlehrer wurde von Vätern, die sich zusammengefunden hatten, grün und blau gehauen. Die soziale Kontrolle im Viertel war dörflich engmaschig. (Vielleicht hat Unfreiheit Vorteile für Leute, die mit Freiheit nichts anzufangen wissen.) Nichts, was man sich schönreden kann, aber es war scheinbar anders. Harmloser? Ich weiß es nicht. Es war keine gewaltlose Zone, über die plötzlich unmäßige Gewalt hereinbricht wie ein Vulkan, vor der alle hilflos wie die Hühner deeskalierend herumrennen. So kommt mir das heute manchmal vor.
Meine Außenseiterposition als dickes, nerdiges Mädchen war nicht immer angenehm. Einsamkeit und Unverstandenheit sind überhaupt nicht angenehm. Aber erträglicher als vieles andere. (Wenn es das Internet gegeben hätte, das wäre gut gewesen.)
Da ich mich nicht verstanden fühlte – ich las zu viele alte Romane und Lexika und hatte victorianisches Kopfkino, garniert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen – die Schule mich nicht wirklich ausfüllte, auch wenn ich im Unterricht abgestellt war, mich um schwächere Schüler zu kümmern (Sie merken, wir kommen zum zweiten Bekenntnisblock), ging ich mit 10 oder 11 Jahren, weil Socialising zu stressig war, einfach mehrere Wochen nicht mehr hin. Ich verpasste nichts. Heute würde man sagen unterfordert, hochbegabt. Klassen überspringen, das gab es damals nicht und dazu waren meine Fähigkeiten nicht ausgeprägt genug, ich war kein Superhirn. Nur eine normale Nerdesse. Außerdem: Hochbegabung hat einen Nutzen wie überirdische Schönheit. Man kann sie schmalspurig ausbeuten, aber sozial ist sieeher behindernd. Mein Vater und ich sind mit dem gleichen IQ geschlagen. Aber meine Grütze im Kopf verwandelt sich seit dem Burnout sofort in Popcorn, wenn ein Zeitlimit dazukommt. Nicht wichtig also, weil zu fragil.

*Keine Verteidigungsrede, kein Abwiegeln. Einer der besten Freunde hat tiefe Schäden von Mobbing aus der Kindheit davongetragen. Diese Wichser, die ihm das angetan haben, möchte ich noch immer umbringen, wenn ich auch nur die Andeutungen lese.

tl;dnr
Normalität ist eine Frage der Perspektive. Für Risiken und Nebenwirkungen konsultieren Sie die Gaußsche Normalverteilung. Es ist nie gut, in einer Gruppe von Schwachmaten der „andere“ zu sein.