Casting mal andersherum

Frau Crafteln hatte bei ihrem Bericht vom Casting gefragt, wer sich denn outen möge, auch dabei gewesen zu sein. Also, ja, icke.

Als die Nachricht in der Nähnerd-Community herumging, dass es einen deutschen Ableger des Great British Sewing Bee geben würde, dachte ich erst mal: Nee, das ist nicht deins. An 12-14 Stunden-Tagen Kamerafutter hergeben, zudem unter extremem Zeitdruck, das beinhaltete alles, was für mich gesundheitlich nicht gerade gut ist.
Aber ich war neugierig. Ich wollte es einmal erleben, wie es sich innen anfühlt, sein Können bei einer Auswahl für eine Fernsehsendung zu zeigen und ich wollte authentisch wissen, wie die Produktionsbedingungen bei Reality-Formaten sind. Und, mal den ganzen rationalen Quatsch beiseite, die kleine Diva in Miz Kitty war der Meinung, jetzt sei nun endlich der Zeitpunkt, als Star entdeckt zu werden, darauf wartet sie nun schon, seit sie 14 ist.

Vielleicht ein Einschub für diejenigen, die hier nicht schon lange mitlesen. Ich habe 15 Jahre lang für Kino und Fernsehen gearbeitet und ein Teil meiner Arbeit war, Leute auf Castings vorzubereiten, ihnen klar zu machen, wie sie sich von der Konkurrenz abheben, wo ihre Stärken sind und welche Schwächen eine Klippe sein könnten. Wenn jemand ein Casting gewonnen hatte, habe ich noch Bezahlung und Arbeitsbedingungen ausgehandelt und die Dreharbeiten unterstützend aus der Ferne begleitet und ggf. auch noch mal interveniert, wenn etwas nicht nach Absprache lief.

Das habe ich natürlich bei der Bewerbung nicht in den Lebenslauf geschrieben. Da ich immer für den Fiction-Bereich gearbeitet hatte, war es relativ unwahrscheinlich, dass mir im Reality-Bereich jemand über den Weg läuft, der oder die mich näher kennt. Also war ich die, die nach 20 Jahren wieder näht, weil sie in ihrer nicht näher bezeichneten Selbständigkeit kürzer getreten ist.

Erst einmal kam außer einer Eingangsbestätigung für die Mail eine ganze Weile nichts, nachdem ich die schriftliche Bewerbung losgesendet hatte. Dann, wie immer beim TV, sollte alles gleich, sofort und jetzt passieren. – Ich sollte nach ein paar Wochen Funkstille ein Telefon-Interview über meine Nähkünste und mich selbst geben.
Wenn man so hyperaktiv angerannt wird, muss man immer ein bisschen die Waage finden zwischen nicht engagiert genug oder überfallen, konfus und damit nicht gut wirken.
Aber es war ein nettes Gespräch und dann harrte ich weiter der Dinge, die da kommen sollten denn es sollte demnächst ein Casting in Berlin geben.

Als der Termin kam, meinte der Graf, er würde mich begleiten und so packten wir an einem Samstag die Nähmaschine zusammen und fuhren zum Nähkontor, ein wunderschöner Laden, der mich ganz doll und heftig an den Kurzwarenladen meiner Urgroßeltern erinnerte.
Was dann passierte, war das Filmübliche: Warten. Kurze Begrüßung und Einweisung. Wieder Warten. Fragebögen ausfüllen und kurzfristig rübergereichte Verträge unterzeichnen.
Ja, ich war die komische Olle, bei der die Praktikantin den Produktionsassi holen musste, weil ich einige Passagen  aus dem Vertrag streichen wollte. „Ja, dann kannst du leider nicht am Casting teilnehmen, das muss so!“ verfängt bei mir nicht.
(Nachdem eine sehr erfolgreiche Hollywoodproduktion überschüssiges Material in Videomaterialdatenbanken gab und die im Film eher winzige Rolle eines meiner Klienten als brutaler SS-Killer jahrelang zur ausführlichen Bebilderung von Geschichtsdokus herhalten musste, ohne dass er gefragt wurde oder einen Cent zusätzlich sah, bin ich da vorsichtig. Ich habe keine Lust, in einem Stockvideo unter „Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs“ oder „nähende Muddi“  oder so verwurstet zu werden.)

Ich war im ersten Nähdurchgang, wir nähten einen Tulpen-Rock von einem Independent-Label. Ein bisschen tricky war, dass es nur ein Bügelbrett und zwei Zuschneidetische gab. Was ich aber für mich löste, indem ich, als alle anderen sich noch ansahen, wer denn jetzt zuerst da dran möchte, schon mal anfing. Ich weiß, ich bin kein Teammensch.
Die Zeit für den Rock war ok. Heute, wo ich noch mehr im Training bin, wäre ich wahrscheinlich schneller. Die Sachen, die sonst immer bremsen – gut versäubern, anpassen etc. waren nicht gefordert. Aber es gab diese ganz ekligen Dinge wie einen innen umgeschlagenen Bund im Nahtschatten annähen und einen Reißverschluss einnähen, die ich ohne heften so gar nicht mag. Dann hatte ich noch den Belag für den Saum falsch herum angenäht und kam beim Handsäumen recht unter Druck. (Wo ich mitbekam, dass es tatsächlich Näherinnen gibt, die es nie gelernt haben, Handnähte zu machen.)

Zwischendrin kam auch mal die Kamera und es gab ein kleines Interview, da wußte ich von einem Jahre zurückliegendem Gespräch mit jemandem, der beim Promi-Dinner mitgemacht hatte, dass es hier wichtig war, mit guter Kamerapräsenz zu antworten, möglichst für den Schnitt mit nicht zu langen Sätzen, aber auch Grenzen zu setzen und das Gespräch zu beenden, wenn einem die Zeit wegläuft.

Danach war erst einmal Pause und es gab belegte Brötchen. (Wichtige Set-Regel: Nimm dir gleich was, bevor die hungrigen Praktikanten die Platten wieder wegtragen.)
Ich hatte mich ganz wacker geschlagen, in der Bewertung der Näharbeit wurde mein zu grober Handsaum kritisiert (den mache ich seitdem feiner und habe mir dazu auch feinere Nadeln gekauft) und der nicht perfekt umgenähte Bund. Ich fasse die Innenseite eines Bundes nämlich immer mit Band und schlage sie nicht nach innen um, darin hatte ich keine Übung.

Ich hatte Zeit, mit den Mitnäherinnen zu plaudern und lernte unter anderem Constance von Santa Lucia Patterns kennen, in deren Shop ich seitdem auch gern kaufe, zum Beispiel den Schnitt für das Kielo Wrap Dress und lief Frau Crafteln über den Weg, die in der zweiten Schicht nähte. Wir schlugen die Zeit mit Kaffee und Kuchen tot und warteten auf unsere Interviews.
So ein Casting ist ja eine Typbesetzung. Wenn du gut nähen kannst, ist das von Vorteil, aber es gibt eine Menge andere Kriterien – gute Ausstrahlung, Charisma, Unverwechselbarkeit, Kamerapräsenz, Streßresistenz und Belastbarkeit. Es wird – gerade in so einer Sendung, die ihre Kandidatinnen nicht verlacht und vorführt – vor allem nach Sympathieträgerinnen und auffälligen Identifikationsfiguren für die Zielgruppe gesucht.
Ich hatte mir vorher die erste Staffel des GBSB angesehen und außerdem The Great Baking Show und den deutschen Ableger, um zu sehen, wie die Unterschiede in Casting und Realisierung sind. Fazit: Was in England in zurückhaltendem Landhaus-Schick gestylt war, war in Deutschland knietscherosa und zum Zahnschmerzen bekommen niiiiieeeedlich.
Beim GBSB fiel mir auf, dass die Location der ersten Staffel zu eng war, die Kamera hatte kaum Platz für Totalen und dass die Wettbewerbs-Zeitpläne, die behauptet wurden, nicht stimmten, denn es war manchmal plötzlich dunkel draußen. Die alte Dame, die gewann, war eine wunderbare Verkörperung der „guten alten Zeit“ gemischt mit Moderne. Außerdem war zu sehen, dass es von jedem Typ nur eine/einen gab. Ein buntes Rockabilly-Girl, eine stille Hausfrau mit großen Träumen, eine herzliche, kluge dicke Frau, die alle überrascht, eine ehrgeizige junge Frau, die Designerin werden will, ein knuffiger Typ, der sich natürlich vollkommen überschätzt etc. pp.

Ich hatte überlegt, wo ich mich einsortierte und war bei der älteren Lady gelandet, wußte aber, dass ich dazu zu jung war. Im Casting plauderte ich nett und kamerapräsent mit der Producerin, aber es passierte das, was mir an der Stelle immer passiert. Ich war in tiefer Distanz zu mir selbst und fand das alles nix für mich. Ich wollte es nicht und war einfach nur müde.

Ich bin nicht umsonst seit 20 Jahren die, die mit den Worten „Showtime, Baby!“ jemandem die Federboa umlegt und einen Klaps auf den Hintern und ein kräftiges Toi-Toi-Toi später diesen Menschen auf die Bühne ins Rampenlicht schiebt.
Da fühle ich mich wohl, das ist mein Feld.

In den Wochen hinterher – es gab ja noch einmal eine Verschiebung um mehrere Monate – hoffte ich inständig, dass niemand anruft und sagt „Wir haben und für Sie entschieden, ist das nicht toll?“ Ich hatte gerade ganz andere Sorgen und musste dringend angestellt Geld verdienen, um die Krankenkasse wechseln zu können. Und solche Shows sind super anstrengend und ein Zuschussgeschäft.

Dann hörte ich von anderen, dass es los ging, ich war nicht dabei, hatte aber bereits meinen Job gefunden und mir fiel ein mächtiger Stein vom Herzen und ich fieberte lieber mit denen mit, die ich kannte.

Unter Nebel und goldenen Blättern

Eine Woche mit einer sehr guten Begegnung. Frau Crafteln und ich saßen lange und zeitvergessen in gastronomischen Einrichtungen in Berlin Mitte und erörterten inspirierende Themen von gegenseitigem Interesse. Unter anderem ging es um ihr demnächst erscheinendes Buch Nählust statt Shoppingfrust, das auch schon auf der Frankfurter Buchmesse auslag. Wenn auch scheinbar als Geheimtipp.

Später in der Woche ein klassischer Kitty-Bodenaufklatschtag, nachfolgendes Drama und in dem ganzen üblen Sch… eine Lösung, mit der ich nicht gerechnet hatte. Wenn das so klappt, wie angedacht, ist das wunderbar.
(Leider alles noch nichts für Klartext, weil ungelegtes Ei.)

Heute mal nichts über meine Befindlichkeiten, mein Mimimi nervt mich. Statt dessen Blicke zu anderen.

Das ROSEGARDEN-magazin, dessen Machern ich vom Start ab sehr verbunden bin, hat eine neue Etappe in seiner Entwicklung angetreten. Erst digitales Nebenher-Projekt, dann Print über Cowdfundingfinanzierung, nun Startup. Es muss nicht „wir erfinden den Journalismus neu !!!!!Einself“ wie bei den Krautreportern sein. Es geht auch, sich relativ bescheiden aufzustellen und erstmal anzufangen mit dem Credo, ein Magazin über Themen zu machen, die großstädtische Mittdreißiger interessieren, die eigene Lebenswelt nämlich. Wer die Augen offen hat, ist dann thematisch auch ganz fix raus aus der Berliner Hipsterblase, wie an den aktuellen Artikeln gut zu lesen ist.
Leicht obszönes Fazit: Wachstum und Stehvermögen kommen besser als dicke Hose und lang hängen lassen.

Dann läuft der Countdown für Frau Crafteln und Ellamara, am 3. November startet auf Vox die Nähshow Geschickt eingefädelt (die Wortspiele der RTL-Samstagnacht-Show ploppen für alle über 40 im Kopf auf), dem deutschen Ableger der Great British Sewing Bee-Show.
Ich bin sehr gespannt darauf. Schließlich war ich dafür letztes Jahr selbst beim Casting. Die Erinnerungen daran schreibe ich in den nächsten Tagen mal auf.

Jetzt ein Sprung zu meinen professionellen Themen.
Es gibt einen Widerspruch zwischen der wohlgemeinten Absicht, Menschen so viel Bildung wie möglich zu bieten (denn je höher Bildung, desto geringer das Risiko von Arbeitslosigkeit und Armut) und dem Vermögen von Menschen, diese Bildungsangebote für sich tatsächlich als Lebenssprungbrett nutzen zu können.
Aus der (intellektuellen) Sicht der Bildungsmacher scheinen Angebote auf hohem Niveau positiv besetzt zu sein. Was ich für einen Irrtum und eine reine Projektion des eigenen Seins auf andere halte.
Im Moment geht es gerade um die Altenpflege-Ausbildung. Wenn sie so reformiert wird, wie geplant, können Hauptschüler diesen Beruf nur noch mit Schwierigkeiten erlernen.
Wir reden von einem Beruf, der vor allem soziale und körperliche Fähigkeiten und einen Führerschein verlangt. (es gibt eine ganze Menge solcher Berufe, das ist nur das aktuelle Beispiel)
Was soll das? In der wohlmeinenden Absicht, dass die Hebung des Niveaus einer Ausbildung die besseren Menschen erzeugt, wird eine ganze Bevölkerungsgruppe ausgeschlossen und mit schlecht bezahlten Hilfsarbeiten oder Transferleistungen gedemütigt. Nämlich die Menschen, für die Schule und Lernen nichts als endlose Quälerei bedeutet, die aber gern machen und tätig sind, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Man kann angesichts dessen froh sein, dass der heutige berufliche Rettungsanker des bildungsfernen Mannes, nämlich ein Auto zu fahren und damit etwas oder jemanden zu transportieren, weitgehend durch den privatwirtschaftlichen und verkehrspolitischen Bereich reglementiert wird und nicht durch staatliche Bildungsinstitutionen.

Damit bin ich beim nächsten Thema. Unter den Menschen, die derzeit nach Deutschland kommen sind sehr viele junge Männer, über die man sagt, sie kämen, weil sie in ihrer Heimat keine Chance hätten. Weder auf existenzsichernde Arbeit noch auf die Gründung einer Familie. Haben sie hier eine? Ist dieses Land bereit, ihnen eine zu geben? Finden sie hier eine ihrer Bildung entsprechende Arbeit oder haben sie realistische Chancen in der berufsfähig machenden Bildung? Können sie hier mit ihrer potentiellen Partnerin eine Familie ernähren?
Ich habe derzeit mehr Fragen als Antworten und finde auch keine bei anderen.

Komischerweise fallen mir Stunden nach meinen Sonntagsposts wieder die Themen ein, über die ich unbedingt noch schreiben wollte. Ich sollte langsam mal anfangen, Notizen zu machen, damit ich nicht ständig etwas vergesse.

Sonntagsmäander im trüben Herbst

Obwohl, so richtig trübe wie in den letzten 3 Tage ist es gar nicht mehr. Im Lauf dieses Morgens wurde es zusehends lichter. Wenn das so weiter geht, kann ich den Einhornschlafplatz an einen herbstlich bunten Baum hängen und fotografieren, der liegt ja nun schon seit August hier herum. Dieses Teil ist gemeint, eine dick gefütterte Decke von 1,30 x 1,80m:
einhornschlafplatz
Einhornschlafplatz, weil mich das Rot-Gelb und das Muster an alte Wappen erinnerten. Die Decke sollte vor allem war eine Übung in Quadraten und Variationen sein und eine Aktion, um die allzu bunten Farben in meinem Schrank aufzubrauchen. Es gibt ein eigens dafür gesticktes Einhorn, das mich aber in der Ausführung nicht so überzeugt, irgendwie mochten sich Stoff und Faden nicht.einhornschlafplatz2
Die Farben sind wahnsinnig schwierig zu fotografieren. Der Unterstoff ist violett, nicht blau und die Oberstoffe sind ein sattes Echtrot und ein strahlend helles Gelb, das nach dem Waschen ein wenig rötlicher geworden ist. Ich mag das ja sehr, wenn Farben sich durch Ausbluten noch etwas angleichen.
Der Stoff ist ein Wäschedamast aus den 60ern. Das, was die Omis immer geschont haben und deshalb jahrzehntelang unbenutzt in den Schränken lag.
Es gibt noch Quadrate für ein Kissen, das braucht aber noch etwas Zeit.

Weiter im Text. Über Arbeit mag ich gar nicht reden. Ich teste derzeit, ob 6 Stunden-Tage funktionieren. Für mich bringt das etwas Entspannung, ich schlafe wieder wesentlich besser. Trotzdem war ich Freitag Abend platt, hatte Bauchweh und fühlte mich vergrippt.
Das ist alles noch nicht der Weisheit letzter Schluss.

Bleiben wir beim Thema Arbeit. Beim Gesetzgeber ist mittlerweile langsam angekommen, dass Menschen nicht mehr arbeitslebenslang Vollzeit bei einem Arbeitgeber angestellt sind. Er hat sich zuerst darauf eingestellt, dass es Menschen – vor allem Frauen – gibt, die zwar arbeiten, aber dann mit den mitzuversorgenden Familienmitgliedern unter dem Existenzminimum liegen. Also subventionierte man solche Arbeitsplätze über das ALG 2. Die „Aufstocker“ waren geboren. Mittlerweile gibt es aber immer mehr Tätigkeitsformen, für die europäische Arbeitsmarktregularien nicht ausgelegt sind und die Schlussfolgerung nahelegen, dass der kontinuierlich arbeitende und damit voll sozial abgesicherte Arbeiter oder Angestellte nur eine kurze Episode in der Geschichte des abhängigen Tätigseins gewesen sein könnte.

Aus Sicht des Arbeitgebers ist das folgerichtig. Das Ideal ganzjähriger, regulierter Vollzeitarbeit resultiert auch daraus, dass Maschinen nicht müde werden und in ihrem Existenzzyklus – bevor sie verschlissen oder technisch überholt sind – möglichst rund um die Uhr laufen sollten. Also stellt man Arbeiter abwechselnd in Schichten zur Bedienung an diese Maschinen.
Nun brauchen solche schweren Maschinen immer weniger Bedienung, digitale Arbeit sieht völlig anders aus, Dienstleistungs-Arbeit auch. Es ist ein riesiger Aufwand, Arbeitnehmer außerhalb der Bedarfsspitzen mit irgendwas zu beschäftigen, das rechtfertigt, dass sie 40 Stunden in der Woche am Arbeitsplatz sind und dafür bezahlt werden. Die Lösung dafür sind flexible Arbeitszeit und  Arbeitszeitkonten, das Risiko ist, dass es einem Unternehmen (wobei das z.T. sogar den krisensicheren öffentlichen Dienst betrifft) vor Auflösung eines Arbeitszeitkontos so schlecht geht, dass der Gegenwert der angesparten Arbeitsleistung nicht mehr existiert.

Wenn wir in die Geschichte der Arbeit sehen, war es normal, dass dann gearbeitet wurde, wenn zu erledigendes da war (oder aber, im einfachsten Fall, die Ernährungsgrundlage alle). In jeder Tätigkeitsform. Ob Bauer oder Handwerker, Krieger oder barmherzige Schwester. Während der Aussaat oder Ernte wurde den ganzen hellen Tag gearbeitet, im Winter rumgesessen oder Werkzeuge repariert.
Als ich Landarbeiterin war, hatte sich die Genossenschaft extra etwas einfallen lassen, damit wir auch im Winter zu tun hatten. Es wurde Sellerie angebaut und eingelagert, den wir dann im Winter für den Verkauf putzen sollten. Das Zeig war regelmäßig halb verfault, es war eine Riesensauerei. Aber das war egal. Es war dafür gedacht, dass wir jeden Tag etwas zu tun hatten und unser Geld abarbeiteten.
Auch Handwerker arbeiteten, wenn Materialien schnell verarbeitet und in haltbareren Zustand gebracht werden mussten oder wenn es Aufträge gab. Beim Tagelöhner, Wander- und Saisonarbeiter war der Name Programm.
Das „Wer rastet, der rostet“ kam erst sehr spät in die Welt. Natürlich ist Kontinuität wünschenswert. Vor allem wenn der Ertrag der Arbeit so knapp bemessen ist, dass er gerade zur Erhalt der Existenz während der Arbeit dient.
Kontinuität und moralischer Wert der Arbeit wurde erst in der Protestantischen Arbeitsethik zum Ideal erhoben.

Der Sozialstaat reguliert Arbeitsangebot und -nachfrage, indem er Arbeitnehmer und Arbeitgeber Abgaben zahlen lässt, die er in Zeiten, in denen es keine oder wenig Arbeit gibt, wieder ausschüttet. Man sieht da ganz klar eine Wanderung von Verantwortung und Fürsorge hin zum Staat. Weder dem Arbeitnehmer noch dem Arbeitgeber wird zugetraut, dass es genügend Vorsorge für schlechte Zeiten gibt. Die Gegenleistung der Menschen ohne Arbeit ist, dass sie die Zeit nutzen, sich um neue Arbeit bemühen oder aber an ihrer Arbeitsmarktfähigkeit feilen.

Dienstleistungsarbeit ist Arbeit in Time. Sie ist wenig planbar und hat – als einzige Konstante – saisonale Spitzen (Weihnachtsgeschäft, Urlaubsgeschäft…). Für diese Spitzen braucht der Arbeitsmarkt verfügbare Kräfte, Vollzeitbeschäftigung fast aller arbeitsfähigen Menschen in kündigungsicheren Arbeitsverhältnissen kann also nicht das anzustrebende Ideal sein.
Digitale Arbeit braucht weder schwere Maschinen, noch Fabrikhallen oder örtliche Präsenz. Der Erfüllungsort von Arbeit wandert wie beim Bauern oder Handwerker wieder an den Lebensort des Tätigen. Das hat nicht nur Vorteile für den Arbeitgeber, der sich Ausrüstung und Immobilien spart, sondern auch für den Arbeitnehmer, der keine Anfahrt und separate Kleidung und Ernährung mehr braucht.
Die Nachteile sind offensichtlich – Vereinzelung und fehlende Organisation unter Arbeitnehmern. (Wobei die Organisation von Arbeitnehmern über soziale Netzwerke ähnlich schnell gehen wird, wie vor 100 Jahren in den Menschenansammlungen der Fabrikhallen.)
Hier sind zwei interessante Links dazu: Ein Artikel über die Fragmentarisierung und Anonymisierung von Arbeitgebern und einer darüber, wie neue Arbeitsformen überhaupt in den Sozialstaat integriert werden können.
Machen wir uns nichts vor, die Gewerkschaften kümmern sich vor allem um die Rechte derjenigen, die im alten Vorbild bei einer Firma dauerhaft angestellt arbeiten. Das neue Proletariat von Auftrags- und Werkvertragsarbeitern, kurzfristig, auf Anruf oder unständig Beschäftigten, Subunternehmern und auf kleiner Flamme Scheinselbständigen wird größer. Da ist der geschmähte Leiharbeiter noch ungeheuer privilegiert. (und für den Arbeitgeber extrem teuer)

Ich möchte noch etwas bei diesem Thema bleiben. Da ich lange Jahre privatversichert war, hatte ich mich um die Entwicklung der Beiträge für Selbständige in der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung nie gekümmert. Erst im Gespräch mit einer Freundin, die bei der allmählichen Rückkehr aus der Erziehungspause in ihr Selbständigendasein vor großen Problemen stand, wurde mir klar, dass Frauen in Teilzeitselbständigkeit nicht vorgesehen sind. Brand 1 hat dazu einen guten Artikel veröffentlicht.
Auch hier wieder das Ideal des abhängiger Angestellter vs. schwerreicher Unternehmerin. Wer mit selbständiger Teilzeit-Arbeit zum Familienetat beitragen will, belastet diesen nur unmäßig. Wahrscheinlich erklären sich so auch die Preise für relativ aufwändige Produkte in Dawanda-Shops. Das sind Taschengeld-Jobs. Dafür einen vernünftigen Preis zu verlangen, würde nur Verluste bedeuten.

Kleine Anekdote am Rande (unter Verwendung von Originalmaterial):

Y: Du findest X gut? X ist für gewöhnlich eine arschig-frauenfeindliche, antifeministische Person. Hier übrigens eine Liste, auf der detailliert ihre Verfehlungen gegen unsere moralischen Maßstäbe aufgezählt sind.

Eine ganze Menge Leute sehen das anders und widersprechen dem. X reagiert souverän, so weit das möglich ist.

Y: (zwei Wochen später) … X, der ich meine letzte Haßwelle verdanke …

Ally im Hintergrund: Posttraumatische Belastungsstörung wird bei Betroffenen von Hasskommentaren bisher nicht anerkannt.

Finde den Fehler. Vielleicht sollten die mal unter The Haterettes auftreten.

Veröffentlicht unter Leben

Sonntagsmäander in strahlender Kühle

Als wir uns gestern Abend auf der Kastanienallee von Kind und Mann verabschiedeten, da war es nicht nur gut kalt, als wir zurück über den Zionskirchplatz gingen, roch es sogar ein wenig nach Schnee, schien mir. Es ist Herbst und für mich eine bessere Zeit als letztes Jahr um diese Zeit, denn da hatte es mich ja noch einmal übel aus der Bahn getragen.
(Im übrigen, so langsam bin ich dieses Rumgeschleuder leid. Ich glaube wirklich, es kommt daher, dass ich sonderbare Vorstellungen davon habe, was andere von mir erwarten und beim Versuch diese zu erfüllen, komme ich von einem Kurs ab, der wo ganz anders hin führte. Also Augen auf bei der Lebensnavigation.)

Diese Woche habe ich noch einmal Vollzeit gearbeitet. Ab nächster Woche geht es mit 6-Stunden-Tagen weiter. Erst einmal als Test bis zum Ende des Monats, das habe ich mir ausbedungen. Die Woche hatte viele Gespräche, die mir neue Erkenntnisse und Entscheidungen gebracht haben. Da ist keine Wertschätzung. Nur Ignoranz oder Schuldzuweisung, je nachdem, ob die Arbeit gerade läuft oder nicht. Das stört mich. Ich habe das lange ausgeblendet, weil ich auf mich und meine Arbeitsfähigkeit konzentriert war und für fast 3 Monate hatte ich mir eine Nische gesucht.
Als ich den Sommer über allein für einen Kunden in einer speziellen Serviceform verantwortlich war, war das zwar tierisch viel Arbeit, aber die Anforderungen kamen mir sehr entgegen. (Jetzt mal abgesehen von dem anderen Thema, dass ich ständig glaubte, zu wenig zu leisten.) Es hat mir niemand reingeredet, weil sich kaum jemand dafür interessiert hat. Ich konnte machen, was ich wollte und wenn es zu viel wurde, habe ich mir Rat oder Hilfe geholt. Das lief gut und so funktioniere ich gut. Ich bin sehr sicher das, was des Grafen Großmutter als „Einspänner“ bezeichnet hat. Jetzt bin ich wieder in anderen Projekten und unter Führung in keinem guten Stil und das liegt mir nicht.
Man wird sehen.

Überhaupt. Wenn man so viel davon aufschreibt, in so skeptischem, distanziertem Ton, wie ich im letzten halben Jahr, ist das kein gutes Zeichen. Es nervt mich selbst.

Andere Dinge sind wichtig. Ich freue mich, dass das Kind, die rigorose kleine Elfe, eine Winterbraut wird. Ich freue mich über den wunderbaren Herbst, über goldenen Blätterregen in der Sonne. Ich freue mich, beim Grafen zu sein.

Ansonsten sind die Themen gerade wieder karg, weil mein Leben karg ist. Aber das wird sich wieder ändern.

Veröffentlicht unter Leben