7. Ein Buch, das dich an jemanden erinnert

Als ich schon einmal einige Jahre in diesem Schöneberger Doppelmietshaus wohnte, hatten wir eine Nachbarin, die im weitesten Sinne zur Familie meines Lebensgefährten gehörte. Sie war die Sekretärin und Buchhalterin seiner Großeltern bis zur Aufgabe der Konfektionsfirma in den späten 60ern.
Ein klassisches Fräulein, das Beruf und Freiheit vor Heirat und Hausfrauendasein stellte. Auch ihre Schwester, die ein Leben lang mit ihr zusammen wohnte, hatte den gleichen Weg eingeschlagen, sie war Sekretärin in einem großen Chemieunternehmen, starb aber, bevor ich Fräulein K. kennenlernte.
Fräulein K. hatte alles mitgemacht. für eine Tochter eines höheren kaiserlichen-preußischen Beamten war sicher ein anderes Leben geplant. Doch dann brach das Deutsche Reich einmal zusammen, danach Inflation in einer riesigen, repräsentativen Wohnung am Charlottenburger Steinplatz, finanziert von einer Beamtenpension. Später Berufsausbildung, Steno, Maschine schreiben, Buchhaltung. Männer sicher, aber zu welchem Preis? Einen Mann bedienen und zufriedenstellen für Essen, Kleidung und Wohnung? Also Arbeit und Eigenständigkeit. Und Verschwiegenheit in Liebesdingen.
Nazis? Vollidioten aus Bayern, Identifikationsfiguren für Enttäuschte aus Proletariat und Bürgertum, die bei der dynamische jungen Angestelltenklasse kaum Gehör fanden. Vorerst.
Dann der Krieg, die Firma nähte statt Blusen Fallschirme. Stillschweigende Verlobung mit einem Piloten, der nicht zurückkehrte. Verlagerung des Betriebs nach Böhmen. Nachrichten aus Berlin. Diese Freundin ausgebombt, jene Freundin im Keller verschüttet und tot. Alles um die alte Wohngegend herum platt oder ausgebrannt. Das Deutsche Reich war ein weiteres Mal zusammengebrochen.
Rückkehr nach Berlin. Im Frühsommer 1945 mit der Schreibmaschine in der Hand durch die Ruinen 10 Kilometer zur Arbeit laufen. Mit Hunger im Bauch und kaputten Schuhen. Abends ging es zurück und dann wurde getanzt und gefeiert oder ins Theater gegangen.
Die Jahre vergingen, es gab wieder zu Essen, es wurde bis in die Nacht gearbeitet und im Urlaub in die Alpen gefahren. Großbürgerliches Wohnen war vorbei. Wozu auch. Männer waren Mangelware und die beiden Schwestern wollten sich nicht mit zweiter Wahl begnügen. Kriegsinvaliden, Greise, Witwer, Verheiratete, wozu? Dann lieber für O.W. Fischer schwärmen. Und eine kleine, praktische Wohnung mit der Schwester teilen. 50 Quadratmeter mit Balkon, Fernheizung, Warmwasser, kleiner, paktischer Küche und Bad, was braucht man mehr?

Aus dieser Zeit stammt das Buch Am grünen Strand der Spree von Hans Scholz. Es hat im Tonfall noch immer die Berliner Coolness der späten 20er Jahre. Gebrochen durch Kränkung, Trauer, Unverständnis und Schuldgefühl.
Da säuft sich die Generation geschichtenerzählend durch die Nacht, die 10 Jahre später von ihren Kindern beinharte Vorwürfe bekommt, es wäre doch einfach und zwingend richtig gewesen, dagegen zu sein.
Nun ja.

Ich habe dieses Buch mit Befremdung und Freude gelesen, weil es mich an Tucholsky, Vicki Baum und Kästner erinnerte. Es war so anders als die langweilig-pathetische Pflicht- und Schuldigkeitsliteratur der Ostzone. Mit Alkohol und Jazzmusik, tollen Frauen und großfressigen Kerlen. Eigentlich viel mehr das Leben als diese mittleren epischen Helden (diese Wortkonstruktion ist nicht mal mehr zu googlen) mit ihrer Betroffenheits- und Läuterungsproblematik.
Der ganze Fragebogen.