denken alle daran, wie es war, als man plötzlich die berühmte verbotene Tür öffnete.
Die Leute gingen durch die Mauer und die Welt ging nicht unter. Es gab keinen Krieg, es rollten keine Panzer. Auch wenn ich den 9. November schlicht verschlief, weil ich bei Mann und Kind im Oderkaff war und nicht in meiner Studentenbude in der Kopenhagener Straße, unweit der Bornholmer Brücke.
Da war dieses allumfassende „Wahnsinn“, im Nachhinein grotesk, dass alle dieses Wort benutzten, aber keiner, keiner hätte sich das so vorstellen können. Dann das Gefühl, dass die Geschichte innerhalb weniger Tage einen riesigen Sprung gemacht hatte. Die Erleichterung, dass es ohne Terror und Tote abging, für mich war die groß. Schließlich wäre durch meine Familie damit ein großer Riss gegangen. Mehr noch, ich hätte mich gegen meine Familie stellen müssen. Vor allem gegen meinen Großvater, den ich sehr liebte, der aber nun einmal pensionierter NVA-General war.
Ich war stolz, darauf, daß ich plötzlich auf der Seite derer stand, die Recht hatten, dass es so nicht mehr weiterging, dass es richtig war, diese Geronto-Staatsmacht zu kippen.
Gleichzeitig machte ich mir keine Illusionen. Zwei deutsche Staaten würde es nicht lange parallel geben. Das wäre die Reproduktion der Situation vor 1961. Im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, man müsse in der Situation allgemeiner Euphorie die Leute, die so beharrlich von den „Brüdern und Schwestern“ redeten, beim Wort nehmen. (Ich glaube nach wie vor, dass es keine angenehmere Alternative gegeben hätte. Um den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft und die Identitäts- und Wirtschaftskrise wären wir nie herum gekommen. Ich glaube auch nicht, dass einer der grummelnden älteren Herrschaften im Osten je in den letzten 20 Jahren mit einem Ungarn, Tschechen oder Polen tauschen wollte.)
Ich saß da und hatte ein Gefühl von Zukunft, das zum ersten Mal nichts mit „keinen Ärger provozieren, von der Umarmung der Genossen fernhalten, kleines Glück finden“ zu tun hatten. Meine Gedanken waren zum ersten Mal frei und kollidierten nicht mit der Position meiner Familie. Ich dachte auch zuerst gar nicht so dringend an Coca Cola, Bild-Zeitung und Bananen. Das würde sowieso kommen und derzeit hatten wir kein Geld dafür, hatte meine Familie doch Null Westkontakte.
Meine Zukunfts-Phantasien waren wie üblich verschroben, leicht größenwahnsinnig und sahen aus wie Hollywoodfilme. Meine Großeltern hatten einen bestimmten Standard von „Bürgerlichkeit“ (eigentlich eine Lachnummer, bei so 300%-Kommunisten), meine Träume waren eine moderne Fortsetzung davon. Es ging darum, sich respektvoll zu behandeln, andere nicht unter Druck zu setzen, trotzdem hohe Erwartungen zu haben, schön gekleidet und gepflegt zu sein, sich mit guten, dauerhaften und wertvollen Dingen zu umgeben. Auswählen zu können, je nach Vermögen. Sich in Freiheit bewegen zu können, ohne Kontrolle. Diese piefige, missgünstige, kleinbürgerliche Nähe abschütteln, das Blockwartgehabe, ebenso die intellektuelle Dissidenteria zu verlassen, die in ihren Nischen klemmte. Denn ich wollte Anerkennung, die hätte ich in diesem Staat nur bekommen, wenn ich linientreu gewesen wäre, denn zum Querulanten eigne ich mich nicht.
Plötzlich waren alle Geschichten wieder möglich, in denen es um Freiheit ging. Roadmovies, Eskapistisches, große Shows. (Was ist das für eine Amour Fou-Story, wenn die Beteiligten morgens 6 Tage die Woche um 5 Uhr aufstehen müssen, um knuffen zu gehen?) Mir fehlte die Überhöhung. Bigger than Life gab es nur im verklemmten, asexuellen heroischen Stil der Kriegshelden- und Arbeiterkämpferverehrung. Das alles war nun vorbei, Neues war möglich und ähnlich sah ich mein Leben neu erstehen.
„geronto-staatsmacht“…. lässt mich kichern.
der ganze text hingegen, ….. ist wirklich gelungen liebe frau k.
ich finde meine statements von jahr zu jahr stammeliger. irgendwann werde ich wahrscheinlich nur noch in tränen ausbrechen und sagen: „als wir damals vorm fernseher!“ so wie die oma in „kein pardon“.