Tagebuchbloggen – 27. Oktober September 2013

Ein Galopp-Freitag. Die Yogastunde am Vortag hatte mich so fertig gemacht, dass ich ausnahmsweise mein Homeofficer-Privileg nutzte und mich nach Verabschiedung des Grafen noch mal hinlegte, damit wurde der Tag natürlich um einiges kürzer.
Dann ging es irgendwie heftigst durcheinander. Biokiste ausräumen, die nächsten Suppen kochen (Kürbis und Sellerie-Birne), in der Wohnung klar Schiff machen, eine Abschlussbesprechung für eine Website halten, einen Blogeintrag machen, Wäsche waschen, den nachhause kommenden Mann mit Vitaminen versorgen.
Pro-Tipp: Den Trick, mit den lustig arrangierten Nahrungsmitteln die Esslust für Gesundes anzuheizen, kann frau auch benutzen, um Obst in den Mann zu bekommen. Ich nutzte Pflaumen, Bananen, Datteln und Weintrauben. Das Bild bleibt der Phantasie des Lesers überlassen.

Da ich meinen Blogeintrag gestern während eines schnellen Mittagsimbisses schrieb, möchte ich noch etwas nachtragen.
Wahrscheinlich reagiere ich so allergisch auf Gejammer, weil Oma Lotte darin eine Meisterin war. Wenn ihr etwas Gutes passierte, wenn sie hätte auf etwas stolz sein können, bog sie ihre Perspektive so lange um, dass ihr Weltbild „allen anderen geht es besser als mir, ich bin krank, ungebildet und gegen meinen Willen vereinsamt“ wieder stimmte.
Diese #nudelnmitketchup – Diskussion ist überflüssig wie ein Kropf, weil sie nur eine weitere Variante der deutschen Neiddiskussion ist. Finde ich jedenfalls. Klar kann man jemandem zum Vorwurf machen, dass es ihm besser geht als einem selbst und er deshalb kein Recht hätte zu klagen. Dann wären wir mitten im Befindenslimbo, den auch unsere Großmütter so trefflich beherrschten. Eine sehr protestantische Diskussion, wie ich finde. Denn nach deren Ansicht, hat das Leben Anstrengung und Qual zu sein und derjenige, dem es aus irgendeinem Grund besser geht, hat das gefälligst nicht zu zeigen.
Vielleicht ist es auch eine spezielle Atmosphäre in Westdeutschland. Durch die Wirtschaftswunder-Erbschaften und die kleiner werdenden Familien werden Aufstiegsbiografien seltener nötig. Ja, sie werden scheel angesehen. Mich wundert es daher nicht, dass Gesellschaftsschichten immer weniger durchlässig sind und wer in eine Schicht hineingeboren ist, dort mit Sicherheit auch bleibt. Gesellschaftliche Aufstiege von Migranten aus anderen Kulturkreisen in einem Land, das kein Einwanderungsland ist, brauchen dazu noch die doppelte und dreifache Kraft, denn sie bedeuten auch massives Abgrenzen von einigen Werten der Eltern. Und wir haben nun mal mehr Migrantenkinder in den unteren Gesellschaftsschichten (weil Familie und KInder dort noch selbstverständlich zu einem Lebenslauf dazugehören) als Kinder von Menschen, die schon seit vielen Generationen in Deutschland leben. Das heißt, Aufstiege werden noch exotischer.
Eigentlich ein Grund, stolz darauf zu sein, diesen Sprung zu schaffen. Aber Stolz auf etwas Geleistetes ist in manchen Gruppierungen nicht en vogue, es sei denn man ist im Fitness-Studio oder läuft Marathon.
Schade, ich finde, es zieht nichts mehr runter, als die alten Geschichten immer wieder hervorzuholen, Hass tief zu inhalieren, die Energie aufzuwenden, akribische Notizen in einem Buch der Kränkungen zu machen, statt sich ein gutes, glückliches und selbstbestimmtes Leben als Ziel zu setzen und das zu realisieren.
Meine Philosophie ist ohnehin, wenn wir nicht gerade mit sehr schweren, irreparablen Lebenshindernissen auf die Welt kommen, ist die Summe von Freud und Leid, die uns allen widerfährt, gleich. Nicht gleich ist, wie wir Freud und Leid wahrnehmen und was uns im Detail widerfährt.
Dass es Kindern von Reichen besser geht und dass sie es leichter haben im Leben, ist ein alberner Trugschluss. Die Leute, die ich kennen gelernt habe, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurden, waren nicht weniger im Leid, als diejenigen, die den Aufstieg nicht von ihren Eltern geschenkt bekamen.
Sie hatten genauso wenig Spielraum, weil ihre Eltern übermächtig sind. Die Angst, dass die Eltern nicht loslassen können und das Familienunternehmen in den Sand setzen, bevor es vererbt wird, ist genauso groß, wie die Angst enterbt zu werden, wenn man sich nicht gewünscht verhält (die falsche Frau heiratet, womöglich ihr Kind adoptiert) und die Angst davor, dass im Falle eines Berliner Testaments in der Elterngeneration noch mal geheiratet wird und Geld und Gut auf den letzten Metern verjuxt und falsch vererbt wird. Dazu kommt eine ständige unterschwellige Angst vor Verarmung, die ich bei diesen Leuten spürte. Da konnte ein fünfprozentiger Kursabfall einer Aktie oder das Brandschutzgutachten für eine Immobilie schon mal eine mehrwöchige Depression auslösen. Die Ängste, sich zu verlieben und sich an den/die Falsche zu binden und die Konsequenzen tragen zu müssen, kommen gratis dazu. Man halt halt viel zu verlieren.
Mir sind die Leute, die kämpfen mussten, allemal lieber. Ich kenne jemand, der hat mit Anfang 20 sein erstes Haus für die Familie allein gebaut, als Minderjähriger hat er (kein Witz) Flaschen gesammelt, wenn das Geld am Monatsende alle war, Unterstützung der Eltern gab es nicht, ab dem 15. Lebensjahr auch kein Dach über dem Kopf bei ihnen. Eine soziale Infrastruktur, die solche Jungendlichen auffing, gab es in den späten 70ern noch nicht. Nun kann er sein Lebenswissen auf seinem ausgedehnten Hof in südlichen Gefilden nutzen. Zwischendurch hat er Jobs ganz oben in internationalen Konzernen gemacht und ist früh ausgestiegen. Solche Leute schätze ich sehr. Mehr als die Söhne und Töchter von, die mir begegneten, denen alle Türen offenstanden, ohne dass sie etwas dafür leisten mussten und die der kleinste Windstoß aus den Schuhen pustet.
Denn es hat großen Charme und ermöglicht einen guten Einsatz von Kraft, selbst ein leeres Blatt zu füllen.

So, das war die Ergänzung zu gestern. Am Nachmittag gingen der Graf und ich zu einer Veranstaltung der Social Media Week, es ging um das von uns sehr geschätzte Rosegarden Magazin und Pop up-Kultur.
Danach gab es noch eine ausgedehnte Stunde bei Modulor, ich kaufte auch nur ganz wenig. Aber Schneiderkopierpapier musste sein.
Dann hatten wir Hunger, uns war nach Huhn, aber nicht im Hühnerhaus. Die Henne war natürlich ausgebucht, aber in der Kleinen Markthalle waren zeitlich limitiert noch zwei Plätze frei. Das wird gefühlt immer schlimmer, einfach spontan am Freitag- oder Samstagabend essen zu gehen scheitert an den Reservierungen.
Das Huhn war knusprig, das BIer lecker und nach diesen wirbeligen Tag verschwand ich früh im Bett.

Dann habe ich noch drei Links noch mal, weniger emotional diesmal, zur Wahl:

Das Nuf – CDU-Wähler_innen scheinen die neuen Zombies zu sein und die Zombieapokalypse hat scheinbar nur die Hipstergemeinden verschont.
Ix – Ich glaube, Themen werden nicht manipulativ umarmt, um Wähler zu locken, sie rutschen in den Mainstream.
Journelle – D’accord, nix hinzuzufügen, außer vielleicht den Gedanken, dass mit ein bisschen Geschichtserinnerung das Schicksal von Ländern betrachtet werden kann, in denen eine kleine nonkonforme Elite an der Macht kam. Das hat meist übel gekracht.

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9 Gedanken zu „Tagebuchbloggen – 27. Oktober September 2013

  1. Ich finde es scheiße, dass das so abgefertigt wird.

    War für dich der #Aufschrei auch ein akribisches Notieren in ein Buch der Kränkungen? Oder nicht eher doch der gerechtfertigte Versuch, auf einen Missstand aufmerksam zu machen?

    Solange das nicht passiert, wird sich auch nichts ändern. Und sorry, aber als Person aus der Arbeiterschicht, die es geschafft hat, stolz auf seine Leistung zu sein… Klar kann man das, aber Menschen, die gar nicht erst die Chance hatten, ein Studium zu beginnen (oder gar nicht erst auf ein Gymnasium gehen konnten) können sich echt ein Ei drauf backen. Was haben die bitteschön davon?

    Man sollte doch bitte das Gesamtgesellschaftliche im Auge behalten… und vor allem auch an die denken, die sich nicht unter dem Hashtag geäußert haben, weil sie keine Ahnung haben, was Twitter ist.

    • Ich antworte jetzt mal nicht mit gegen-scheiße. Mir ist diese Argumentation
      1. zu invektiv
      2. sie unterstellt, weil sie Bereiche einbezieht, über die ich nicht sprach
      3. benutzt sie beliebte Killer-Argumente á la „und was ist mit den hungernden Kindern in Afrika“, die ich sehr unproduktiv finde.

      Das ist ein Diskussionsstil, der mich sehr stört und ein Grund ist, warum ich an Diskussionen, die so geführt werden nicht mehr teilnehme. Auf „Was du sagst finde ich scheiße“ oder spätpubertäres „Fuck you“ kann ich verzichten. So habe ich mit 25 nicht diskutiert, ich werde es auch mit fast 50 nicht tun.

      Ich bin nach wie vor der Meinung: Jemand, der hart arbeitet dafür, um aus einer ausweglos erscheinenden Situation zu entrinnen, hat das Recht, darauf stolz zu sein und die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Es bringt nichts, dass jemand, der so viel geleistet hat, nun auch noch krumm und lahm vor Schuldgefühlen durch die Gegend schleichen soll. Im Falle des geschilderten Mannes (dessen Bruder übrigens den vermeintlich leichten Weg gegangen ist und Dealer wurde) hat das noch eine nachhaltige Wirkung: Seine drei Kinder studieren ebenfalls, das ist nun selbstverständlich.

      Aufstieg ist letztlich eine individuelle Leistung, die eine bestimmte gesellschaftliche Atmosphäre erfordert. In den 70ern und 80ern muss das in Westdeutschland günstig gewesen sein, wie mir einige Leute berichteten. Da konnten Kinder auch oft gegen die Ressentiments ihrer Eltern studieren, die ihren Kindern die Perspektive gar nicht als machbar eröffneten. Das Studieren würde ich nicht immer vom Geld abhängig machen, Studium ist nun mal die Zeit eines extrem niedrigen Lebensstandards und einiger Härten, es sei denn man ist sponsored by Papa. Zumindest in meiner Generation war das normal, in Ihrer scheint es nicht mehr so zu sein.

      Auch ich hatte genauso wie Sie, nach dem Studium mein Bafög zurückzuzahlen. (Jobben gehen konnte ich während des Studiums nicht, wegen des Kindes, wir lebten von Bafög und Unterhaltsvorschuss) Ich hatte einen Abschluss in einer zum Taxifahren qualifizierenden Geisteswissenschaft und ein Kind in der Vorschule. Wirtschaftskrise war 1993 auch noch. Es war hart, aber es hat funktioniert, einen Fuß ins Berufsleben zu bekommen. Ja, mich hat meine Armut oft angekotzt. Genau das Gefühl war mein Antrieb, nicht jammernd hocken zu bleiben, sondern meinen Weg zu gehen. Ich würde heute allerdings nicht mehr so viel auf einmal arbeiten.

      Das Argument „anderen geht es schlechter“ ist ein ganz schwieriges. Es gibt immer Menschen, denen es nicht genauso geht wie anderen. Solange es möglich ist, das zu ändern, ist es gut. (Btw. Auch in der DDR, in der alle die gleichen Bildungschancen hatten, solange sie nicht politische Probleme machten, gab es Menschen, die arm waren und die nicht studierten.)
      Ansonsten könnten wir ja gleich sagen: Ok., Aufstieg macht keinen Sinn, weil nur Schuldgefühle, alle bleiben dort wo sie sind, bis sie gemeinsam in eine bessere Lebenssituation kommen und in der Zwischenzeit bekommen sie Almosen. Das braucht, so glaube ich, eine ganze Menge Gottgläubigkeit.

    • „2. sie unterstellt, weil sie Bereiche einbezieht, über die ich nicht sprach“

      Das ist ein sehr schönes Stichwort. Wo ist während dieser ganzen kleinen Debatte die Forderung gefallen, Menschen, die es „geschafft“ haben, dürften nicht stolz sein oder hätten sich gefälligst zu schämen? Von meiner Seite aus jedenfalls nicht. Im Gegenteil, einigen, die sich betroffen und schuldbewusst äußerten, habe ich geantwortet, dass sie das nicht bräuchten. Ich weiß wirklich nicht, wo dieser Vorwurf jetzt herkommt.

      Kein Mensch muss doch deswegen Schuldgefühle haben, erst recht nicht die, die von der Diskriminierung selbst betroffen waren und sich daraus befreien konnten. Was ich mir wünsche – sowohl von Nicht-Betroffenen als auch von Nicht-Mehr-Betroffenen – ist ein Minimum an Solidarität und die soziale Einsicht, dass es hier einen Missstand zu beheben gibt. Ich weiß nicht, was daran falsch sein soll.

      Wenn du Schuldgefühle beim Lesen der Tweets hattest, dann ist das nicht das Problem der Verfasser. Und erst recht war es nicht Intention.

      Deshalb ist die komplette Antwort an mich eigentlich völlig unnötig. Du formulierst hier Vorwürfe und verteidigst dich dagegen, die niemals getätigt worden sind.

    • Sie möchten keine komplette Antwort. Dann kommentieren Sie bitte hier nicht mehr.
      Diskussion hat hier etwas mit Dialog zu tun und nicht mit einem Soloauftritt, der mit „ich find was Scheiße“ beginnt.

  2. [Habs grad erst gelesen …]

    Ihr Ansatz scheint mir zu sehr sozialdarwinistisch und zu wenig ökonomisch. Und mir scheint nicht bestritten, dass bessere ökon. Voraussetzungen daheim in aller Regel mit besseren sog. weichen soziokulturellen Voraussetzungen einhergehen. Interessant ist doch, um Ihr Bild herzunehmen, welche Chancen der gutbetuchte „Jammerlappen“ – den wollen wir doch nicht ausschließen, oder? – im Vergleich zu dem mit dem ökon. wie sozial minderbemittelten Hintergrund hat … Und dass sich ganze Berufsgruppen quasi aus sich selbst rekrutieren, mag sicher nicht nur von Nachteil sein; ich selbst sollte einmal eine Tierarzpraxis auf dem flachen wendischen Land übernehmen und hab mit 10 oder 11 Jahren nebenbei gelernt, Ferkel zu impfen usw., das brachte mir natürlich spürbare Vorteile. Aber dass es durchaus auch handfeste okön. Gründe für bessere Studienvoraussetzungen gibt, die im Umkehrschluss andere gleichbegabte Kinder ausschlossen, ist m. E. nicht zu bestreiten. Und die Zulassungsstatistiken widerlegen das ja wohl auch ncht.

    Ganz abgesehen davon, dass in den „Neid-“ oder „Leistungsträger-„Debatten gern vor vornherein impliziert wird, gutes Einkommen sei gleichbedeutend mit aufopferungsvoller hoher beruflicher Leistung. Die gerademal erwachsenen leiblichen Kinder, Nichten und Neffen, Ehefrauen und sonstigen Verwandten, die auf den Gehaltslisten der GmbH & Co. KGs [von solchen weiß ich es] stehen und von den dort Beschäftigten noch nie in der Firma gesichtet wurden, sind doch Legion … Ich spare hier bewusst die Erbinnen und Erben aus, weil deren Salair ist ja schon „da“ und muss zumindest nicht mehr Monat für Monat von anderen erarbeitet werden.

    Aber auch im Nichtjammerlappenbereich gibt es Unterschiede, die ins Auge fallen. Ich saß dieser Tage z. B. in einer Runde gern vollbeschäftiger Eltern mit Kindern der Altersgruppen 0,5 bis 13 Jahre, die durchaus zu berichten wussten – also die Eltern –, dass es bei von der Schule festgelegten Lernmitteln [Plicht-MACs als Unterrichtsmittel am Gmyn.], Zuwendungen für AGs oder Zielfestlegungen bei Ausflügen im KITA- bzw. Schulrahmen, erhebliche ökon. Aspekte gibt. Schön zu hören war, dass soetwas im KITA-Bereich auch mal zu Solidarisierungen mit den unteren Einkommensgruppen führt. Aber spätestens beim MAC hört der Spaß doch auf; und da saßen noch nichteinmal Eltern im Kreis, die glaubten, ihre Kinder auf Privatschulen schicken zu müssen.

    Ich rede also nicht dem Demstaataufdertascheliegen das Wort; ich rede einer Denkweise das Wort, die Chanchengleichheit gerademal ermöglicht. [Der Zustand scheint mir längst nicht hergestellt.] Und dass das einer selbstbestimmten individuellen Entwicklung eher zuhilft als im Wege steht, ist ja wohl ebenfalls nicht bestritten …?!

    • Ich muss zugeben, schon mein Staatsbürgerkundelehrer in der 9. Klasse nannte meine Gedanken ab und zu sozialdarwinistisch.
      Wobei ich beim obenstehenden Text nie etwas von wegen „der Stärkere setzt sich durch“ gemeint habe und auch kein Problem mit dem Staataufdertascheliegen habe. Ich habe mein absolutes Unverständnis darüber ausgedrückt, dass Leute, die trotz schlechterer finanzieller Verhältnisse studieren, von einem Hashtag wie #nudelnmitketchup angezogen sind und so ihre Frustration darüber ausdrücken, dass es Menschen gibt, denen es besser geht und die scheinbar müheloser Leben. Es ist meiner Meinung nach eine infantile Klage zum Thema essentielle Selbstverantwortung. (Oder wie meine Freundin sagt: Ja, die Kinder kriegen erst mal einen Schock da draußen. Gehen sie aus dem Haus und vergessen sie, das Licht auszumachen, müssen sie das plötzlich bezahlen. Wollen sie die Schuhe putzen für ein Bewerbungsgespräch, merken sie, wie teuer Schuhcreme ist. Bestellen sie noch ein Bier, könnte es sein, dass sie nicht mehr genug Geld im Portemonnaie haben.)
      Ich frage mich, warum diese Menschen nicht stolz sind darauf, ihr Studium zu schaffen? Sie hätten doch allen Grund. Sie haben doch viel mehr erreicht als das höhere Söhnchen oder die höhere Tochter.
      Nach wie vor: Meine sehr fundierte Erfahrung ist, dass durch die Familie geebneten Lebenswege nicht die besseren sind. Ich begleite mehr als anderthalb Jahrzehnte Menschen im Beruf und auch in einem großen Teil ihrer privaten Entwicklung, 18jährige, 66jährige und alles dazwischen. Geld und Verbindungen geben vielleicht die bessere Startposition, aber die eigentliche Lebens-Flugbahn bestimmen sie selten, die verläuft oft nach dem Sternschnuppenprinzip, sobald der Elternboost weg ist. (Es sei denn man ist ganz unbedarft und es reicht eine Konsumentenexistenz.)
      „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Der olle Goethe hatte da vollkommen recht. Im Kulturumfeld sind Benjamin Lebert und Helene Hegemann das beste Beispiel für Rückenwind und Support der Elterngeneration. Letztere hat schon als Minderjährige für eine Filmproduktion Mittel aus der Bundeskulturstiftung erhalten. Nur das macht sie weder zu einer guten Autorin noch zu einer guten Regisseurin. Denn abgerechnet wird zum Schluss, wenn Papa auf Rente ist und nicht mehr hofiert werden muss. Bis dahin muss sie ein Minimum an eigener Substanz entwickelt haben.
      Ich habe das in jungen Jahren live erlebt. Die Enkelin eines sehr sehr großen deutschen Schriftstellers hatte alle Türen offen. Die Erwartungen haben sie so erschlagen, dass sie reif für die Psychiatrie war. Sie hat lange gebraucht, bis sie ihren selbstbestimmten, eigenen Weg gegangen ist, der ein guter ist, aber mit ihrem Opa nix zu tun hat.

      Chancengleichheit ist genauso eine Chimäre wie Gerechtigkeit, es gibt immer den Schatten, wenn es das Licht gibt. Im Gegensatz zu anderen Nationen haben wir ein hohes Maß an Chancengleichheit unter seit Generationen in Deutschland lebenden Menschen. Wir haben keine Chancengleichheit für nichteuropäische Migranten und europäische Armutseinwanderer. Das liegt nur zum Teil an tatsächlich existentem Rassismus, wie ich beobachte. Das liegt auch daran, dass die Familien, die kommen, ganz andere Vorstellungen haben, wie ihre Kinder erwachsen werden sollen und welchen Wert Bildung hat. Das ist auch nicht mit einer Generation zu lösen. Die chinesischen Einwanderer in Amerika haben ungefähr 120 Jahre gebraucht, um Chancengleicheit zu haben und zu leben. Weil es eben auch bedeutet: Raus aus den Clanstrukturen, weg von den Familiendoktrinen. Bzw. Anpassung und Modernisierung dieser Strukturen, sie sind ja nicht weg, sie sind nur anders.

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