Sontagsmäander in der kühlen Ruhe nach dem Sturm

Unser Wolkenkuckucksheim ist an der Spitze eines Eckhauses, das hoch über dem in einer Senke liegenden Berlin Mitte thront. Hier oben tobte gestern der Sommersturm gegen die Fenster, so dass wir trotz Hitze und stickiger Luft nur eines im Hof öffnen konnten, das im Windschatten lag.
Ich musste trotzdem nach unten in diesen Kessel aus Touristenherden*, Staub, Sturm und Lärm. Mir waren nämlich essentielle Kleidungsstücke ausgegangen.
Jahrelang saß ich im Sommer nur mit Jerseykleidchen auf dem Leib im Homeoffice, die öfter gewaschen und immer mal ersetzt wurden.
Nun muss ich jeden Tag viele Stunden in ziviler Kleidung in einem am Nachmittag recht warmen Büro sitzen. Was heißt, wieder täglich BH zu tragen und überhaupt Unterwäsche, möglichst ordentlich, denn man könnte ja überfahren und ins Krankenhaus… man kennt das ja.  Abends werfe ich alles von mir, weil es mindestens dreimal schweißnaß geworden ist und stecke es in die Waschmaschine. Besser werden die Sachen davon nicht, vor allem die BHs. (Und nein, ich werde meine Unterwäsche nicht selbst nähen, wie manche Nähnerds, ich bewundere das, aber das ist mir zu fummelig und unterm Strich sind die Zutaten für BHs zu teuer. Bzw. wenn ich den Dreh drauf habe, dass alles so aussieht wie die schlichte schwarze Satin-Unterwäsche von Dolce und Gabbana, in die ich nicht mehr reinpasse, dann nähe ich selbst)
Zu diesem Zweck musste ich zum Alexanderplatz. Eine Viertelstunde zu Fuß von uns gelegen, aber wenn wir es vermeiden können, gehen wir dort nicht hin. Gestern musste es sein, denn ich kann meine Unterwäsche Körper-Diversity-bedingt nur noch bei C&A und in den No-Name-Ecken beim Kaufhof beziehen. Die Marken, die ich früher trug, führen meine neue Größe nicht und ein Besuch in einem Spezialwäscheladen mit sensibler Beratung war mir und meiner Geldbörse nicht möglich, denn ich brauchte in diesem Fall Masse.

Ich rollte mit dem Rad bergab, an der Dircksenstraße wurde ich von einer Familie mit süddeutschem Dialekt gefragt, wie sie denn nach Kreuzberg kämen, ich schickte sie mit der U8 ans Kottbusser Tor, damit sie gleich die volle Breitseite bekommen. Dann wand ich mich zwischen der S-Bahn, der Straßenbahn, der Galleria Kaufhof und dem Berolinahaus durch und stand mitten drin.

Der Alexanderplatz ist der Vorhof zur Hölle.

Man nehme die Szenen, mit denen in Filmen mittelalterliche Märkte und Straßenszenen auf fremden Planten illustriert werden und versetze sie in die Jetztzeit.**
Die Mitte des Platzes ist übersät mit Brat- und Tinnefbuden wie mit fetten Pickeln, aus jeder Ecke brüllte andere Musik. Auf freien Arealen verteilten sich extra laute Straßenmusiker die mit Trompete und Dudelsack dagegen tröteten und die üblichen Ostblock-Militär-Devotionalien-Händler. In bekotzen Ecken hingen rastahaarige Drogies, die sich verfahren hatten und sicher an den Kotti wollten.
Menschenmassen, die scheinbar auf der anderen Seite des Platzes aus Bussen nach 18 Stunde Herfahrt von unaussprechlichen Orten Südosteuropas abgekippt wurden, walzten kaufwütig über den Platz, meist schon mit 5-8 Primark-Tüten versehen. Gestern kamen noch Minderjährige dazu, die sich so kostümiert hatten, wie man sich in der Provinz nach Lesen der Bravo Raver vorstellt, denn es war der Tag vom Zug der Liebe. Durch diese Menge rasten Bettler auf Elektrorollstühlen und mehrere Grillwalker brauchten auch noch Platz.
Also genau das Richtige für jemanden wie mich.

Ich floh zuerst zu C&A, wo man mittlerweile eine von Touristen stark freqentierte Dirndl- und Lederhosen-Ecke hat (kannste dir nicht ausdenken!). Ich fand in der Wäscheabteilung nach langem deprimierenden Probieren ein bisschen neutrale Baumwolle. Probierte auch die eine oder andere Bluse an, wandte mich mit schaudern, weil ich plötzlich aussah wie ein Mensch, der ich nie werden wollte und ging hinüber in die Galleria Kaufhof.
Das war besser. Ich finde die Architektur diese Kaufhauses nach wie vor sehr angenehm, weil sie komplett unsichtbar ist. Natürlich zog mich der erste Ausverkauf der Sommerkollektionen an. Ein schmales schwarzes Jerseykleid mit Raffung, zwei weiße, ein korallfarbenes und ein schwarzes T-Shirt wollten zu mir, denn aus mir wird nie eine richtige Jerseynäherin.
In der Wäscheabteilung fand ich dann zwei, drei Teile, die nicht für 80jährige designt waren und mir trotzdem passten.
Nach einem kurzen Abstecher in die Freßabteilung, in der jede Menge Damen um die 60 hinter Käse- und Salattheken wie in alten Zeiten auf Kunden warteten, fuhr ich vollkommen platt wieder nach Hause, brauchte erst einmal einen großen Kaffee und etwas Schokolade und schaute mir vom Sofa aus den Sturm in den Platanenwipfeln an.

Weiter gehts. Die Arbeit war heftig, aber ok. Im Moment hat sie ein Maß, wo ich nicht jeden Abend mit dem deprimierenden Gefühl, ein 30% liegen gelassen und 20% vergessen zu haben, raus gehe.
Ich habe immer Mal wieder die Begegnungen mit alternden Alphamännchen in der Krise. Früher habe ich darunter gelitten, weil ich ihre Spielchen mitmachte. Heute werde ich ziemlich knapp bei Wort und auch schnell sauer. (Wobei extrem zutexten und loben, dass sie so fein ins Töpfchen gemacht haben, mehr bringt. Das erinnert sie an ihre Mutter, da fliehen sie schnell und weit.) Es ist immer das Gleiche, sie blasen sich auf, erzählen uns Frauen, wie wir unsere Arbeit machen sollen, sind aber  – wenn wir sie denn irgendwohin vermitteln – nicht so der Bringer, was sie dazu bringt, sich bei uns noch mehr aufzublasen, denn schließlich sind die anderen (also unter anderem wir) daran schuld. Grau-en-voll! Allerdings sind die Typen tatsächlich eine aussterbende Spezies. Das löst sich biologisch.
Der vollkommen leergefegte Markt an Vertretungsingenieuren bringt die skurrilsten Leute aus dunklen Ecken. Aluhüte, die Mailadressen und Handynummern verweigern, 75jährige Pensionärinnen, die gern Angebote per Post möchten und einsame Windkraftwerker vom Lande, die das mit diesem Internet nicht mehr anfangen wollen, man hätte sich doch gerade ein Fax angeschafft.

Ja, hm, das war es dann für diese Woche. Esst fein ordentlich Eis, damit ihr groß und stark werdet.

*Freitag abend um 11 Uhr liefen gut 20 Minuten lang junge Menschen dicht an dicht den Fußweg an der Veteranenstraße hinauf, es sah aus wie eine Demo, war aber nur Touri-Abend-Verkehr.
**Ich hatte versucht ein Video zu drehen, aber irgendwie war ich zu blöd dazu.

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9 Gedanken zu „Sontagsmäander in der kühlen Ruhe nach dem Sturm

  1. Falls der Laune & dem Portemonnaie mal wieder nach fachkundigem Einzelhandel mit guter Beratung ist, empfehle ich die hier:
    http://www.ladym-dessous.de/Home.html

    Die kleine Finale in der Stargarder hat weniger Auswahl als die große fern im Westen, trotzdem habe ich da schon etliche hervorragende (UND traumhaft schöne) Teile erstanden, von denen ich mich rückwirkend frage, wie ich zuvor ohne sie ausgekommen bin. Es ist in dem Sinne kein „Spezialladen“, führt jegliche Größen und Formen, aber mit sehr guter Auswahl auch bei den hinteren Buchstaben des Cup-Alphabets.

  2. Das hat wieder mein Herz berührt. Manches ist bei mir gender-bedingt andersrum – Geduld mit den männlichen Exemplaren fällt mir etwas leichter – naja – . Ihre Freiheitsliebe mag ich sehr.

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  4. Ich sage Ihnen! Das mit der stets frischen und ordentlichen Unterwäsche und dem Krankenhaus, da ist was dran. Ab einem gewissen Alter. ;-)

  5. Wobei der Alex gerade deswegen so laut und voll ist, weil da das internationale Straßentheaterfest stattfindet. Eigentlich eine tolle Sache, letztes Jahr war ich mehrere Male dort. Am Freitag fand ich es aber auch zu laut, zu voll, zu anstrengend. Vor allem zu laut. Ich hatte große Probleme, den einen Künstler zu verstehen – obwohl er Mikrofon und Lautsprecher nutzte. Da war im Hintergrund eine Lärmquelle wesentlich lauter.
    Vielleicht wird es ja noch besser. Vielleicht (hoffentlich) gibt es irgendwann auch wieder eine Übersicht, wer wann auf welcher Bühne zu sehen ist damit man sich nicht orientierungslos durch das Gedränge schieben muß um dann festzustellen, daß man kurz vor Ende der Nummer angekommen ist.
    Wenn das beides kommt, dann lohnt es sich. Sonst wohl eher nicht.

  6. Ich kann figurbedingt auch entweder nur in superteuere Fachgeschäfte gehen oder zu C&A. Ist jemandem übrigens mal aufgefallen, dass eine Größe 42/44 in der Übergrößen-Abteilung etwas anderes sein kann als eine Größe 42/44 in der „normalen“ Abteilung? Ich wollte mir gestern eine Bluse kaufen und kam in der Normalo-Abteilung nicht einmal in die Ärmel hinein.

  7. ohhh, kleidergrößen, ein ewiges leiden!
    da ist es fast egal, in welchem bereich des körperformenspektrums frau sich bewegt – bei unterwäsche lernt sie demut. ich trage eine höchst durchschnittliche größe – deren bhs mir von keinem (!) kaufhausanbieter so passen, dass ich einen tag darin verbringen wollen würde.
    erst ein kürzlich entdecktes minikleines spezialitätengeschäft brachte linderung. falls es jemanden interessiert: lieblingsstuecke-leipzig punkt de. riesige größen-, formen- und materialauswahl, nicht nur in sauteuer (aber natürlich auch), und vor allem kompetente beratung, was passform und sitz angeht.
    für die tage, an denen es einfach nur praktisch und bequem sein soll, nutze ich sport-bhs. die vertragen auch häufiges waschen recht gut und sind in den verschiedensten versionen von halt-und-stütze zu bekommen.

    im übrigen finde ich es je nach tagesform höchst erheiternd oder zum speiben, wie unterschiedlich ein und dieselbe kleidergröße bei verschiedenen anbietern ausfällt.

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