Die Kindsmörderinnen

Mit Herrn Prof. Böhmer möchte ich grade nicht tauschen. Als ich gestern von seiner wohlfeilen und medienwirsamen Vereinfachung hörte, ging mir mal wieder das Messer in der Tasche auf.
Meine Theorie ist ohnehin seit langem, daß die Kindsmordrate wahrscheinlich im Westen nicht wesentlich niedriger ist. Die Frauen, die so etwas tun, werden wahrscheinlich nur von Familie und Gemeinschaft gedeckt. – Was nicht sein kann. das nicht sein darf. Aber das ist eine ganz private Spekulation.
Es lohnt sich, den Spon-Artikel bis zum Ende zu lesen. Der Mann hat keine Stammtischrede abgeliefert. Er weiß, wovon er redet, denn er hat die Abtreibungspraxis in der DDR miterlebt.
Eine Bekannte, die während ihrer Schwesternausbildung in der Gynäkologie arbeitete, erzählte mir in den 80ern, daß dieser Job das letzte sei, was man im Krankenhaus machen konnte. Nicht aus moralischen Gründen, die gab es zumindest in der atheistischen Generation, die ausschließlich die DDR erlebt hatte, nicht. Sondern weil sie gesehen hat, daß z.T. Viermonatskinder mit fadenscheinigen Begründungen („es ist doch grad Sommer“) weggemacht wurden.
Ich kenne Freundinnen, die bis zum letzten Tag warteten, um den Erzeuger noch zur Partnerschaft zu bewegen. Ich kenne Frauen, die bei der Fristenregelung gemogelt haben – Ultraschall gabs ja noch nicht. Für weitere Freundin war dies der Weg der Verhütung, von der Pille wurde sie lustlos und dick, sie ist erst davon abgekommen, als sie ernsthafte körperliche Probleme bekam.
Der Wechsel von einer Gesellschaft, in der Frauen unter anderem deshalb frei waren, weil sie die Konsequenzen ihrer Sexualität nicht tragen mußten, in eine, die durchzogen ist von Zonen christlicher Dogmen und für die Kinder generell Sonderfall und Lebensbürde bedeuten, fällt schwer. Es fällt schwer, die Bigotterie zu ertragen. Auf der einen Seite muß jedes einmal gezeugte und nicht verhütete junge Leben irgendwie erhalten werden. Auf der anderen Seite ist das Verhüten, Abbrechen, Männer zur Verantwortung ziehen, weitgehend Privatsache.
Als ich Anfang der 90er zum ersten Mal hörte, daß sich auch völlig normale Menschen, nicht nur religiöse Fanatiker, dafür einsetzten, daß Kinder nicht abgetrieben werden dürfen, war ich erstaunt. Darüber, daß es das moralische Recht gab, zu sagen: was lebt soll leben, auch wenn es nicht willkommen ist. Das holte mich aus dem Entscheidungsdruck, in den mich eine zufällige Schwangerschaft gebracht hätte. Aber so richtig wohl war mir nicht dabei.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Leben von kitty. Setze ein Lesezeichen zum Permalink.

8 Gedanken zu „Die Kindsmörderinnen

  1. ohne eine Verallgemeinerung zu diesem Thema etwas zu sagen.

    Auch ich kenne einige, die damals lieber abtrieben, als die Pille zu nehmen. Mit den fadenscheinigsten Begründungen. Bemerkenswerterweise steht da die Quote 3:1, die waren damals in meiner Berufsschulklasse. Im Osten aufgewachsen, aber nun im Westen bei uns. Sicherlich lässt sich da keine allgemeingültige Regel drauf aufstellen! Ich war damals nur erschrocken, wie einfach die das nahmen.

    Letztes Jahr stand ich ja ebenfalls vor dieser Entscheidung. Nun habe ich es nicht getan aber verurteilen kann ich es dennoch nicht. Wenn die Umstände so sind, daß es besser wäre, wenn das Kind nicht geboren wird – sollte es den Frauen selbst überlassen sein. Nur nicht als Alternative zur Pille!

  2. Ich bin nicht sicher, ob das kritische anti-Böhmer-getöse nicht ausschließlich wählerstimmenakquisitionsgründe hat; denn die praktische politik läuft ja diesen argumentationen zuwider.

    Der hintergrund für die Böhmersche behauptung ist doch genauso dubios wie die feldforscherischen grundlagen der kritiker. Oder?
    Ich halte es genausowenig für per se ausschließbar, dass die genannte – und richtig zu heißende – praxis negative „ausflüsse“ hat wie die annahme, dass es nicht so ist.

    Bewiesen, erforscht, ist keine der beiden behauptungen jedenfalls.

  3. .

    Ich bin gestern hinten runter gefallen als ich im heute-journal Vergleichzahlen zu Abtreibungen in der BRD und DDR in den 80igern gesehen habe. Mal ihnen Wahrheitsgehalt unterstellt.
    Aber es wundert mich auch nicht, wenn ich mich an Lebensberichte von Freunden und Familienmitgliedern von «drüben» erinnere.

    Die Politiker, die in dem gestrigen Beitrag dann ihre pseudo-verbale Entrüstung gegenüber Herrn Prof. Böhmer (ganz schlimm Claudia Roth) Ausdruck verliehen, empfand ich als dezent bis angestrengt weltfremd. Heute so zu tun als wäre das Leben in der DDR dementsprechend dem der BRD gewesen und hätte sich auf allen Ebenen die gleiche Kultur in allen Bundesländern entwickelt, ist dummer Unsinn. So dumm, dass es mich sauer macht.

    Natürlich gab es immense kulturelle Unterschiede. Auch – und vor allem – in der Familienpolitik und in dem damaligen Gesundheitssystem. Und natürlich trägt so eine «Evolution» auch heute noch Früchte. Oder haben die alle geglaubt mit der politischen Einheit am 3.10.90 zog die kulturelle automatisch in die Köpfe der Bürger mit ein? In der DDR wurde sehr oft nur geheiratet und hat man Kinder bekommen, um endlich mal eigenen Wohnraum zu haben. Mittel zum Zweck eben. Natürlich bringt so ein Leben auch ein teilweise ganz anderes Verhältnis zum Thema Kinder kriegen mit sich. Und diese Lebenssituationen der Ostfamilien von früher heute einfach auszublenden, ist für doch Unsinn. Zumal sie sich im Grunde für viele Frauen dort drüben nicht wirklich geändert haben. Früher stand nix in den Regalen. Heute haben sie nicht das Geld, um das was in den Regalen steht, sich leisten zu können. (Und ich denke hierbei nicht an Luxus-Artikel.)

    Der Mann wird wissen wovon er spricht, auch wenn es sehr unbequem und unschön ist und natürlich wieder die hässliche unerträgliche «der Osten ist so evil»-Debatte hoch holt. Genau darum geht es aber nicht: Prof. Böhmer hat mit seinen Ausführungen nur mehr auf ein weiteres Versäumnis westlicher Einheitspolitik hingewiesen.

    Wer aus den Reihen jetzt auf den Mann verbal einprügelt, hat nichts aber auch gar nichts kapiert.

  4. REPLY:
    das ist eine sache, die ich überhaupt nicht verstehe, wie jemand eine abtreibung der verhütung vorziehen kann. allein schon die reaktionen auf den eingriff: hormonsturz, haarausfall, depressionen. dazu die risiken des eingriffs selbst.
    das ist, glaube ich, unfähigkeit, über konsequenzen nachzudenken.
    plus das „das können wir uns nicht leisten-syndrom“. die pille vom sozialmedizinischen dienst bezahlen lassen? – umständlich. billig aus dem ausland mitbringen? – auch umständlich. die pille selbst bezahlen? – teuer.
    dazu kommt, daß die meisten mütter der kindsmörderinnen einer generation angehören (einen tick älter als ich), die sich anfang der 90er aus jobangst haben sterilisieren lassen. die sind den mädchen keine hilfe. ich mußte mir auch erst von meinm kind erklären lassen, daß die pille bis 21 kostenlos ist.

  5. REPLY:
    frau roth gehört zur „mein bauch gehört mir“-bewegung, die ist als grüne sozusagen berufsentrüstet.
    ich bin sehr zwiegespalten. das merkt man dem text vielleicht auch an. einerseits bin ich wütend, eine generation vorverurteilt und kriminalisiert zu sehen. andererseits hat der böhmer recht, was das laxe verhältnis zu abtreibungen in der ddr angeht.
    ich verstehe nicht, warum jeder türke, der seine frau oder schwester umbringt noch mal multikulturell in die arme geschlossen wird – er kann ja nix dafür, das ist halt seine kultur – und bei den kindstötungen allzu schnell in richtung schwangerschaftspsychose, überforderung etc abgeschwenkt ist, statt nachtzuschauen, woran es wirklich liegt.
    du hast recht, das ist ein bruchpunkt im versuch, eine gemeinsame kultur zu haben.

  6. Ich halte es ja für eine interessante „Enthüllung“, dass die Abtreibungspraxis in der DDR eine andere war als in der BRD. Aber kann man wirklich nach nunmehr bald 18 Jahren „bundesdeutscher“, ergo: einheitlicher Rechtsprechung und Beratungspraxis sagen, die DDR-Mentalität sei dafür verantwortlich, wenn überwiegend junge Frauen im Osten Deutschland ihre Neugeborenen und kleinen Kinder umzubringen oder zu vernachlässigen, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung überwiegend im Kindesalter waren?

    Ich bezweifele das doch stark. Der Ursachen sind sicher viele.

    Aber wenn ich mir manchmal die stark geschminkten, an DSDS-Kandidatinnen gemahnenden, sehr jungen Frauen ansehe, die in Städten wie FFO, Cottbus oder auch in Berlins Plattenbauecken ihre Kinderwagen vor sich herschieben, frage ich mich: Was machen die Mädels, wenn sie aufwachen und tanzen wollen, das Leben auskosten oder ähnliches? Und das Balg liegt abends da und brüllt.

    In solchen Momenten immer wieder die richtige Entscheidung zu treffen, hängt sicherlich auch mit dem familiären Hintergrund und einer vernünftigen Einstellung zu (Eigen-) Verantwortung zusammen. Ob da der Einfluss der DDR-Familiensicht – so es denn eine derart unterschiedliche gegeben haben mag (ich kann es nicht beurteilen als Westkind) – nachwirkt, wäre sicherlich spannend zu untersuchen.

  7. … wundert es nicht, daß ein Gynäkologe die Sache aus Gynäkologensicht sieht. Wer Abtreibungen vornimmt, u.U. jeden Tag, sieht genug krasse Fälle, von denen er sich nur wenige merken muß, um immer krasse emotionalisierte Aussagen treffen zu können. Diejenigen, die schwiegend, leise verheult und aus wirklicher Not (worin immer sie bestand) abtrieben ließen, fallen am Feierabend warscheinlich leichter dem Vergessen anheim. Warum sollte man sich merken, was unauffällig ist, zumal wenn Abtreibungen zu machen sicherlich nicht gerade das Highlight eines Gynäkologenalltags ist.

    Ich gehöre auch zu dieser Generation, die in der DDR theoretisch in den „Genuss“ der Abtreibungsfreigabe kam. In meinem Bekanntenkreis gab es natürlich auch Abtreibungen, ich kann mich an einige erinnern, bei denen Fahrlässigkeit eine gewisse Rolle spielte, aber an keine, die mit dem schönen Sommerwetter o.ä. begründet wurde. Einige Frauen haben sich mit solchen Entscheidungen auch gequält, und überhaupt finde ich, sollten Außenstehende es sich nicht zu leicht machen mit ihrem Urteil. Ich kann mich übrigens auch erinnern, dass, wer ein Kondom brauchte, es sich am besten aus dem Westen besorgte, weil die Ostkondome vorgestanzt waren, und dass als einigermaßen sichere Verhütungsmittel nur Pille und Spirale (beide damals mit noch weit erheblicheren Nebenwirkungen als heutige Produkte) erhältlich waren. Gynäkologen arbeiteten übrigens gelegentlich mit dem Trick, Schwangerschaften einfach „nicht zu erkennen“, um Frauen doch zum Austragen der Schwangerschaft zu bewegen. Alles in allem keine übertrieben komfortable Situation. Natürlich sehr komfortabel im Vergleich mit den drakonischen Strafen, die eine rumänische Frau zu Ceausescus Zeiten aufgrund einer Abtreibung zu erwarten hatte.

    Ich finde auch, wenn mein Bauch mir gehört, bin ich verantwortlich, dass da nichts reingerät, was ich da nicht drin haben will. Trotzdem ist es ein bisschen lebensfremd, anzunehmen, dass bei solch verantwortlicher Position niemals eine ungewollte Schwangerschaft entstehen kann.

    Grüße
    Lupus

  8. REPLY:
    Wie hoch die „Kindsmordrate“ (spezielle Tötung Neugeborener) wirklich ist, ist übrigens unbekannt, egal ob Ost oder West. Die Zahl entdeckter Fälle ist seit Jahren in etwa konstant, und zwar niedrig.

    Genaueres und wirklich Eingehendes dazu hat terre des hommes erarbeitet, wo man sich auch intensiv mit Babyklappe und „anonymer Geburt“ auseinandergesetzt hat.

    Nun aber genug
    L.

Kommentare sind geschlossen.