Angie I

Zwischen der dritten und siebenten Klasse war sie meine beste Freundin. Von meinen Eltern wohlwollend abgenickt – ihre Eltern waren in der Partei und „für unseren Staat“ – verbrachten wir viele Nachmittage miteinander. Das heißt, so viele Nachmittage waren es gar nicht. Sie war für eine Leistungssportkarriere avisiert und trainierte viermal in der Woche Eisschnellauf. Was an sich absurd war in einer brandenburgischen Stadt, die keine Eisbahn besaß. Der überwiegende Teil des Trainings bestand aus übler Schleiferei durch einen winzigen, militanten Feuerwehrmann auf dem Betriebsgelände der Hauptfeuerwache. Stundenlages Treppenhetzen, Sprungübungen und Sprinten. Begabten wurden Rollschuhe zugeteilt, die Inlineskates vorwegnahmen. (Zweimal konnte ich mich nicht wehren, sie schleifte mich mit und kleines dickes Kitty konnte sich tagelang vor Muskelkater nicht bewegen.) Im Winter fuhr die Trainingsgruppe immer Dienstags mit dem Bus irgendwo nach Süden. Weißwasser oder so, es war weit weg. Mit dem altersschwachen Bus waren sie vier Stunden unterwegs, um zwei Stunden zu trainieren. Hausaufgaben wurden während der Fahrt gemacht, auf dem Rückweg schliefen die Kinder und liefen, auf der Hauptstraße abgesetzt, dann noch abends spät nach Hause. (Unbegleitet natürlich, ohne Freßpäckchen und Trinkflaschen. Es waren die 70er, es war DDR und beide Eltern hatten eine 42-Stunden-Woche.)
An solchen Tagen verkroch ich mich mit meinen Lieblingsfreunden, den dicken Büchern aus dem Schrank meiner Eltern, in meinem Zimmer. Am nächsten Morgen ließ ich dann die völlig übermüdete Angie in Mathe abschreiben. In der Schule war sie nicht gut. „Komisch“, meinte mein Vater immer. „Dabei hat sie doch intelligente Eltern.“ Die beiden – eine Lehrerin und ein Architekt – waren allerdings völlig mit sich selbst beschäftigt. Nachdem ein eherettender Nachzügler, der klassische nervige kleine Bruder, auf die Welt gekommen war, hatten sie eine Standard-Plattenbau-Wohnung kreativ eingerichtet. Ich stand staunend vor braun gestrichenen Wänden, die mit Kork-Krümeln strukturiert waren und bewunderte eine Deckenleuchte in Form einer Petroleumlampe. So etwas kannte ich von zu Hause nicht. In der Wohnung meiner Eltern stand hochklassiger VEB-Schick, sachlich, schnörkellos, Schleiflack. Antiquitäten oder Extravaganzen machten meinen Eltern Gänsehaut.
Wenn Angie Zeit hatte, machte sie Betrieb. Ursprünglich sollte ich nach der Schule mit zu ihr gehen, um ihr bei den Hausaufgaben zu helfen, aber wir beschäftigen uns mit wichtigeren Sachen. Vintage-Karaoke zu Beispiel. Tonband an, Kopfhörer auf die Ohren und laut mitsingen. Oder Kochsendung spielen. Dabei wurde immer nur ein Gericht publikumswirksam zubereitet, nämlich Zuckerei. Das aß dann Angie, ich haßte das schleimige Zeug und sie war ohnehin zu dünn und durch den Sport immer hungrig. Wenn wir noch ein paar Mädels mehr waren, wurde Zirkus gespielt. Die blonde Marion brachte dann die Wellensittichnummer. Mund auf-Wellensittichkopf rein-Mund vorsichtig zu. Wobei wir alle der Meinung waren, die blonde Marion hat einen Knall. Wer nimmt schon freiwillig einen staubtrockenen, zeternden und strampelnden Wellensittich in den Mund?
Ich war – wie immer – wenig extrovertiert. Da ich mich mit Angie nicht über Bücher unterhalten konnte, weil sie nicht las, ließ ich mich zu jeder Menge Blödsinn animieren. Im Wochenabstand kaufte erst sie sich heimlich einen Hamster und dann ich mir eine weiße Maus und wir stellten unsere Eltern vor vollendete Tatsachen. Die Freude war natürlich groß.
Angies großer Traum war aber ein Hund. Stundenlang wälzte sie mit mir Hundebücher, dachte sich Namen aus und übte schon mal Hundekommandos. Ihre Mutter hielt dagegen, daß das wohl kaum ginge, sie solle sich lieber um ihren kleinen Bruder kümmern. Der kleine Bruder, das verhätschelte Herzblatt. Wir haßten ihn innig, genauso wie Angies Vater ihn haßte. Der kam manchmal tagsüber kurz nach Hause, hatte schlechte Laune oder brüllte ein bißchen rum, nahm ein paar Sachen mit und ging wieder. Wenigstens trank er nicht, wie so viele Väter. „Er hat andere Weiber!“, vertraute mir Angie an. Ich wußte zwar nicht so recht, wie, denn in der Wohnung sah ich immer nur die Mutter, aber eines Tages stand war „Hurentröster“ in den Lack der Wohnungstür gekratzt. Und Angies Mutter trug mitten im Winter eine Sonnenbrille, als sie mir die Tür öffnete. Ein Gerstenkorn, wie sie sagte. „Quatsch, sie hat n Veilchen. Papa hat ihr eine gehauen.“, korrigierte Angie.
Ein paar Wochen später räumten die Eltern getrennte Zimmer ein und ließen sich scheiden. Ins Schlafzimmer zog die Mutter mit dem Hamster und den zwei Kindern, im Kinderzimmer wohnte nun der Vater, das Wohnzimmer teilte man sich widerwillig und mit Aggressionen. Der Vater war ohnehin selten da, er war meistens bei den „anderen Weibern“. Das ging fast ein Jahr so, denn er wartete auf die Zuteilung einer Wohnung.
Eines Morgens wartete ich vergebens vor Angies Tür, um sie zur Schule abzuholen. Auf das Klingeln reagierte niemand. Ich war ratlos. Meine Eltern zuckten nur die Schultern, die Lehrer in der Schule fragten auch vergebens.
Nach einer Woche kam ein Brief von ihr. Sie waren innerhalb weniger Stunden zur Oma nach Thüringen abgereist, es hatte Ärger mit dem Vater gegeben, schrieb sie nebulös. Ihre Mutter hatte herausbekommen, daß der Vater schon lange eine neue Wohnung hatte, aber immer noch mietfrei in der ehelichen Wohnung kampierte, weil er sich mit dem Einrichten Zeit ließ. Sie mußte wohl irgendeine rechtliche Möglichkeit gefunden haben, den Mann aus der Wohnung zu bekommen. Ich wunderte mich. Dann war doch alles in Ordnung. Warum waren die drei dann in Thüringen und die Mutter ist krank geschrieben und geht zum Psychologen? (Merke: In diesem Land war man weder lange krank geschrieben, noch bemühte man die Dienste eines Psychologen. Es sei denn, man hatte ernsthaft eine Macke.) Drei oder vier Briefe später tauchten dann neue Worte auf. Der Kriminelle, der Vergewaltiger. Der Vater hatte auf seine Art Rache genommen für die Räumungsklage und es seiner Frau noch einmal richtig besorgt. Im Flur. Im Beisein seiner Kinder.
Mir war das alles zu viel. Man konnte doch einen Vater nicht hassen. Das war doch der Vater. Und ein Vater konnte doch so was nicht machen.
Was danach kam, war auch nicht besser. Angies Mutter war Lehrerin. Sie verdiente nicht viel Geld und hatte keine Möglichkeit, mit Überstunden oder Trennungsgeldern dazuzuverdienen wie andere. Sie drehte jeden Pfennig dreimal um und nahm dankbar die abgelegten Sachen ihrer Freundin an, auch wenn sie viel zu groß waren für ihre zierliche Figur. Angie bekam neue Klamotten meist von der Oma. Das nötigste. Mal eine neue Jacke, mal Hosen, aus denen sie, langbeinig wie sie war, viel zu schnell herauswuchs. Wenn Waschtag war, trug sie ihren Trainingsanzug, den bekam sie vom Sportverein umsonst. Der Fernseher ging kaputt, das Sofa wurde fadenscheinig und die Stühle fielen auseinander und es gab niemanden, der sie reparierte. Der Mann der Freundin hatte sich mal dran versucht, war aber bald nicht mehr erwünscht, denn er trug zum Tischlerleim noch Kondome in der Tasche.
Angie ertrug nicht, daß ihr Bruder und ihre Mutter eine untrennbare Einheit waren. „Der Kleine“ schlief mit ihr in einem Bett und bekam jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Als er irgendwann mal ihre Lieblingsplatte mit Honig beschmierte und mit einem Löffel darauf herumkratzte, zuckte Mutter nur die Schultern: „Hättest du besser aufpassen müssen.“
Angie war jetzt viel bei mir. Mein Vater mochte das nicht. Sie war laut und unberechenbar, ich dann natürlich auch und er saß hoch konzentriert am Wohnzimmertisch, ein Glas Rotwein neben sich und schrieb an seiner Doktorarbeit. Blödsinn war meist Angies Idee. Ich hatte zwar jede Menge Blödsinn im Kopf, holte ihn aber nicht raus. Eines Tages tranken wir aus der Flasche meines Vaters, tapfer, mit verzogenen Gesichtern, er liebte trockenen Rotwein. Das gab dann Ärger, denn mein Vater bekam schnell mit, daß dem Wein ein paar Prozent Alkohol fehlten, wir hatten mit Wasser aufgefüllt. Im Sommer, als es hitzefrei gab, kam Angie auf die Idee, daß wir kurzerhand den Bus zum Badesee nehmen sollten. Wir schrieben keinen Zettel, denn wir wollten zurück sein, bevor unsere Eltern von der Arbeit kamen, schließlich hätten wir um Erlaubnis fragen müssen. Wir badeten und hatten Spaß, zum Schluß kauften wir noch ein Eis und schlenderten zum Bus. Keine zwei Minuten später hatten wir ein Problem. Wir hatten aus meiner Geldbörse gelebt und irgendwie hatte ich mich verkakuliert. Für die Busfahrt zurück fehlten uns 50 Pfennig. Ich bestand darauf, daß wir die 8 Kilometer zurück liefen. In meiner Welt existierte nicht einmal der Gedanke, daß wir den Busfahrer um eine Ausnahme bitten konnten. Dafür war ich zu schüchtern. Wir kamen sehr spät nach Hause und wurden schon vermißt und gesucht. Das brachte mir eine Woche Umgangsverbot mit Angie ein. Trotzdem nahmen wir sie noch einmal mit an den See. Ihre Mutter hatte kein Auto und der Kleine konnte nicht schwimmen, deshalb fuhren sie nie baden. Meine Eltern waren wahrscheinlich der Meinung, daß es uns besser bekommen würde, wenn wir unter Aufsicht wären. Dachten sie. Wir schwammen auf den See hinaus. Nach einer Weile meinten wir, eigentlich müßten wir mal drüber schwimmen in diesem Sommer. Wir schwammen weiter. Ich wollte umkehren, damit sich mein Vater und mein Bruder keine Sorgen machten. Doch Angie meinte: „Quatsch, wir schwimmen jetzt drüber, wir sind doch schon so weit!“ Wir hatten uns die breiteste Stelle des Sees ausgesucht, das waren über 800 Meter, und brauchten ewig (fast eine Stunde, wie ich heute ausrechne). Es war anstrengend. Wir zogen uns mit letzter Kraft ans Ufer und lagen erst mal zehn Minuten zum Ausruhen im Sand. Dann wollte ich zurück. Es wurde spät, wir sollten eigentlich nur noch einmal schwimmen gegangen sein, vor der Rückfahrt. Doch Angie sagte: „Ich kann nicht mehr schwimmen, ich saufe ab.“ (So unsportlich ich gegen die trainierte Angie war, für mich wäre das kein Problem gewesen. Das war einer der wenigen, wenn nicht der einzige sportlich Triumph meiner Vorpubertät.) Wir liefen mit nassen Badeanzügen um den See, gut fünf Kilometer weit. Die Sonne war inzwischen weg, es war kalt geworden und mein Bruder kam uns wütend entgegen, er war ausgeschickt worden, uns zu suchen. Mein Vater war zu resigniert, um richtig Ärger zu machen. Es war nur klar, das war die erste und die letzte gemeinsame Unternehmung. Ich verstand, daß ich gerade eine Grenze getestet hatte, ich hatte keinen Bock mehr auf diese hirnlosen Stunts, denn im Gegensatz zu Angie dachte ich meistens über die Konsequenzen meines Handelns nach.
Drei Tage später lag sie schwer krank im Bett. Der Zeitpunkt war ungünstig, denn sie war allein zu Hause. Ihre Mutter mußte eine Klassenfahrt betreuen und hatte den kleinen Bruder bei der Freundin abgegeben, die auch immer mal bei Angie nach dem Rechten sah. Ich habe nicht richtig mitbekommen, was dann passierte. Die Mutter brach die Klassenfahrt jedenfalls nicht ab, das war unmöglich damals. Und ich durfte sie lange nicht besuchen, damit ich mich nicht anstecke. Wochen später war ich einmal zu Besuch, da ging es ihr noch nicht wesentlich besser. Als ihre Mutter aus dem Zimmer ging, sagte sie mir, daß sie die Penicillin-Kapseln immer versteckte, sie könnte sie nicht runter schlucken.
Nach den Sommerferien verbrachten wir nur noch selten Zeit miteinander. Ich war in den Wochen so breit wie hoch geworden und litt fürchterlich. Sie dagegen begann mit Jungs durch die Gegend zu ziehen. Als ich einmal neugierig mitkommen wollte, lächelte sie mich nur mitleidig an. „Enrico hat mich gestern abgelappt. Willste wohl auch?“ Ich sah Enrico an. Knutschen? Womöglich mit Zunge? Das wollte ich schon, aber der Blick, den ich auffing, sagte alles: Was soll deine fette Freundin hier?
Ich geriet an einen anderen Pummel. Ein dralles Proletarierkind mit ebenso drallen Eltern. Sie war mir zwar zu dumm, ich kam aus dem fremdschämen nicht heraus, aber sie brachte mir wenigstens das Rauchen bei, damit ich mich in Gesellschaft anderer nicht vollends blamierte.
Die Qual der Pubertät hatte begonnen. Ich sehnte mich nach Angies Freundschaft zurück. Es war wunderbar, wenn auch anstrengend, untrennbar mit ihr verbunden zu sein. Loyalität war für mich eine Lebensessenz, wie es schien.
Der endgültige Bruch ließ nicht lange auf sich warten. Irgendwann kicherte die ganze Klasse und zeigte mit den Fingern auf mich und die dicke G. Angie hatte uns einen Spitznamen verpaßt. Bay City Rollers.
Das habe ich ihr nie verziehen.

6 Gedanken zu „Angie I

  1. Die reguläre Arbeitswoche hatte in der DDR sogar 43,75 Stunden, wenn man nicht Schicht arbeitete, also 8,75 h/Tag.

  2. Danke für das Eintauchen lassen in Deine Welt damals. Toll geschrieben. Ich könnte noch Stunden weiterlesen.

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