Angie und ich verloren uns aus den Augen, als ich aufs Gymnasium wechselte. Doch schon vorher verband uns nicht mehr viel. Ich entwickelte mich immer mehr zum verträumten Nerd und Angie zog mit den hübschen Rummelplatzmädchen rum. Ich vergrub mich in Büchern und selbstgeschriebenen Geschichten und sie ließ sich hinterm Walzertraum von tätowierten Typen unter die Bluse gehen. Ich habe sie beneidet, ohne Zweifel.
Im ersten Gymnasiumsjahr kam ich langsam wieder aus meinem Schneckenhaus heraus. Als ich mit meinem ersten Freund aufgeregt, mit schwitzigen Händen, Arm in Arm durchs Plattenbauviertel ging, kam ich an ihrem Kinderzimmerfenster vorbei. Es war rußig und die Scheibe war von einer Pappe ersetzt. Als ich sie ein paar Monate später sah, sprach ich sie darauf an. Ihre frühere Unruhe und leichte Aggressivität hatte sich in Wut und Bitterkeit verwandelt. Ihr Gesicht war gezeichnet davon. Sie erzählte mir, daß durch eine Kerze, die sie auf dem Fensterbrett stehengelassen hatte, ihr Zimmer völlig ausgebrannt wäre. Die Reaktion ihrer Mutter war die alte: „Das ist nicht mein Problem, hättest du besser aufpassen müssen.“ Alle ihre Sachen waren verbrannt, bis auf den Schlafanzug, den sie am Körper trug und die Hausratversicherung zahlte wegen Fahrlässigkeit nicht. Die Mutter ihres Freunds gab ihr eine Hose und einen Pullover und kaufte ihr ein paar billige Leinenturnschuhe.
Wenig später hörte ich, daß sie mit Ach und Krach die Schule bestanden und irgendwo eine Lehre begonnen hatte. Dann berichtete meine Mutter, sie hätte ihre Mutter getroffen, die völlig unglücklich über ihre Tochter wäre, die die Ausbildung schwänzen und um die Häuser ziehen würde. Irgendwann sah ich sie in der Straßenbahn. Übernächtig. An den Fingern primitive Pennertätowierungen.
Nach dem Abitur, ich arbeitete schon am Theater, hatte eine Freundin Verbindung zu ihr. Angie hätte sich gefangen, sie hätte einen festen Freund und wäre schwanger. Später änderte sich das Bild der Berichte. Der Mann war durch einen Unfall behindert, ihm fehlte ein Bein. Schwanger oder nicht, Angie trug die Kohleneimer vier Treppen hoch und wurde – da ihr Freund trank und scheinbar seelisch mit der Behinderung nicht zurechtkam – geschlagen.
Jahre später trafen wir uns in der Stadt. Ich hatte das Kind im Buggy. Angie, einen kleinen, blassen Jungen an der Hand, war selbst sehr dünn, blaß und hochschwanger. Sie freute sich sehr, mich zu sehen, aber es war eines der Gespäche, wo man sich gegenseitig eine Kurzfassung der letzten Jahre gibt, ohne wieder zueinander zu finden. Der kleine Junge war so oft krank, daß sie keinen Anspruch auf Krankengeld mehr hatte. Sie lebte von einer Art Sozialhilfe, 200 Mark im Monat, zum Leben selbst in der DDR zu wenig, zum Sterben zu viel. Den Mann hatte sie rausgeschmissen. Das Kind im Bauch … nein, das hat einen anderen Vater, der ist Drummer in einer Band, hat sich aber längst verpißt. Ihre Mutter wollte kein Enkelkind. „Ich bin Lehrerin, ich habe genug mit nervenden Kindern zu tun, komm nicht auf die Idee, das hier abzuliefern.“ Ich redete verhalten über mich. Job in Vorbereitung aufs Studium, das Kind zeitlich passabel bekommen, Wohnung, verheiratet… Ich starrte auf ihr Kleid. Wie wir Späthippiefrauen trug auch sie ein bodenlanges Hängerkleid aus gefärbtem Bettlaken. Ihres war ungeschickt, mit unpassendem Garn mit der Hand genäht.
Die Jahre vergingen. Meine Mutter grüßte mich plötzlich von Angie. Sie hatte sie am Empfangsschalter des Krankenhauses getroffen, wo sie arbeitete. Vor drei, vier Jahren kam eine Mail, sie hatte meine Firmenseite gefunden. Wir schrieben uns ein paarmal. Ich erfuhr so den Rest der Jugendgeschichte. Beim Sport hatte man sie rausgeekelt, als klar war, daß sie nicht aufs Sportinternat wollte. (Wir ahnten durchaus, daß es in der Begabtenförderung brutales Doping gab, man konnte sich dagegen entscheiden.) Sie hatte nie richtig abtrainiert und war schnell sehr dick geworden, was sie mit Rauchen wieder in den Griff bekam. Nachdem das Zimmer ausgebrannt war, ließ ihre Mutter es wieder herrichten. Sie hatte einen Mann kennengelernt, der in Scheidung lebte und sofort bei ihr einzog. Der kleine Bruder sollte aus Mutters Schlafzimmer ausquartiert werden und gemeinsam mit seiner nunmehr 15järigen Schwester in einem Zimmer schlafen. Angie überlegte, zu ihrem Vater zu ziehen, doch der hatte eine neue Familie. Eine Zeit lang war sie viel bei ihrem Freund, bis das auseinanderging und sie ihre Lehre begann. Dort ließ sie halt die Sau raus… Doch das sei schon lange Vergangenheit. Jetzt sei sie am Wochenende viel in Berlin, die Kinder wären schließlich schon groß. Sie würde immer bei ihrem Bruder schlafen, der nach dem Studium in Berlin einen Job gefunden hätte, doch das wäre ihm auf die Dauer nicht recht. Auf diesem Ohr war ich relativ taub. Ich hatte damals eine 60-Stunden-Woche und ein Kind und keine Zeit um die Häuser zu ziehen.
Der Kontakt schlief wieder ein. Im letzten Jahr hörte ich zweimal über sta*friends von ihr. Sie schrieb von gemeinsamen Kindheitserinnerungen. Karaoke, der Hamster und die Maus. Ich antwortete nicht. Angie ist als Erinnerung in meiner Kindheit zurückgeblieben. Die Erwachsene ist mir fremd, sie bewohnt eine andere Welt. Manchmal überlege ich, ob ich mich deshalb schuldig fühlen sollte, ob meine Haltung arrogant ist. Aber ich glaube, es ist gut so.
REPLY:
hm, das ist mir am wochenende so gegangen. ich saß zum frühstück an einer tischdecke, die ich vor 17 jahren mal genäht habe. und ich sah mich in der wohnung um und dachte: ja, so ähnlich hast du mal gelebt, aber das hier hat nichts mehr mit deiner realität zu tun.
seltsam, wie oft man sich allein seiner gedanken wundert, schämt oder wasauchimmer. jedesmal wenn ich die frau treffe, mit der ich fast mein halbes leben verbracht habe denke ich das. einerseits mag ich sie noch sehr, andererseits ist sie mir auch völlig fremd geworden. „eine andere welt“ halt. den kontrast bemerke ich verstärkt in dem augenblick, wenn ich wieder zuhause bin. in meiner welt. und alles ganz anders ist.