Unter kahler werdenden Bäumen

Da die Odyssey of Failure dieses Jahr scheiterte, fand aus diesem Grund ein Brunch in kleinem Kreise statt. Ein kleiner Salon für intime Debatten mit Kaffee, Wurstsemmeln und Kuchen, was will man mehr.
Ich nehme meine Themen wieder mit hinaus, um an ihnen weiter zu arbeiten. Als da wären:
1. Endlich, endlich einen Blogpost über den Film Blind Sight zu schreiben, der ein größenwahnsinniges, kulturkolonialistisches Projekt, das … scheiterte … in einen Erfolg umzudeuten versuchte. (Seit 2007 rege ich mich über diesen Film auf!)
2. Mein aktuelles Thema, das ich vertiefen will – Ist Altern Scheitern oder Erfüllung?

Das mit dem Altern braucht eine Erklärung. Seit Wochen und Monaten treffe ich Menschen zwischen 45 und 55, die vor tiefen Lebensumbrüchen stehen. Sie sind dabei, sich neu aufzustellen, sich neu zu erfinden und es scheint anders und schwieriger zu sein als in den Metamorphosen zuvor. Sei es bei der Partnersuche, der Suche nach dem Lebensstil für die nächsten 15 Jahre oder der Suche nach dem passenden Arbeitsplatz. Ich nehme mich nicht aus. Bin ich doch gerade an dem Versuch gescheitert, wieder zu arbeiten wie eine 30- oder 40-Jährige. (Ja, ich habe aufgegeben, nachdem ich wieder krank wurde.)
Ich möchte vor allem die Geschichten aus dem Arbeitsleben sammeln und jenseits vom Buzzword „Altersdiskriminierung“ analysieren.
Wann war der Moment, in dem man begriff, dass man für die Arbeitswelt als alt gilt?
Für mich gab es zwei initiale Momente. Der eine war, dass ich Post-Burnout und nach der Schließung meiner Firma im Jobcenter saß und die  – sehr nette und bemühte – Beraterin meinte, wenn ich wieder gesund wäre, kämen ja dann auch Förderungen für ältere Arbeitnehmer in Frage, schließlich sei ich 45. Ich habe sie damals schallend ausgelacht.
Der andere, dass drei Jahre später im Bewerbungsgespräch der etwas unvorbereitete Chef meinte: „Oh! Aber Sie sind ja, Moment mal, Sie sind ja … auch schon älter!“, worauf er im Lebenslauf spickte, „Ah! Mein Jahrgang!“ Ich hatte – wie später immer mal wieder – jemanden getroffen, der ungern jahrgangsmäßig in den Spiegel sah. Damals war das Gespräch in dem Moment gelaufen. Der Mann wollte keine alte Frau auf dem Posten.
Ich sammele solche Erlebnisse, wer mag, kann sie mir in die Kommentare schreiben oder mailen, auch anonym natürlich.

Wir sind viele. Eine sehr große Alterskohorte tritt in die Phase der letzten 15-20 Arbeitsjahre vor dem Ruhestand. Ist es wirklich so, dass die Arbeitswelt nicht auf uns verzichten kann, weil die Jüngeren zahlenmäßig nicht ausreichen? Kommt mit dem Nachlassen unserer Leistungsfähigkeit noch einmal ein Innovationsschub, der viele Arbeitskräfte spart? Verändert unser Altern die Wirtschaft? Wird sie weniger leistungsfähig, risikoscheu, satt und träge?
Was wollen wir? Ich kann nur für mich sprechen. Ich kann und will nicht mehr Vollzeit arbeiten, stark verdichtete Arbeit ist schwierig (vor allem Dynamik um der Dynamik willen), aber ich schöpfe sehr gern aus meinen reichen Erfahrungen, kann Situationen sehr schnell einschätzen, über Handlungskonsequenzen entscheiden und diese souverän kommunizieren. Interessiert das jemanden? Ist jemand im ersten Job, die sich hungrig ins Getümmel wirft, happy darüber, endlich richtig Geld zu verdienen, einem Arbeitgeber willkommener?
Was werden unsere Arbeitsmodelle sein?

Jetzt noch ein paar Links: Stefan Niggemeier hat eine Zitate-Sammlung angelegt, wie die Presse Akif Pirincis Rede mit dem berühmten KZ-Satz wiedergab. Auch dieser Mann, der sich viel zu gern in möglichst provokativen Thesen reden hört und deshalb Aufmerksamkeit bei konservativ-traditionalistischen Menschen sucht, gehört korrekt zitiert und nicht so, wie man ihn gern hören möchte. Gerade wegen des in bestimmten Milieus gemachten Vorwurfes der „Lügenpresse“.
Die Nazibedrohungs-Angstlust, die im Moment so viele Menschen überschwemmt, die in extremen Auswüchsen bis „alles Nazis außer ich“ geht, ist wahrscheinlich historisch folgerichtig, aber trotzdem meiner Meinung nach ein irreführendes Gefühl. Je böser und schlechter (und dann noch mit historisch aufwühlendem Etikett) die anderen klassifiziert werden, desto besser fühlt man sich selbst und um so effizienter können eigene Ängste und inneren Widersprüche verdeckt werden. Es hat den Anschein eines großen Heilungsversuches, ein „diesmal sind wir alle dagegen und das Schlimme passiert nicht“, der dann eben auf Kosten der Ausgrenzung und Diabolisierung weiter Bevölkerungsschichten geht (die alles beinhalten, Realisten, Skeptiker, Zweifler, Ängstliche, Idioten, Besitzstandswahrer, Analogtrolle, Spießer und Volksverhetzer). Nicht gut das. Eine Gesellschaft beinhaltet alles. Eliten und Traditionalisten. Sie bedingen einander. Der eine kann ohne den anderen nicht sein.
Wie hieß es nach dem 17. Juni 1953, einem Tag, an dem sich der arbeitende Pöbel ohne großes Bewusstsein für die tiefgreifenden Umwälzungen in der Gesellschaft gegen die Arbeiterregierung stellte:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
Quelle: Berthold Brecht Die Lösung. In: Buckower Elegien, 1953. In: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Dritter Band: Gedichte 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1997. S. 404

Und es juckt die Geschichte nicht im geringsten, dass das Pack den Schuss auch heute wieder nicht gehört hat.

Jetzt geht es unpolitischer weiter. Es ist der Herbst der Nähnerds.
Die von mir sehr verehrte Suschna hat ein Buch herausgebracht:
Verflixt und zugenäht. Textile Redewendungen
es ist zudem auch noch ein wunderbares bibliophiles Schmuckstück.
Frau Nahtzugabes neues Buch, diesmal zum Thema Upcycling, ist letzte Woche erschienen:
Neues Leben für alte Kleider. Kleine, feine Nähprojekte
Frau Craftelns Buch erscheint in der nächsten Woche:
Nählust statt Shoppingfrust. Selber nähen macht glücklich!
Daniela Warndorf verkauft seit einigen Monaten schöne und praktische Strick- und Häkelsets und es läuft und läuft und läuft.
Und, natürlich, kommt nun noch einmal der Hinweis auf den wichtigsten Sendetermin in der nächsten Woche:
Die Nähshow Geschickt eingefädelt unter Teilnahme von zwei Nähnerds startet am Dienstag, den 3. November um 20:15 Uhr auf Vox. (hihi, lange keine Sendestarts mehr beworben, seit ich nicht mehr Filmagentin bin…)
Gibt es eigentlich irgendwo in Berlin ein Public Viewing? Sollte man die Magnet-Bar dafür entern? … Gerade nachgeschaut, da läuft Champions League, das geht nicht.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Leben von kitty. Setze ein Lesezeichen zum Permalink.

9 Gedanken zu „Unter kahler werdenden Bäumen

  1. Pingback: Results for week beginning 2015-10-26 | Iron Blogger Berlin

  2. Lieben Dank für Ihre/Deine ehrlichen und offenen Worte. Ich lese hier immer regelmäßig, still und leise deine Blogeinträge. Vieles kann ich teilen, an Erfahrungen und Reflexionen über das Leben. Die Welt wird sich nach 26 Jahren, damals die Maueröffnung, wieder einmal neu definieren und drastisch verändern. Bitte, hören Sie/Du auf deine innere Stimme, sie ist der Wegweiser, der Kompass des Lebens.
    Alles gute für das weitere Leben!

  3. Beim Public Viewing in einer schönen Bar wäre ich dabei. Aber wenn gleichzeitig Champions League läuft, dann werden viele Läden, die auf Fernsehübertragung eingestellt sind, Fußball zeigen. Nähcafes und Stoffläden müssten das anbieten!

    Danke fürs Erwähnen und Verlinken!

  4. Vielen Dank auch von mir für die Buchhinweise. Gerade bekomme ich so viele warme Duschen, bin immer noch ganz verwundert.

  5. Was diese Generation eint ist die Erfahrung: „Wir waren immer zuviele“. Nun sind es eben auch zuviele, die sich um die verbliebenen Arbeitsplätze und Nischen „für Ältere“ schlagen. Wir haben es in den seit 35 Jahren unseres Studiumbeginns oder Einstieg in die Arbeitswelt nicht geschafft, neue Modelle zu erfinden und zu etablieren. Das wird nun auch für die letzte Lebensphase nicht anders sein. In meinem Bekanntenkreis reicht das vom Manager, der mit 53 Jahren seine Schäfchen im Trockenen hat und nun nur noch sein Golf-Handicap verbessert, über Unternehmer, die gerne weniger arbeiten würden, aber in den finanziellen Ansprüchen ihrer Familie und der Verantwortung fürs Unternehmen gefangen sind, bis zu Wissenschaftler, die endgültig aus dem Wissenschaftsbetrieb herausgeworfen worden sind und praktisch mit Ende 40 vor dem Nichts stehen. Oder ich kenne auch genug Angestellte und Beamte im öffentlichen Dienst in diesem Alter, die Ziele für sich begraben haben und nur noch ruhig für die Rente planen. Zu mir. ich habe einen sehr gut bezahlten Scheissjob. Sehr gefragt auch bei Headhuntern. Aber die Unternehmen lassen die Position eher vakant, als dass sich einen 50-Jährigen unterhalb der zweiten Managementebene einstellen.

    Also: Es ist vielfältig. Es mag richtig sein, dass das Alter und der Umgang damit in Beruf und Gesellschaft eine bestimmende Komponente ist. Nur sehen das die Betroffenen oftmals nicht so, sondern erklären ihre Erfahrungen mit persönlichen Dingen fest. Und so ändert sich nix. Wenn wir was gelernt haben, dann sich durchzuwursteln.

Kommentare sind geschlossen.