Sonntagsmäander im Tauwetter

Gestern ein Gespräch bei diesem leckeren Hamburger,

geführt mit einer, die aufbricht, um alte Ufer hinter sich zu lassen. Wir verstanden uns, glaube ich. Wahrscheinlich jeder auf seine Weise.

Weggehen/Auswandern wollen verkünden viele in diesen Zeiten. Die, die meinen, dass Kaltland nicht mehr aushaltbar ist, sind oft die, die ihre mentale Bestätigung und offene Arme frühestens bei den administrativen Resten Kubas oder in Nordkorea zu erwarten hätten.
Kanada? Sexy Ministerpräsident! Tolle Politik! Nähme euch, wenn ihr jung und für den Arbeitsmarkt brauchbar ausgebildet wäret (nur so viel: ein Philosophie- oder Theaterwissenschaftsstudium ist es nicht) oder Geld mitbringt und anlegen wollt.
Alle möglichen anderen Heimaten sind mittlerweile, so hört man, von Nazis unterwandert und ungeeignet. Siehe Schweden, das alte, lässig-kuschelig-freie Sehnsuchtsland.
Sich mit dem zu konfrontieren, was ist, ist unangenehm. Natürlich kann mensch vermeiden, ignorieren, wegsehen, selektiert wahrnehmen, aus der eigenen Position sich empören, er- und verklären. In jeder politischen Richtung. Letztlich kommt doch nur ennyuierendes moralisches Haltungsturnen raus – je nach sozialem Hintergrund als abgezirkeltes Ballett, Bauernstampfer oder Pogo rüberkommend.
Das kenne ich zur Genüge aus der DDR, die hatte auch Phasen, wo Entwürfe und Realität sehr auseinanderliefen. Das brauche ich nicht mehr.

(Ich muß mein Genöle allerdings präzisieren. Ich habe mehr und mehr den Eindruck, daß zu zeigen, daß man das Richtige denkt, tut, ißt und sich von allen, die anders sind, empört abgrenzt, ein wichtiges Element von Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken geworden ist. Im RL gelten andere Kommunikationsregeln.)

Was mich so wurmt: Der Diskurs ist Lichtjahre entfernt von denen, denen es passiert. Er läuft irgendwo in der Stratosphäre und zeichnet dort Kondensstreifen. Während unten Leute im Schlamm hocken.
Bei den Disputen um die Essener Tafel ging es in keinem Moment wirklich um die konkret Betroffenen. Ich habe auch nicht mitbekommen, dass bisher einer dieser Menschen gehört wurde.
Es erinnert mich sehr an die Anekdote über den amerikanischen Bürgerkrieg, in dem den Sklaven die Rolle den Knochens zukam, um den Hunde sich streiten. Das wiederholt sich übrigens auch in den Disputen um sexuellen Missbrauch durch Hilfsorganisationen. Die Kommunikation ist ganz schnell meilenweit weg von denen, um die es eigentlich geht.

Das mit diesen Sich-Verstehen in dem Gespräch, mit dem oben ich in den Text einstieg, ist mit Tun verbunden, weniger mit Reden. Da finde ich mich wieder.

Das mit dem aktuellen Tun ist so eine Sache. Wie das mit den nicht kalkulierbaren Witterungsunbillen eben ist. Die Wasserzuleitung, die quer durch die Scheune geht, zwar an der Decke und eingepackt, ist eingefroren und es ist zu hoffen, dass der Schaden beim Auftauen nicht allzu groß ist. Ich für meinen Teil war da ziemlich naiv und ging davon aus, dass so etwas erst nach einer Woche Dauerfrost unter -10 Grad gefriert. Aber auch die 250l-Regentonne war nach drei Tagen komplett durchgefroren. Und das Blechdach wirkt wie ein Kühlaggregat.
Wir waren daher von Mittwoch bis Freitag ohne Wasser bzw. machten den 100l-Boiler leer und dankten allen Entitäten, die über uns wachen, für die gut getrockneten Eschenkloben, die wir letztens erstanden und die für Wärme sorgten. (Dass das Holz, wie erhofft, bis ins Frühjahr reichen wird, können wir vergessen.) In der Sparte Überlebenstechniken übten wir wieder Einschlafen bei 3-5 Grad, aber mit Unterstützung einer elektrischen Heizdecke im Bett.
Die Dusche und die Badewanne weiter aufzubauen, fiel also aus. Wir versuchten vergebens, unsere neuen Rohre aufzutauen, weil sie frei waren, popelten dann weiter Tapete von den Wänden, richteten des Grafen Werkstatt her. Vor allem aber holten wir den letzte Woche im Lübecker Schneechaos erstandenen Ofen ins Haus.
Der Graf ist ein Ingenieur mit Uhrmacherhänden, der aus einer Familie von Männern kommt, die mit Lasten schon immer clever umgingen und deshalb nicht mit 50 kaputte ehemalige Berserker waren, und ich bin eine Frau und hab einen in 3 OPs angetackerten Beckenboden, weil ich das gern vergaß in früheren Jahren. Daher fällt alles Heben, Schieben und Wuchten beim Bewegen schwerer Gegenstände von A nach B aus.
Die Hilfe des Dorfes wollten wir uns lieber für andere Dinge aufheben und so kam es zu einem glückhaften Teamwork-Moment (ansonsten werfen wir uns ganz gern vor, dass wir garnicht miteinander können). Der Graf präferierte seine kippen-rollen-auflegen-nur zur Hälfte heben-Technik. Ich wußte, dass die Last auch dann meine Kraft überstieg, hatte den Bau der Pyramiden als inneres Bild und sagte „Hm, da müsste man ein paar Bretter zur Rampe…“ Der Graf pickte das Gerät dazu heraus, eine kleine Winsch und zwei Alu-Rampen, ich meinte was mit „Balken in der Tür festklemmen“ und der Graf baute die Winsch an einen Balken und klemmte ihn an einer anderen Tür fest. Er kaufte zwei harte Rundhölzer und ich wußte nicht so recht, wozu und sagte „Oh, wie bei den alten Ägyptern, da können wir den Ofen aus dem Auto rollen.“ Es ergänzte sich gut. Ich habe zwar immer mal Gedankenblitze, aber technisch hätte ich das nie im Leben umsetzen können.


Und so steht nun der Ofen im kleinen Haus und wartet auf den Anschluss.

Ansonsten hat mir in der letzten Woche das S-Bahn-Fahren einen Virus eingebracht, der uns daran hindert, heute Abend zurück in die Kälte zu fahren. Ich habe einen Tag im Bett gewonnen. Die ganz schlimmen Schmerzen der Kopfnerven sind zwar weg, aber ich bin immer noch schlapp.
Mir ist dazu etwas eingefallen. Ich lerne ja derzeit sehr viel. Wenn wir uns heute über die empfindsamen victorianischen/biedermeierlichen Mensche lustig machen, vergessen wir, wie hart das Leben jenseits der Empfindsamkeitszone war. Wer es als wert erachtet wurde, von einer Magd warmes Wasser zum Waschen ins Zimmer gebracht zu bekommen, musste weder vor aller Augen unter die Pumpe gehen oder das Eis in der Waschschüssel zerschlagen, noch gänzlich darauf verzichten, sich zu waschen.
Ich habe letzte Woche gelernt, wie wichtig Fleisch und warme Suppe sind und wie wertvoll entspanntes Durchatmen ohne Zittern.

Ganz zuletzt noch einmal zurück zu den Diskursen und der Wirklichkeit. Es gibt einen „meine Körperlichkeit tut nichts zur Sache“-Diskurs, der gut gemeint ist, aber sich das schön redet. Körperliche Präsenz lässt sich nicht ausblenden, höchstens mit viel Mühe überschreiben. Man könnte sich fragen, warum man das möchte. Es ist schön, irgendwann das Stadium von „Ich bin ich“ erreicht zu haben. Das macht es nicht unbedingt leichter, ja. Nicht umsonst hat der Ex-Gefährte, von dem hier lange die Rede war, als Mann von 1,90m ein gefühlt besseres Standing neben Frauen, die 40cm kleiner und um die 2/3 leichter sind als er.
Aber bevor ein Mensch erlebt wird wird er gesehen und gehört. Soziale Medien geben einem zwar die Möglichkeit, lange unkörperlich zu bleiben, aber so ist die Qualität der soziale Beziehung dann auch: Incomplete, zu einem guten Teil Projektionsfläche.
Aber was ich eigentlich sagen wollte: Lesen Sie bitte diesen Text. Er ist großartig. Und er handelt nur zu einem Bruchteil von Körperlichkeit.

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3 Gedanken zu „Sonntagsmäander im Tauwetter

  1. Viele kluge Sätze, auf die ich am liebsten einzeln eingehen würde. Aber da ich die Kommentarspalte zumüllen möchte, bedanke ich mich nur für einen großartigen und klugen Text.

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