Sonntagsmäander im sterbenden Sommer

Hier ist nur unterschwellig gerade etwas Endzeitstimmung, das Wetter ist zu goldig.
Aber.
Was draußen gerade passiert könnte das erdrutschartige Ende einer geschichtlichen Phase in Europa sein. Es fühlt sich ein bisschen an wie der Mauerfall. Da ging es um abgeschottete politische Systeme. Jetzt gehen noch mehr Schotten auf. Irgendwo las ich, Sozialstaat funktioniere nur in nationaler (ich würde eher sagen regionaler) Abschottung. Wir werden sehen, ob das stimmt.
Genau wie 1989 ist die Bundesrepublik Deutschland für viele Sehnsuchtsland und genau wie 1989, in der „Wahnsinn!“-Besoffenheit, wird sich die bald die Nüchternheit der Realität langsam wieder ausbreiten. Ich rede nicht unbedingt von syrischen Kriegsflüchtlingen. Zumindest die Syrer, die ich im Job kennenlerne, ticken ähnlich wie viele Deutsche, nur mit wesentlich mehr Sinn für große Familie. Die sind wahrscheinlich der leichteste Teil der Aufgabe, weil sie sich bald selbst zurechtfinden und ihr Leben gestalten.
Für die anderen kann man auch die schon etwas ältere Auswandererliteratur lesen. Die Geschichte von dem Samuraisohn, der im Auftrag des Vaters mit einer Kiste voller Kimonos und Schwerter in Amerika davon künden sollte, wie wichtig seine Familie ist und der als Obstpflücker-Wanderarbeiter sein Auskommen fand. Oder die Amerika-Erinnerungen von Wolf Durian, dem Autor von „Kai aus der Kiste“, die es manchmal noch in Antiquariaten gibt.
Aber genug politisiert.

Es geht noch etwas zu Ende oder verändert sich. Es ist erst knapp 14 Tage her, dass ich mit der Unterchefin redete, dass ich aus gesundheitlichen Gründen absehbar nicht mehr Vollzeit arbeiten kann und gern über alternative Arbeitszeitmodelle mit 2/3 Arbeitspensum reden würde. Mit dem Oberchef wollte ich erst nach seinem Urlaub reden, so was wollte ich ihm nicht mitgeben.
Es war einfach an der Zeit, denn ich merkte im Urlaub, dass ich ein halbes Jahr ausschließlich für die Arbeit gelebt hatte, wie eine Solotänzerin auf Tournee. Aufstehen, arbeiten, essen, eine Stunde stricken, bloß nicht reden und denken, Bett und hoffentlich durchschlafen. Am Wochenende ergänzt mit Wäsche waschen und Zusatzschlaf. Jede soziale Unternehmung riss mich tagelang ins Defizit.
Es mag sein, dass viele Menschen so leben. Nur, ich habe nie so gelebt. Ich mag meine Kollegen, ich mag den Job, aber das geht so nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht, weil es nicht meine Firma ist, weil ich kein Typ für Fremdbestimmung bin oder ganz simpel und technisch (und außerhalb der üblichen Konstruktion „ich bin schuld“) weil die extrem hohe Arbeitsdichte in der Hauptsaison zumindest für mich nicht mehr durch normale Arbeitsdichte in der Nebensaison kompensiert werden kann und Geld für mich kein Stimulans mehr ist.
Deshalb das von langer Hand vorbereitete Gespräch um Reduzierung des Arbeitspensums.
Super Planung, die wie immer vom Kopf ausgeht, der alles andere stramm stehen lässt. Klar wunderte ich mich, dass ich nach zwei Wochen Urlaub so wenig erholt war, dass ich mich schon in der ersten Arbeitswoche sehr angestrengt fühlte. Der Montag nach dem letzten Wochenende war die Hölle und die Nacht danach erst recht. Das Rest-Ich bemühte alles an Signalen, damit das Disziplin-Ego mitbekommt, dass es die gesamte Person schon wieder gefährlich auf der Grenze rumturnen läßt: Produzierte jegliche Form von Schwindelanfällen, drehte den Tinnitus-Regler bis zum Anschlag und als das Pfeifen und Jaulen auch nichts nutzte, wurde das Hörvermögen vom rechten Ohr runtergefahren. Und mitten in diese Taubheit klang der Satz: Na, hast du es jetzt mitbekommen?
In der Hoffnung, dass das alles nur Blutdruck/Kreislauf/Zudickundzuwaschlappig ist, ging ich zur Arbeit und beschloss, dann doch am nächsten Tag zum Arzt zu gehen. Es war tatsächlich ein Hörsturz. Nun bin ich noch die ganze nächste Woche aus dem Verkehr gezogen. Entweder die Tabletten oder die Ruhe helfen einigermaßen, keine Ahnung, was davon es ist.
Und ich fühle mich Sch…, schuldig, der ganze Salat. Bis dahin, dass ich allen vorgemacht habe, ich könnte den Job bewältigen und versagt habe. Was dann kommt, keine Ahnung. Offizieller Konsens ist, man könne diesen Job nur Vollzeit machen.

(Nein, bitte kein Mitgefühl und Verständnis. Ich ärgere mich über meine Blödheit und den Reflex, alle von mir und anderen an mich gestellten Leistungs-Erwartungen erfüllen zu wollen. Sich krank arbeiten, ist keine Lösung und nur Idioten nehmen wiederholt diesen Ausweg. Ein klares Nein zur rechten Zeit wäre besser gewesen.)

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18 Gedanken zu „Sonntagsmäander im sterbenden Sommer

  1. sich über sich selbst ärgen ist selbstbestrafung. eine so engagierte, leistungsorientierte dame wie du will natürlich immer gut, sehr gut, perfekt, alles im griff etc. haben.

    kenn ich, kenn ich…….

    doch wir haben leider nicht immer alles unter kontrolle.

    nutze die tage um zu ruhen – nach innen zu lauschen – und vor allem gut zu dir selber zu sein. sich über sich selbst aufregen bringt gar nix. außer zoff im eigenen hirn. :-)

    vielleicht ist es zeit für eine komplette neubesinnung.

    und höre nicht auf das, was alle anderen sagen – was sagt dein bauch, was dein herz!

    gute besserung, kopf hoch, ohr nach innen auf!

    herzlichst
    tilly

    • Wahre Worte. Ich bin aus der Selbstgeißelungsphase auch wieder raus. Das bringt nichts. Ein bißchen Aufmerksamkeit entwickeln für die Anfänge und dann gegensteuern wäre besser. Darin versuche ich mich jetzt mal.

  2. Pingback: Results for week beginning 2015-09-07 | Iron Blogger Berlin

  3. Da haben Sie noch ein Glück gehabt!
    Hörsturz wird auch als Ohrinfarkt bezeichnet.
    Aber das wissen Sie eh schon.

    • Ja. Was mich immer wieder erschüttert – dass ich solche Sachen gar nicht richtig merke. Wir sind in vielen Sachen konditioniert darauf, es nicht so ernst zu nehmen und weiterzumachen. „Reiß dich zusammen“ als Tagesmotto.
      Wir haben weder Pest noch Cholera, sondern Herzkasper und Schlaganfälle und wenn wir qualitätvoll langlebiger sei wollen als unsere Vorfahren, dann reicht auch ein halbtaubes rechtes Ohr als Legitimation für eine Vollbremsung.

  4. Hallo Kitty,
    ich habe nach genau diesen wiederkehrenden, langjährigen Symptomen endlich, endlich gelernt, diese nicht als Gefahr (mit den daraus resultierenden, als lebensbedrohlich erscheinenden Panikattacken) zu erleben, sondern diese als sehr praktische „rote Warnlampe“ („Achja richtig – nun war es wohl doch wieder zu viel!!“) zu erkennen.
    Das zu Lernen ging jedoch nur mit professioneller, auch wieder langjähriger (über 2 Jahre!) Hilfe.

    Unser Körper ist etwas sehr Großartiges und tatsächlich in der Lage, noch VOR dem tatsächlichen GAU Signale zu senden (endlose Müdigkeit, Tinnitus, Herzrasen, Schwindel, Hörsturz…)
    Das Problem ist leider, dass wir diese Signale im rotierenden Alltag nicht erkennen (wollen/dürfen) und diese mit Faulheit, Trägheit, „Zudickundzuschlapp“ und Ähnlichem verwechseln (wollen) und dann auch noch oft nicht den Mut aufbringen (dürfen), sie, wenn dann doch erkannt, nach außen hin als solche zu kommunizieren.
    Dabei wäre einfach nur mal Innehalten die beste Medizin. Für jeden.

    Außerdem: Auch positiver Stress, ja, auch der, der Spaß macht, (man denke nur an private Event-Termine, Ehrenamtliches oder Urlaube mit Termindruck usw.), wird vom Körper als Stress empfunden. Dem ist das völlig schnuppe, ob positiv oder negativ – die ausgeschütteten, krankmachenden Hormone sind dieselben.

    Da hilft nur Reißleine!! Raus aus allem, was müde, erschöpft und letztlich krank macht.
    Außerdem: wem musst Du etwas beweisen? Das ist doch der Vorteil mit über 50, dass man dass nicht mehr muss :-).

    Ich denke inzwischen, nicht das Olivenöl hält die Italiener gesund – sondern die Siesta.

    Also:
    Achte auf Dich.
    Sei gut zu Dir.
    Erst wenn Du wirklich tief im Inneren spürst, dass es Dir gut geht, kannst Du neu entscheiden, wie es weitergeht und hast wieder Kraft für Andere.
    Solange: Pause.

    Ehrlicher und wirklich gut gemeinter Rat! Aus eigener Erfahrung.

    Alles Gute!

    • Danke, ich weiß das sehr zu schätzen!
      Das Problem ist natürlich, die Signale und das, was damit verbunden ist, auch an die Umwelt zu kommunizieren. „Schwindelanfälle? Hab ich auch.“ „Weißt du, ich fühle mich abends auch manchmal erschöpft und leer!“
      Ich könnte diese Leute schütteln um ihnen klar zu machen, das ihre Befindlichkeiten nichts mit dem zu tun haben, was mir passiert ist. Wenn einem einmal das Leben komplett aus der Hand gerutscht ist und man froh ist, es zurück zu haben, dann sind diese Signale keine Wehwehchen.

  5. Jo. Ohne große Erklärungen: Ich kenne jemanden sehr, sehr gut, der sich in denselben Gefilden bewegt wie Sie, und das auch schon ziemlich lange. Für Außenstehende schaut das mitunter wie ein Luxusproblem aus, aber wünschen möchte ich diesen Zustand meinen ärgsten Feinden nicht. Mit drängt sich immer der Vergleich auf mit jemandem, der bergab ins Laufen kommt, nicht mehr anhalten kann und dann übelst auf die Schnauze fällt.

    • Danke, ich finde das eine sehr wichtige Beobachtung. Genauso fühlt es sich nämlich an.

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