Professionalität, die

Vor reichlich 20 Jahren, im zweiten Jahr meiner Selbständigkeit, hatte ich ein unangenehmes Erlebnis. Ich hatte gerade ein Produkt auf den Markt gebracht, mit dem ich die nächsten 12 Monate meinen Lebensunterhalt verdienen wollte.
Mein Konto war mehr als leer, weil die Kosten etwas höher waren als kalkuliert, ich hatte dafür zwei Monate Tag und Nacht gearbeitet und nun hatte ich mein Baby und fühlte mich leer und fertig.
Das Telefon klingelte und ein Mensch aus meiner weiteren Korona war dran. Nach einen kurzen Intro – ich erwartete ein paar unterstützende Komplimente – legte er los: Mein Produkt wäre schlecht, er wäre total enttäuscht und hätte was besseres erwartet… dann hörte ich nicht mehr zu. Ich war viel zu dünnhäutig und fertig, das zu ertragen.
Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, heulte ich erst mal.
Ich habe lange gebraucht, um das einzuordnen: Wenn du dich rauswagst, hast du Gegenwind. Immer. Wenn sich einer über dich kritisch äußert, kann er das gern tun. Du weißt, was du geschaffen hast. Zeitgleich kannst du die Kritik auf stichhaltige Argumente scannen. Nicht zuletzt – der andere hat scheinbar ein Problem, du nicht. Dein Produkt ist gemeint, nicht du. Was ist also dein Problem?

An diesem Montagmorgen im Januar klappte ich Twitter auf und wurde Zeugin folgender Szene.

Frau A: Hm, statt des beknackten Produktes X wäre vielleicht eine Zusammenstellung von Dingen, die man nicht braucht, besser.

Frau B: Ja, aber diese Zusammenstellung kannst du bei Frau C, die ein Produkt wie Produkt X vertreibt, auch schon kaufen.

Auftritt Herr D. Herr D. ist der Mann von Frau C. und ihr Co-Produktvertreiber (edit: wie er selbst sagt, ist er Geschäftsführer der Firma).

Herr D: ALARM!!!! HASS! HETZER!  Und ausgerechnet von Frau B., die ($Vorwurf eines Verhaltens, das Herr D. und seine Umgebung als unmoralisch empfindet)!!111

[edit: der Tweet mit dem Wording Hass und Hetze ist mittlerweile verschwunden.]

Da kann man natürlich die Schultern zucken und sich fragen, ob der Herr D. mit dem falschen Bein aufgestanden ist oder warum er sonst so rumeskaliert.

An Frau B. blieb der Vorwurf hängen, sie sei wegen des Satzes „Auch dieses Produkt kannst du schon kaufen“ eine Hetzerin, würde Hass verbreiten, sich darüber hinaus unmoralisch verhalten und hätte daher kein Recht, sich über Produkt X oder das „Welche Produkte man nicht braucht“-Produkt zu äußern.

Frau C. schloß einen Tag „wegen Haß“.

Was tut man damit?

Zurückhauen?

Das lässt die Wellen in der Regel noch höher schlagen.

Ignorieren?

Als mir Frau Erzählmirnix unjüngst in elegantem Nonmention-Stil zwei Comics an einem Tag widmete, ignorierte ich das. Das funktionierte gut und einen Tag später trieb man ohnehin die nächste Sau durchs Dorf. Meinen Blogpost, um den es ging, konnte ich derweil schon bei der VG Wort einreichen, so viel Aufmerksamkeit hatte er bekommen.

Aber im gerade geschilderten Fall steht immer noch die Botschaft der gezielten verbalen Aggression im Raum: Frau B. sei eine Hetzerin und täte Unmoralisches. Muss sie das auf sich sitzen lassen?
Finde ich nicht. Denn das würde Herrn D. von der Wirksamkeit seiner Eskalationen genauso überzeugen, wie zu viel Aufmerksamkeit.

Konfrontieren?

Das scheint mir das Beste. Der Satz „Ist Ihnen eigentlich bewusst, was Sie da gerade gesagt haben?“ wirkt unter zivilisierten Menschen Wunder. Zur Not muss man ihn mehrere Male wiederholen, bis er ankommt.

Nachsatz:

Wer ein Crowdfunding macht, das beim genauen Lesen der Projektbeschreibung ein Crowdinvestment ist – also im Vorhinein Geld für ein zu erstellendes Produkt einsammelt, möchte – ja was? Geld verdienen? Das ist legitim. Vielleicht nicht viel, aber schon so viel, dass der kalkulierte Aufwand monetarisiert wird. Was noch? Liebe, Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung? Das Vertrauen von Menschen? Die Welt besser machen?
Ich finde, etwas gutes Benehmen (vulgo Achtsamkeit) und Standing gegenüber Kritikern gehören unbedingt dazu.

11 Gedanken zu „Professionalität, die

  1. Ohne den Konflikt weiter zu kennen, mir scheint die zunehmende Emotionalisierung von Produkten als sehr schwierig. Es geht ja schon längst nicht mehr um eine Ware, sondern das Produkt selbst ist Ausdruck eigener Erlösungsphanatasien und da ist Kritik natürlich ein Instrument zersetzender Zerstörung und wer die Moral hat, so die Vorstellung, auch den Gewinn. Man kann gar nicht genug Brecht empfehlen.

    • Danke! Sie treffen es, wie so oft in letzter Zeit. Die Emotionalisierung der Produkte und diese ganz persönliche Verkaufe haben zur Nebenwirkung, dass Kritik den Verkäufer persönlich trifft.

  2. Ich habe hier am Rande nicht erstmals, aber erstmals nach langer Zeit wieder einen hässlichen persönlichen Angriff auf zwei mir flüchtig bekannte und sympathische Bloggerinnen mitbekommen und bin einfach nur noch angewidert, wer da auf der anderen Seite dem Angreiferpärchen in hündischer Ergebenheit applaudiert. Vor sich hin eskalierende D’s werden so lange alles zustrullern, bis der ganze, schöne, weiße Schnee gelb geworden ist – aber hilft da wirklich gegenanstrullern?

    Vielleicht lebe ich sehr behütet unter meiner Glasglocke, aber das ist nicht das Internet, das ich kenne und liebe und es ermüdet mich zusehends. Ich wünschte, wir würden zurückkehren zu Achtung und Respekt vor dem Gegenüber, aber je älter ich werde, desto mehr schwant mir: Das hat’s im Netz so nie wirklich gegeben. Haters gonna hate.

    (Zurück an den Zeichentisch, Valentinsbären malen.)

    • Ich habe gestern auch noch mal mit meiner Tochter darüber geredet und lange darüber nachgedacht, ob es sinnvoll war, sich daran s festzubeißen und nicht lockerzulassen, daß solches Verhalten nicht tolerabel ist.
      Dieser doppelte Rittberger, jemanden verbal in die Fresse zu hauen und gleichzeitig laut Hilfe! Hass! zu schreien, um sich dann in der Opferposition Streicheleinheiten abzuholen, widert mich ungeheuer an. Vor allem, weil das in einem bestimmten Teil der Netzblase mittlerweile eine Reflexreaktion zu sein scheint.
      Dazu kommt die Überhöhung einer geschäftlichen Tätigkeit, Frau Read On bemerkte das gestern ganz richtig. Da der Verkauf eines Produktes mit jeder Menge moralischer Erlösungsphilosophie bemäntelt ist, ist jeder milde Spott und jede Kritik gleich ein Angriff auf das Weltbild. Davon hatte ich einfach in der DDR zu viel, das brauche ich jetzt nicht mehr.
      Nennen wir es doch wie es ist, das sind Kleinunternehmer mit einer bestimmten Art von Verkaufe, genau wie ich und andere von uns. Von denen erwarte ich, dass sie im Zusammenhang mit Ihrem Produkt zu Kunden und potentiellen Kunden, aber auch zu denen, die ihr Produkt nicht wollen oder brauchen, freundlich sind.

    • Ich hatte übrigens vor ein paar Monaten kurze Zeit überlegt, ob ich dem Kind, das ja bald Mutter wird, die Erstlingsbox schenke. Sie kam mir dann aber zuvor und hatte sie schon geordert. Kacke niemanden einfach so im Netz an, es könnte um drei Ecken dein Kunde sein.
      Ich glaube die idyllischen Zeiten im Netz waren kurz. Aber die sind uns im Gedächtnis.

  3. Ja, dieser doppelte Rittberger ist ultrawiderwärtig; die DDR-Erfahrung ist mir zwar glücklicherweise erspart geblieben, aber Gesinnungstotalitarismus vom vermeintlich moralisch hohen Ross kenne ich auch aus anderer Ecke. Und wie man gut an dem Kommentar unter dem Artikel zum Thema im Blog von Frau A. sieht, macht man sich sehr schnell sehr lächerlich, wenn man so laut und ungeschickt mit der großen Wichtig-Fahne wedelt.

  4. Das faszinierende an dieser Geschichte ist für mich ja, dass Herr D Frau B verbal so attackiert, obwohl sie relativ neutral, finde ich, einen Sachverhalt schildert und gegenüber Frau A, die sich ja negativ geäußert hat, im Vergleich, zurückhaltend bleibt.
    Einen Tweet von Herrn D in dem er Frau B Hetzte vorwirft gibt übrigens noch. Ich hab vorhin nochmal nachgeschaut.
    Viele Grüße
    Polly

  5. Ich kenne keine der beteiligten Personen persönlich, lese die Blogs von A und B aber schon ewig und regelmäßig, die von C und D sporadisch. Die Reaktion, die ich nur zufällig mitbekam, weil ich gestern nach Wochen mal wieder bei Twitter reinschaute (und sowohl Frau A als auch Frau B Teil meiner Timeline sind) fand ich sehr, sehr befremdlich. Außerdem fand ich so gar nichts, was diese heftige Reaktion für mich begründete – vielleicht habe ich nicht alles gelesen, aber was ich normalerweise von A und B lese, rechtfertigt solche Reaktionen eigentlich nie.

    Ja, ich verstehe, dass man sich angegriffen fühlt, wenn man selbst viel Herzblut in ein Projekt / Produkt investiert und jemand dieses dann doof findet (und das auch sagt oder schreibt), aber ein verbaler Rundumschlag hilft mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht … und zerstört unter Umständen viel mehr als die ursprüngliche Kritik. Ich gehöre nicht zur Zielgruppe des Produktes, habe aber bisher durchaus gelegentlich Artikel von C und D gelesen … künftig werde ich dabei dann diese (meiner Meinung nach) völlig überzogene Reaktion vor Augen haben und damit auch alles andere anders bewerten. Ich habe in dieser Hinsicht (leider) ein elefantöses Gedächtnis und weiß jetzt schon, dass es mir schwer fallen wird, da eines Tages wieder unbefangen ranzugehen.

  6. Mir fiel noch ein, aber vielleicht ist es nebensächlich, dass sich die Produktion/ Verpackung dieser Dinge nicht mehr in Büros oder gar Fabriken abspielt, sondern bei den Verkäufern zu Hause und ich kann mir vorstellen,dass die Identifizierung eben noch stärker ist,weil es die eigene Umgebung ist und die Distanz in jeder Hinsicht fehlt.
    Ich habe mich vor Achtsamkeit schon länger und aus anderen Gründen fürchten gelernt, denn es heißt meistens: Achtung hier geht es um mich und meine Bedürfnisse, auf die du acht zu geben hast. Im Internet ist das so effektiv, wie früher in der Schule mit einem Bleistift, die Tischplatte in meine und deine Hälfte zu unterteilen. So lange die Person das Produkt ist, glaube ich wird es in sich ewig drehenden Kreidekreisen so weitergehen.

  7. Komisch, wie unterschiedlich man solche Aufreger-Sachverhalte einordnen kann, ich habe da oft für beide Seiten Verständnis, auch in diesem Fall, beispielhaft für viele andere.
    Die geschilderten Akteure werden zwar nur manchmal in meine Timeline hineingespült, dennoch sehe ich den Kontext dazu: Erstens wissen alle Beteiligten, dass „Blogprodukte“ eng mit den Internetpersönlichkeiten verwoben sind, die sie vermarkten. Zweitens geht es ja eben auch um verschiedene Lebensmodelle oder Weltbilder, und ein gewisses lästerndes Grundrauschen mit überheblichen Bemerkungen über jeweils Andersdenkende ist immer im Raum. Eine sachliche Kritik an einem Produkt des belächelten Weltbildes ist vor dem Hintergrund schon nicht einfach. Wenn dann noch die Wortwahl beleidigend ist und jemand durch eine Weiterdrehung ein direkten Angriff daraus macht – dann wird das je nach Standpunkt eben nicht mehr als milder Spott, sondern als Ausdruck einer tiefen Abneigung (neu:Hass) verstanden. Ich kann beide Seiten und auch die emotionale (aber natürlich unprofessionelle) Gegenreaktion verstehen. Ein „blöd gelaufen, tut mir leid“ für alle Beteiligten wäre am besten, aber meist sind ja schon die Fangemeinden der Fraktionen auf den Zug gesprungen und er ist schwer aufzuhalten.

Kommentare sind geschlossen.