Losfahren

Wir fuhren am Samstag in Polnische hinein, in eine ganz langsame winterliche Abenddämmerung. Kurz nach Forst mussten wir lernen, daß die Autobahn von Polen nach Deutschland sehr komfortabel ist, wir aber nie auf die Idee gekommen waren, uns beim Nachhause fahren die Gegenrichtung anzusehen – benutzt hatten wir sie noch nicht, wir waren bisher immer auf anderen Wegen gekommen – ein DDR-Autobahn-deja vu vom Feinsten. Rumpel-rumpel-rumpel, so lange, bis man freiwillig auf die linke Spur wechselt, um nicht die Stoßdämpfer um die Ohren zu kriegen. Wir verließen die Autobahn dann doch lieber.
Die Straße, auf der wir dann fuhren, ging durch eine sehr eigene Landschaft. Seit 1945 schien dort die Zeit stehengeblieben, wenn nicht immer mal ausgewählte Häuser einen neuen Gruselgrün-Anstrich bekommen hätten. Die Gegend um Węgliniec (Kohlfurt) ist eine trostlose, sumpfige Heide, auf der verstreut Bauernhäuser und Waldstücke stehen. Früher bezog die Görlitzer Industrie von dort Holz und Braunkohle und die Stadt wuchs um einen Eisenbahnknotenpunkt. Heute will man da mit Sicherheit nicht tot überm Zaun hängen.
Wir hangelten uns über Nord-Süd-Verbindungsstraßen in Richtung Gebirge, weil die Schnellstraße bis ganz nach Hirschberg ein Umweg gewesen wäre. Wie immer waren wir hoch erstaunt darüber, wie nah das Riesengebirge an Berlin ist. Der Graf fragte mich entspannt: „Was machen wir denn heute Abend?“ und ich begann zu überlegen. Schwimmen gehen, einfach schlafen, fernsehen?
Riesengebirge
Es wurde gerade dunkel, da suchten wir eine Kreuzung, die laut Karte gleich kommen musste. Aber wie das so ist, manchmal muss man auch auf Schnellstraßen absurderweise nach links abbiegen, um nach rechts zu kommen. Die Ausfahrt hatten wir wohl verpasst. Der Graf sagte: „Ich nehm dann die hier!“ und bog rechts auf einen kleinen Weg ab und ich meinte nur: „Och ja, klar!“, war doch die zu erreichende Straße keine 400 m entfernt.
Wir fuhren einen kleinen Asphaltweg entlang, der nach einer Kreuzung zu einem Feldweg wurde, nur noch über den kleinen Hügel und dann wären wir auf der verpassten Straße. Nach einer Kurve bestand der Feldweg  nur noch aus Schlammlöchern. „Oh!“ sagte ich und dachte nur „Ach du Scheiße!“. Der Graf sagte gar nichts mehr, sondern schusselte uns durch den Schlamm. Der Weg erinnerte mich an meinen Geheimtipppfad auf Rügen zu einer der schönste und geheimsten Stellen, wo es mit einer scheren Limousine meist hieß: beten, dass man nicht stecken bleibt.
Und dann waren vor uns beide Fahrspuren zu einer Pfütze von vier, fünf Meter Länge und kaum zu schätzender Tiefe vereint. Da mittendrin stecken zu bleiben, wäre sehr ungut. Wir hielten an. Nun war das dran, was wir eigentlich vermeiden wollten, nämlich den ganzen engen, mittlerweile dunklen Weg wieder rückwärts zu fahren. Ich schlug vor, zu wenden und prüfte den Schlammgehalt des Ackers neben uns. Eine 270 Grad-Runde schaffte der Graf, dann saß das Auto auf dem Acker fest, die Räder drehten auf einer feuchten Stelle durch.
Ich erinnerte mich, wie ich mein Auto mal auf einem brandenburgischen Waldweg flottbekommen hatte, in dem ich Kiefernäste unter die Reifen schob. Wir hatten zwei alte Decken im Kofferraum, das müsste doch klappen. Einen Meter weiter kam das Auto, dann musste ich die Decken neu ansetzen. Aber irgendwie gings nicht mehr, die Decken waren zu glitschig geworden. (Sie können sich sicher vorstellen, wie meine Hände und meine Stiefel an dieser Stelle bereits aussahen. Auch der Graf stampfte mit den guten Schuhen im Schlamm herum.) Der Graf versuchte zu schieben, ich gab Gas, es machte keinen Sinn, wir saßen rechts hinten zu tief drin.
Ok., nächstes Kapitel. Was ich auf Rügen mit viel Glück immer vermeiden konnte, war jetzt fällig, einen Bauern mit einem Traktor oder Jeep zu finden. Da eine nette Frau mit blondem Zopf immer hilfebedürftiger wirkt als ein schlammbespritzter fremder Mann, machte ich mich auf den Weg zum nächsten Gehöft, in dem Licht brannte und ein Jeep vor der Tür stand. Ich klopfte an einer Tür, hinter der ein Fernseher flackerte. Nach endlosem Fluchen und Zetern hinter der Tür öffnete ein zahnloser Großvater, der einen Meter gegen den Wind nach Schnaps roch. Mist, mit dem Alkoholpegel konnte der Mann nicht mehr hinters Steuer.
Nun kam erst Mal das schöne Kapitel Gastfreundschaft: Frau! Hinsetzen! Was trinken! (ein nach chemischen Ginger-Ale mit Schnaps schmeckendes Supermarkt-Gebräu, aber in meinem Worst-Case-Szenario hätte ich Schnaps trinken müssen) Erzählen! Erst ich, dann du! Wir einigten uns auf bruchstückhaftes Russisch. (Ich weiß jetzt, dass der alte Mann nur dreizehn Jahre älter ist als ich, seine Tochter in Freiburg wohnt, er seine Enkelin viel zu selten sieht und seine Frau ihn verlassen hat und ich die schönste junge Frau bin, die ihm auf die alten Tage begegnet wäre.) Dann schaute mal ein knapp Volljähriger in den Raum hinein und wurde wieder weggeschickt, mit Sätzen, die ich kaum verstand.
Dann kramte ich mein Russisch zusammen und nahm ein paar Gegenstände auf dem Tisch zu Hilfe, um zu vermitteln, dass das Auto dringend rausgeschleppt werden müsste. Das war aber nicht so im Interesse des alten Mannes, der hatte ja nun endlich Gesellschaft.
Ich stand auf, blitzte mit dem Ehering und sagte ratlos, mit Kulleraugen: „Aber mein Mann wartet auf mich!“ So ein Satz wirkt immer. Er zog sich eine Jacke an, führte mich um das Haus, zu einem Eingang, den ich bisher übersehen hatte. Scheinbar war ich in der Altsitzerwohnung gelandet, denn nun stellte er mich einem kompakten Paar in den Vierzigern vor (Mein Sohn!), die Frau verstand etwas englisch und instruierte ihren Mann, den Abschleppgurt zu holen und den Jeep flott zu machen.
Alles andere war eine Sache von fünf Minuten. Das Auto vom Acker runterziehen, den Vierradantrieb anstellen, uns wieder eine Runde über den Acker drehen, zur kleinen Asphaltstraße zurückschleppen, Instruktionen geben, wo die gesuchte Straße ist und großen Dank und Lohn in Empfang nehmen.
Danach haben wir nicht mehr überlegt, was wir am Abend machen.

12 Gedanken zu „Losfahren

    • Hm, blöd würde es wohl treffender beschreiben. Der liebe Gott hatte sich das mit dem Auto steckenbleiben lassen nur für effektvollere Momente aufgehoben, fürchte ich.

  1. Da haben sich doch die Russisch-Kenntnisse mal wieder ausgezahlt! Schön, dass Ihr das Ziel noch gut erreicht habt! Ich hötte ja jetzt getippt, Ihr habt den restlichen Abend fernsehend beim Schuheputzen mit einem Glas Sekt verbracht.
    Etwas neugierig macht mich ja der Geheimtipp-Pfad auf Rügen!?

    • Yep. Der Graf hat heldenhaft den fetten Batz von unseren Schuhen gespachtelt und gespült und ich durfte zuschauen.
      Und der Geheimtipp ist nicht ganz so geheim: Gelbes Ufer.

  2. Danke, dass ich dabei sein durfte. Und mal ehrlich, das erlebte war doch mehr wert als jeder Fernseher!

    • :) Vielleicht sollten wir doch noch mal ein Reality-Format produzieren: Der Graf und Miz Kitty – Zwei Verrückte unterwegs

  3. Ich erwarte demnächst Videos von Ihren Abenteuerreisen. Die Gesichter! Hachz, kann ich mir jetzt schon so richtig vorstellen …

    Wünsche noch beste weitere Erholung auf dem saarlandfreien Landsitz!

  4. Wenn Sie die Russischkenntnisse und deren Verwendung nicht erwähnt hätten, hätte ich schwören können Sie sind im mecklenburgischen ‚versumpft‘. Aber so … sind Sie wohl kurz vor dem Ural …. weiterhin viel Spaß/Spannung und Entspannung!

  5. Guten Tag,

    ich habe diesen Blog erst heute entdeckt.
    Ihrer Beschreibung nach, war ich auf dem selben Weg auch schon mal ins Riesengebirge unterwegs. Die Straßen scheinen sich seit damals nicht groß verändert zu haben. Bei einer ganz anderen Gelegenheit bin ich allerdings mal die Schnellstraßen gefahren und hab mich geärgert, dass wir damals aus den selben Überlgungen herraus die Nebenstraßen gewählt haben. Denn nur due Anschlusspunkte zwischen den Ländern ausbaufähig aber danach geht es wirklich entspannt weiter. Aber so haben Sie, wie auch wir damals, ein Abendteuer erlebt.

    • Danke! Viel Spaß beim Lesen!
      Wir fahren so oft es geht die Nebenstraßen. Das Land verändert sich innerhalb eines halben Jahres, die Entwicklung ist wirklich rasant.

  6. Pingback: Results for week beginning 2014-02-03 | Iron Blogger Berlin

Kommentare sind geschlossen.