Lethe saufen

Irgendwann in einer Sommernacht 1998. La Primavera – damals noch in Berlin wohnend – ruft mich an. Kannst du helfen? Bei mir im Bett liegt eine Freundin mit einem Nervenzusammenbruch. Ihr geht gerade die Firma kaputt. Dann am anderen Ende der Leitung eine Frau in apokalyptischer Stimmung: Es ist alles vorbei. Ich kann keine Rechnungen mehr zahlen, die nächste Miete ist fällig, hohe, hoffnungslose Außenstände und die Bank grinst nur noch dreckig.
Ich weiß nicht, wie ich damals dazu gekommen bin, mit meinen zweieinhalb Jahren Geschäftspraxis. Ich habe ihr eine Checkliste diktiert, die sie am nächsten Morgen abarbeiten sollte: Die Karten bei den Gläubigern aufdecken, den Vermieter vertrösten, mit der Bank reden. Der Grundtenor war: alles halb so schlimm, das passiert jedem mal, im Grunde ist es eine wichtige Erfahrung.
Ich fühlte mich wie ein Fährmann, der mitten in der Nacht den Kahn über den reißenden Strom setzt. Zwei Gestalten im Boot, eine kraftlos liegend, die andere neben ihr sitzend. Auf der anderen Seite habe ich sie aussteigen lassen und sie gingen ihrer Wege, in ein neues Land. Und das Boot und der Fluß verschwanden wieder hinter mir, über Jahre.
Gestern. Ich stehe vor einer wichtigen geschäftlichen Entscheidung. Niemand da, der mir Rat geben kann. HeMan möchte ich im Grunde nicht bemühen, es ist Endzeit zwischen uns. Er kommt doch, hat gemerkt, daß ich ihn brauche. Das kann er mir geben. Anderes nicht. Die Zeit der Geschenke für die Seele ist vorbei. Der emotionale Reichtum wieder sorgfältig weggeräumt in seinem Schöner-Wohnen-Paradies, das keinen Platz für mich hat. Ich stehe da mit meinem kleinen Marktstand und die Früchte meiner Liebe, die ich ihm anbiete, verwelken und verfallen.
LaPrimavera sammelt mich auf in meiner Verlorenheit. Einmal im Jahr ist sie in Berlin. Ausgerechnet heute. Und spät am Abend treffen wir die Frau von damals. Mittlerweile ist sie in einem gänzlich anderen Leben. Hat noch drei Kinder bekommen von einem Mann, der nicht wunderbar und überirdisch sondern ganz normal da ist. Eines der Kinder ist behindert. Sie hat ihre Firma vergrößert. Sie hat eine umwerfende Energie. Herzenswärme und Lebensklugheit verbinden sich mit Kraft.
Sie erinnert sich sofort, wer ich bin. In dieser Nacht ist sie mein Fährmann. Setzt mich über den Fluß, der mir unüberwindlich schien. Jetzt stehe ich in einem neuen Land. Welchen Weg werde ich gehen? Wer werden meine Gefährten sein? Werde ich mich zurücksehnen?

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